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Vierzehntes Capitel

Es vergingen zwei Wochen in der gewohnten Ordnung. Ssipjagin bestimmte die Zeit der Unterrichtsstunden – wenn auch nicht wie ein Minister, so doch gewiß wie ein Kanzleidirektor – und behielt seine frühere würdige, humane, etwas vornehme Haltung bei. Kolja lernte, Anna Sacharowna drohte jeden Augenblick vor Aerger zu bersten; Gäste kamen und gingen, sprachen und spielten, und schienen sich nicht im Geringsten zu langweilen. Valentine Michailowna kokettirte mit Neshdanow; die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit, mit der sie ihm stets entgegenkam, war aber nicht frei von einer gewissen gutmüthigen Ironie. Marianne und Neshdanow waren jetzt zwei vertraute Freunde – und Neshdanow bemerkte staunend, daß man mit ihr über Alles sprechen konnte, ohne auf zu scharfe Widersprüche in ihrem Charakter zu stoßen. Er war zwei Mal mit Marianne in der Volksschule gewesen, und hatte sich beim ersten Mal überzeugt, daß er da nichts ausrichten könne. Mit der Erlaubniß Ssipjagin’s und seinem Willen gemäß war der Diakon unumschränkter Herr der Volksschule. Er unterrichtete nicht schlecht, aber nach einer veralteten Methode; beim Examen jedoch pflegte er den Kindern ganz sonderbare Fragen zu stellen. So sollte ihm z. B. Garassja ein Mal erklären, was der Ausdruck »dunkel ist das Wasser im Himmel« bedeute, worauf er, der Weisung des Diakons gemäß, antworten mußte: »das ist unerklärlich.« Uebrigens wurde die Schule wegen der Sommerferien bald geschlossen. – Der Worte Paklin’s und Anderer eingedenk, versuchte Neshdanow mit den Bauern Verbindungen anzuknüpfen; er sah aber bald ein, daß sie ihm wohl zum Studium für seine Beobachtungsgabe dienen konnten, er aus Propaganda für seine Ideen bei ihnen jedoch nicht rechnen dürfe. Er war ein Städter, und zwischen ihm und dem Volke lag ein Abgrund, über den er nicht hinüber konnte. Neshdanow hatte einige Worte mit dem Trunkenbold Cyrill und sogar mit Mendelei gewechselt, aber seltsamer Weise in einem Tone, als ob er sich vor ihnen fürchte, und hatte von ihnen nichts weiter vernommen, als kurze, allgemein gehaltene Schimpfreden. Ein anderer Bauer, Namens Fitjuew, brachte ihn vollends aus der Fassung. Er war ein Kerl mit einem energischen, fast räuberähnlichen Gesicht . . . »Nun, auf Den kann man bauen!« – dachte Neshdanow. Es ergab sich aber, daß er ein Bauer ohne Land und Hof war: die Gemeinde hatte ihm sein Stück Land abgenommen, weil er – ein gesunder und kräftiger Mensch – nicht arbeiten konnte. – »Ich kann nicht!« schluchzte Fitjuew und rief mit einem aus tiefster Seele kommenden Seufzer: – »ich kann nicht arbeiten! schlagt mich todt! – Oder ich lege selbst Hand an mich!« – und streckte bettelnd seine Hand aus: einen Groschen für Brod! . . . Und das mit dem Gesicht eines Rinaldo Rinaldini! . . . Mit den Fabrikarbeitern wußte Neshdanow erst recht nichts anzufangen; sie waren Alle entweder ungeheuer ungenirt oder entsetzlich apathisch . . . und so kam nichts zu Stande. Er richtete in Folge dessen einen langen Brief all seinen Freund Ssilin und schrieb ihm unter bitteren Klagen, daß schlechte Erziehung und seine garstige ästhetische Natur an seinem Ungeschick die Schuld trügen! Es fiel ihm plötzlich ein, daß es sein Beruf sei, nicht durch das lebendige, mündliche, sondern durch das schriftliche Wort für die allgemeine Sache zu wirken, aber die angefangenen Broschüren blieben unbeendigt. Alles, was er niederschrieb, schien ihm selbst sowohl im Ton als in der Sprache so gekünstelt, so gezwungen, so falsch, daß er unwillkürlich ein paar Mal – o Schrecken! – zu gebundener Rede seine Zuflucht nahm oder seinem individuellen Skeptizismus freien Lauf ließ.; Er entschloß sich sogar – ein bedeutungsvolles Zeichen von Annäherung und Vertrauen – mit Mariannen über das Mißlingen seiner Bemühungen zu sprechen und fand wieder zu seiner nicht geringen Verwunderung bei ihr lebhafte Sympathie – selbstverständlich nicht für seine belletristischen Versuche, sondern für sein moralisches Uebel, welches auch ihr nicht fremd war. Marianne war nicht weniger als er selbst gegen diese Aesthetik eingenommen; – und doch war es ihr gerade deshalb unmöglich, Markelow zu lieben und ihn zu heirathen, weil in ihm keine Spur mehr von dieser Aesthetik vorhanden war! Marianne wollte es natürlich nicht eingestehen, nicht einmal sich selbst; gerade das, was als ein nur dunkel geahntes Geheimniß in uns lebt, übt oft eine so unwiderstehliche Macht auf uns aus.

So verging ein Tag nach dem andern – langsam und ungleich, aber ohne eigentlich langweilig zu sein.

Etwas Seltsames ging in Neshdanow’s Innern vor. Er war unzufrieden mit sich selbst, mit seinem Thun – d. h. mit seiner Thatlosigkeit, seine Rede floß über von der bitteren Galle der Selbstanklage; tief im Herzen aber ging es beinahe gut; Ruhe war in dasselbe eingezogen. Ob nun in Folge der ländlichen Einsamkeit, der Bewegung in freier Luft, des Sommers, der kräftigen Nahrung, des geordneten Lebens, – oder vielleicht, weil er zum ersten Mal die Süßigkeit der innigen Annäherung an ein Frauenherz empfunden – eigentlich fühlte er sich leicht und frei, wenngleich er in den Briefen an Ssilin nicht aufhörte, sich selbst anzuklagen.

Eines Tages jedoch wurde Neshdanow plötzlich gewaltsam aus dieser Stimmung herausgerissen.

Am Morgen hatte er einen Brief von Wassily Nikolajewitsch erhalten, in welchem ihm angekündigt wurde, daß er – in Erwartung weiterer Instruktionen – zusammen mit Markelow unverzüglich den schon genannten Ssolomin und einen altgläubigen Kaufmann, Namens Goluschkin, der sich in S. aufhalte, aufsuchen und sich mit ihnen besprechen müsse. Dieser Brief versetzte Neshdanow in nicht geringe Aufregung; er erblickte darin einen gegen ihn gerichteten Vorwurf der Thatlosigkeit. Die Bitterkeit, die in der letzten Zeit eine rein äußerliche war, erfüllte ihn von Neuem.

Zum Diner erschien Kallomeyzew verstimmt und aufgeregt.

– Denken Sie sich, – rief er mit fast weinerlicher Stimme, – was ich eben in der Zeitung gelesen habe: elende Schurken haben in Belgrad meinen Freund getödtet, meinen lieben Michael, den Fürsten von Serbien! lind was wird noch Alles geschehen, wenn man dem Treiben dieser Jakobiner nicht endlich ein Ziel setzt! – Ssipjagin »erlaubte sich zu bemerken,« daß dieser abscheuliche Mord wohl nicht von Jakobinern vollführt worden sei, da solche in Serbien nicht vorhanden, wohl aber von Leuten der Partei Karageorgiewitsch, den Feinden der Obrenowitsch . . . Kallomeyzew wollte aber nichts davon hören und fuhr fort, mit derselben weinerlichen Stimme zu erzählen, wie ihn der verstorbene Fürst geliebt und was für eine schöne Flinte er ihm geschenkt! . . . Allmählich in Feuer gerathend, ging Kallomeyzew von den ausländischen Jakobinern zu den einheimischen Nihilisten und Sozialisten über, und erging sich in einer donnernden Philippika gegen die selben. Ein großes Stück Weißbrod nach moderner Art mit beiden Händen umfassend, zerbröckelte er es über dem Teller, wie es die Habitués des Pariser Café Riche zu thun pflegen, und äußerte den Wunsch, Alle, welche irgend einem Befehl, welcher Art er auch sei, widerstrebten, zermalmen, zu Staub zerdrücken zu können! – »Es ist Zeit!« – rief er, den Löffel zum Munde führend; – »es ist Zeit!« – wiederholte er, das Glas erhebend, weiches der Diener mit Xeres füllte. Ehrfurchtsvoll gedachte er der großen Moskauer Publizisten – und Ladislas, notre bon et cher Ladislas kam ihm nicht von den Lippen. Dabei heftete er den stechenden Blick immer wieder auf Neshdanow, als wolle er sagen: – »Da hast Du! wie war der Schlag? Damit bist Du gemeint! Da hast Du noch!« – Neshdanow hielt es endlich nicht mehr aus – widersprach ihm und begann mit vor Erregung bebender, etwas heiserer Stimme die Hoffnungen und Ideale der Jugend zu vertheidigen. Kallomeyzew fuhr sogleich auf ihn los und rief ihm mit scharfer, schneidender Stimme – so sprach, er immer, wenn er in Zorn gerieth – einige unhöfliche Worte als Entgegnung zu. Ssipjagin ergriff in würdevoller Ruhe die Partei Neshdanow’s; Valentine Michailowna stimmte ihm gleichfalls bei; Anna Sacharowna gab sich die größte Mühe, Koljas Aufmerksamkeit von den Streitenden abzulenken und blickte unter der großen Haube grimmig um sich; Marianne saß da wie versteinert.

Durch den wohl zwanzig Mal wiederholten Namen Ladislas aus der Fassung gebracht, fuhr jetzt jedoch auch Neshdanow auf und rief mit der Hand auf den Tisch schlagend:

– Da haben Sie eine Autorität gefunden! Als ob wir nicht wüßten, was für ein Mensch dieser Ladislas ist! Ein gebotener Knecht ist er – und weiter nichts!

– A. . . a. . . al. . . also so! . . . stotterte Kallomeyzew außer sich vor Wuth – Und Sie erlauben sich, so von einem Menschen zu sprechen, den Graf Blasenkrampf und Fürst Kowrischkin zu ihren Freunden zählen.

Neshdanow zuckte die Achseln.

– Eine schöne Empfehlung: Fürst Kowrischkin, dieser Lakei, der den Enthusiasten spielt . . .

– Ladislas – mein Freund! – schrie Kallomeyzew.

Er ist mein Kollege – und ich . . .

– Desto schlimmer für Sie, – unterbrach ihn Neshdanow – Sie theilen somit seine Anschauungsweise und dann haben meine Worte auch auf Sie Bezug.

Kallomeyzew wurde todtenbleich.

– Wie? Wa . . . as? Was unterstehen Sie sich? Ich wer . . werde . . . Sie ja . . . gleich . . .

– Was werden Sie gleich mir anzuthun geruhen? – fiel Neshdanow ihm mit ironischer Höflichkeit in’s Wort.

Wer weiß, welches Ende dieser Streit der beiden Feinde genommen haben würde, wenn sich Ssipjagin nicht eingemischt hätte. Mit erhobener Stimme und würdevoller Haltung – es war schwer zu bestimmen, ob es die Würde des Staatsbeamten oder des Hausherrn war, die in dieser Haltung zum Ausdruck kam – erklärte er ruhig und fest, daß er sich dergleichen Ausschreitungen an seinem Tisch verbitte; daß er es sich schon längst zum Gesetz gemacht – er verbesserte sich: zum heiligen Gesetz – jede Ueberzeugung zu achten, jedoch unter der Bedingung, – hier erhob er den mit einem Siegelring geschmückten Zeigefinger – daß man dabei stets in den Grenzen des Wohlanstandes und der Schicklichkeit bleibe; wenn er auch einerseits Herrn Neshdanow tadeln müsse, wegen einer gewissen Maßloßigkeit des Ausdrucks, welche übrigens durch dessen Jugend entschuldigt werde, könne er andererseits ebensowenig die Erbitterung gutheißen, mit der Herr Kallomeyzew die Anhänger der feindlichen Partei angegriffen, eine Erbitterung übrigens, die ihre Erklärung finde in dem Eifer für das allgemeine Wohl.

 

– Unter meinem Dache, – schloß er, – unter dem Dach der Ssipjagin’s giebt es weder Jakobiner, noch Knechte, sondern nur rechtschaffene Menschen, die, wenn sie sich miteinander verständigt, nothwendiger Weise damit endigen, daß sie einander die Hände reichen.

Neshdanow und Kallomeyzew blieben stumm und reichten sich auch nicht die Hände: sie hatten sich miteinander also offenbar noch nicht verständigt; ja sie hatten einander im Gegentheil noch nie so gehaßt, wie in diesem Augenblick. Das Diner ging zu Ende, ohne daß Jemand das ungemüthliche Schweigen zu brechen Lust bezeigt hätte; Ssipjagin versuchte eine diplomatische Anekdote zu erzählen, kam mit derselben aber nicht zu Ende. Marianne, die unverwandten Blickes auf den vor ihr stehenden Teller sah, scheute sich zu zeigen, wie sehr ihr Neshdanow’s Entgegnungen gefallen – nicht aus Furcht, o nein! – sondern um sich Valentine Michailowna nicht zu verrathen. Sie fühlte, daß deren durchdringender Blick auf ihr ruhte. Frau Ssipjagin beobachtete sie in der That scharf, – sie und Neshdanow. Dessen plötzliche leidenschaftliche Aufwallung machte sie anfänglich staunen, dann aber ging es ihr mit einem Mal wie ein Blitz durch den Kopf, so daß ihren Lippen ein unwillkürlicher Ausruf entfuhr . . . Sie errieth, daß Neshdanow sich von ihr losgesagt, derselbe Neshdanow, der ihr noch unlängst so bereitwillig entgegen gekommen war. – Hier muß etwas geschehen sein . . . Sollte es Marianne sein? Gewiß, sie ist es . . . Er gefällt ihr . . . und auch sie . . .

»Man muß dieser Annäherung steuern« – beschloß sie, während Kallomeyzew vor Entrüstung bersten möchte. Und selbst später, als er zwei Stunden darauf Préférence spielte, und jedes Mal sagen mußte, ob er »passen« oder »kaufen« werde, zitterte in dem grimmerfüllten Ton der Stimme die Erinnerung an die Beleidigung nach, die ihm widerfahren, obgleich er sich stellte, als ob er sich nichts aus ihr mache. – Ssipjagin war mit dieser Scene im Grunde sehr zufrieden, denn er hatte ja die Möglichkeit gehabt, sein Rednertalent zu zeigen, einen heraufziehenden Sturm zu beschwören. . . Er kannte die lateinische Sprache, also auch das Quos ego des Virgil. Freilich dachte er nicht daran, sich mit Neptun zu vergleichen, aber es war ihm in diesem Augenblick besonders angenehm, der betreffenden Scene zu gedenken.

Fünfzehntes Capitel

Nach dem Mittagsessen begab sich Neshdanow, eine passende Gelegenheit benutzend, auf sein Zimmer und schloß sich ein. Er wollte Niemand sehen, Niemand – außer Marianne. Ihr Zimmer befand sich am Ende eines langen Korridors, der sich durch die ganze obere Etage zog. Neshdanow war bis jetzt nur ein Mal bei ihr gewesen – und auch dieses eine Mal nur wenige Minuten. Es schien ihm jedoch, daß sie ihm gewiß nicht zürnen werde, wenn er bei ihr anklopfte, daß er ihrem Wunsche dadurch vielleicht sogar entgegenkomme. Es war scholl ziemlich spät – ungefähr zehn Uhr; Ssipjagin hielt es nach der Scene während des Mittags nicht für nöthig, ihn weiter zu belästigen und spielte mit seiner Frau und Kallomeyzew Karten. Valentine Michailowna erkundigte sich ein paar Mal nach Marianne, die nach dem Essen gleichfalls verschwunden war. – Wo ist denn Marianne Wikentjewna? fragte sie zuerst auf Russisch, dann auf Französisch, ohne diese Frage direkt an Jemand zu richten, sondern wie Leute zu fragen pflegen, die über irgend etwas erstaunt sind; auch sie vertiefte sich übrigens bald in das Spiel.

Nachdem er in seinem Zimmer eine Zeit lang auf und ab gegangen, begab sich Neshdanow in den Korridor und klopfte ganz leise an Mariannen’s Thür. Er erhielt keine Antwort. Er klopfte noch ein Mal – versuchte die Thür zu öffnen . . . sie schien verschlossen zu sein. Kaum war er jedoch in sein Zimmer zurückgekehrt, als seine eigene Thür plötzlich aufging und Mariannen’s leise Frage an sein Ohr drang: – Alexei Dmitritsch, sind Sie bei mir gewesen?

Er sprang vom Stuhl, auf den er sich eben niedergelassen, empor, und eilte in den Korridor. Vor ihm stand Marianne, mit einem Licht in der Hand, bleich und regungslos.

– Ja, ich – flüsterte er.

– Kommen Sie, – erwiderte sie und wandte sich nach der Tiefe des Korridors; bevor sie jedoch das Ende desselben erreicht, blieb sie vor einer niedrigen Thür stehen und stieß dieselbe auf. Neshdanow blickte in ein kleines, fast leeres Zimmer. – Treten wir hier ein, Alexei Dmitritsch, hier wird uns Niemand stören. – Neshdanow gehorchte. Marianne stellte das Licht aufs Fensterbrett und wandte sich zu Neshdanow.

– Ich verstehe, weshalb Sie gerade mich sehen wollten; – begann sie. – Sie haben es schwer in diesem Hause – Und ich auch.

– Ja, ich wollte Sie sehen, Marianne Wikentjewna, antwortete Neshdanow. – Das Leben hier ist mir jedoch nicht mehr so schwer, nachdem ich Sie kennen gelernt.

Marianne lächelte nachdenklich.

– Ich danke Ihnen, Alexei Dmitritsch; sagen Sie mir aber, wollen Sie trotz des Vorgefallenen doch noch hier bleiben? – Ich denke, man wird mich gar nicht behalten wollen – ich erwarte eine Kündigung! – entgegnete Neshdanow.

– Selbst aber wollen Sie nicht zurücktreten?

– Selbst nein . . .

– Warum?

– Wollen Sie die Wahrheit wissen? Weil Sie hier sind.

Marianne neigte den Kopf und trat in die Tiefe des Zimmers zurück.

– Und dann – fuhr Neshdanow fort, – ich muß ja hier bleiben. Sie wissen noch Nichte – aber ich fühle es, daß ich Ihnen Alles sagen muß. – Er ging auf Marianne zu und ergriff ihre Hand. Marianne blickte auf und zog die Hand nicht zurück. – Hören Sie! – rief er plötzlich in heftiger Erregung. – hören Sie mich! – Und er begann, Mariannens Hand fortwährend festhaltend, mit leidenschaftlichem Feuer, mit einer ihm selbst unerwarteten Beredtsamkeit von seinen Plänen zu sprechen, von seinen Hoffnungen, von den Gründen, die ihn bewogen, die Stelle bei Ssipjagin anzunehmen, von seinen Verbindungen, seinen Bekanntschaften, seiner Vergangenheit – von Allem, was er sonst sorgsam zu verhehlen pflegte. Er gedachte der Briefe, die er erhalten, sprach über Wassili Nikolajewitsch, über Alles, sogar über Ssilin! Er sprach hastig, ohne zu stocken, ohne im Geringsten unschlüssig zu sein, als ob er sich gleichsam Vorwürfe mache, daß er Marianne nicht schon früher in sein Geheimniß gezogen, als ob er sich vor ihr entschuldige. Marianne hörte ihm aufmerksam zu, sie verschlang seine Worte, obgleich sie zuerst ganz starr vor Erstaunen war. Dieser erste Eindruck wich jedoch bald einem andern. Ihre Seele floß über von Freude, Dank, Stolz, Anhänglichkeit, Entschlossenheit. Ihr s Antlitz, ihre Augen strahlten, sie legte die freie Hand über Neshdanows Hand, öffnete voll Entzücken die Lippen . . . Sie wurde – mit einem Mal – ganz unsagbar schön!

Neshdanow hielt endlich inne, blickte ihr in die Augen – und es war ihm, als ob er dieses Antlitz zum ersten Male sähe, dieses Antlitz, welches ihm zugleich so theuer und so bekannt war.

Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust.

– Ach, wie es gut war, daß ich Ihnen Alles gesagt! – flüsterten seine Lippen.

– Ja, so gut so gut! – wiederholte sie gleichfalls flüsternd und unwillkürlich in seinen Ton verfallend. – Sie wissen also, – fuhr sie mit leiser Stimme fort, – Sie wissen, daß Sie ganz über mich verfügen können, daß auch ich Ihrer Sache dienen möchte, daß ich Alles zu thun bereit bin, was man von mir verlangen sollte, daß ich stets mit ganzer Seele dasselbe gewünscht habe, was Sie jetzt wünschen. . .

Marianne verstummte. Noch ein Wort – und es wären Thränen der Rührung ihren Augen entströmt. Ihre starke Natur hatte dem Andrang der Gefühle nicht widerstehen können, sie war weich und biegsam geworden, wie Wachs. Das Verlangen, etwas Großes zu thun, sich aufzuopfern, sich unverzüglich aufzuopfern – das war es, was jetzt ihre Seele erfüllte ganz und gar – ja bis zur Pein!

Plötzlich vernahm man rasche, vorsichtige, leichte Schritte hinter der Thür.

Marianne richtete sich auf und ließ Neshdanow’s Hände fahren. Sie schien mit einem Male eine ganz Andere geworden zu sein. Heiter blickte sie mit einem gewissermaßen verächtlichen Lächeln auf die Thür und rief mit kecker, lauter Stimme, so daß man draußen im Korridor jedes Wort vernehmen mußte:

– Ich weiß, wer in diesem Augenblick am Schlüsselloch horcht – es ist Frau Ssipjagin . . . aber das ist mir gleich.

Das Geräusch der Schritte verhallte.

– Nun? – wandte sich Marianne wieder zu Neshdanow. – Was soll ich thun? wie soll ich Ihnen helfen?. . . Sprechen Sie? Sagen Sie rasch: was soll ich thun?

– Was? Ich weiß es noch nicht . . . Ich habe einen Brief von Markelow erhalten . . .

– Wann? wann?

– Heute Abend. Ich muß morgen mit ihm zu Ssolomin auf die Fabrik fahren.

– Ja . . . ja . . . das ist auch noch ein guter Mensch – Markelow! Ein echter Freund!

– Ein solcher wie ich?

Marianne schaute ihm gerade ins Auge.

– Nein – nicht so wie Sie.

– Wie? . . .

Sie wandte sich plötzlich ab.

– Wissen Sie denn nicht, was Sie mir sind und was ich in diesem Augenblick fühle. . .

Neshdanow’s Herz begann heftig zu schlagen; er senkte den Blick unwillkürlich zu Boden. Dieses Mädchen, welches ihm ihre Liebe geschenkt – ihm, dem obdachlosen Hungerleider – welches sich ihm anvertraut, welches ihm folgen, mit ihm zugleich nach demselben Ziele streben will – dieses herrliche Mädchen – Marianne – war ihm in diesem Augenblick der Inbegriff alles Schönen und Wahren auf der Erde, – der Mutter, Schwester-, Frauenliebe, – des Vaterlandes, des Glückes, des Kampfes, der Freiheit!

Er hob den Kopf empor und sah ihre von Neuem ihm entgegenleuchtenden Augen . . . o wie tief drang dieser helle, herrliche Blick ihm in die Seele! – Ich fahre also morgen – begann er mit bebender Stimme – und wenn ich zurückkehre, sage ich Ihnen . . . es war ihm plötzlich so schwer, Marianne »Sie« zu nennen – sage ich Ihnen, was ich dort erfahren, was dort beschlossen worden. Alles, was ich jetzt thue, was ich denke – Alles sollst . . . Du zuerst erfahren.

– O mein Freund! – rief Marianne und ergriff seine Hand. – Dasselbe verspreche ich Dir!

Dieses »Dir« kam so leicht und einfach über ihre Lippen, als ob es sich von selbst verstände, als ob es ein kameradschaftliches »Du« wäre.

– Darf ich den Brief lesen?

– Da ist er, da! Marianne durchlief den Brief und hob das Auge fast ehrfurchtsvoll zu Neshdanow empor.

– So bedeutende Aufträge werden Dir ertheilt!

Er lächelte als Antwort und steckte den Brief in die Tasche.

– Seltsam! sagte er – wir haben uns gegenseitig unsere Liebe gestanden – wir lieben einander – und doch ist das Wort Liebe nicht über unsere Lippen gekommen.

– Wozu auch? – flüsterte Marianne, fiel ihm plötzlich um den Hals und drückte ihren Kopf an seine Brust . . . Gleich darauf begaben sich Beide, nachdem sie sich mit einem festen, innigen Händedruck von einander verabschiedet, – keinen Kuß hatten sie gewechselt – nein! keinen Kuß! – in ihre Zimmer.

Marianne kehrte, um das Licht, welches sie auf dem Fenster vergessen, zu holen, noch ein Mal in die leere Stube zurück – und hier erst kam sie gewissermaßen zu sich selbst. Sie löschte das Licht aus, huschte den dunklen Korridor entlang in ihr Zimmer, warf, ohne das Licht wieder anzuzünden, die Kleider ab, und legte sich im Finstern nieder. . . Diese Finsterniß war ihr gerade jetzt so süß und lieb.