Kostenlos

Neu-Land

Text
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Am folgenden Tage fing der Unterricht wieder von Neuem an und nun rollte das Leben in geregeltem Gleise dahin.



Unmerklich verging eine Woche. . . . Das Bruchstück eines Briefes an einen gewissen Ssilin, einen früheren Schulkameraden und seinen besten Freund, kann einen Begriff davon geben, was Neshdanow in dieser Zeit empfand und dachte. Dieser Ssilin lebte nicht in Petersburg, sondern in einer entfernten Gouvernementsstadt bei einem wohlhabenden Verwandten, von dem er in jeder Beziehung abhängig war. Die Verhältnisse hatten sich so gestaltet, daß er nicht einmal daran denken konnte, sich denselben jemals entwinden zu können; er war ein schüchternen schwächlicher Mensch, und gerade nicht besonders begabt, aber offenbar eine reine Seele. Um Politik kümmerte er sich nicht, las dies und jenes Buch, spielte in seinen Mußestunden auf der Flöte und fürchtete sich vor den jungen Fräuleins. Ssilin war Neshdanow leidenschaftlich zugethan – er schloß sich überhaupt leicht an Menschen an. Vor Niemandem pflegte Neshdanow sein Herz so rückhaltlos auszuschütten, wie vor Wladimir Ssilin; wenn er ihm schrieb, schien es ihm immer, daß er zu einem ihm sehr nahe stehenden, sehr bekannten Wesen spräche – aber zu einem in einer andern Welt lebenden Wesen oder zu seinem eigenen Gewissen. Neshdanow hatte sich keine Vorstellung davon machen können, wie er mit Ssilin von Neuem in derselben Stadt auf kameradschaftlichem Fuße würde leben können. Er hätte ihn vielleicht mit Kälte behandelt: sie hatten nur wenig mit einander gemein; aber er schrieb ihm gern und viel – und rückhaltlos. Andern gegenüber pflegte er, – auf dem Papier wenigstens – sich gewissermaßen herauszustreichen; wenn er aber an Ssilin schrieb – niemals! Die Feder schlecht führend, vermochte Ssilin ihm nur in kurzen, ungeschickten Worten zu antworten; aber Neshdanow bedurfte auch nicht der ausführlichen Antwort: er wußte, daß sein Freund jedes seiner Worte in sich aufsauge wie der Staub am Wege die Regentropfen, daß er seine Herzensergießungen wie ein Helligthum geheim halte – in tiefer unabwendbarer Einsamkeit verkümmernd, nur lebend in der Nachempfindung

seines

, des Freundes Lebens. Gegen Niemand in der Welt hatte sich Neshdanow jemals über dieses Verhältniß zu Ssilin ausgesprochen, das er überaus hoch hielt. »Nun Freund,« schrieb er ihm. –

»Du reiner Wladimir!« – so pflegte er ihn stets zu nennen, und zwar mit Recht – »gratulire mir: jetzt habe ich Futter bekommen und kann ein wenig ausruhen und meine Kräfte sammeln. Ich habe bei einem reichen Würdenträger, Namens Ssipjagin, eine Stelle angenommen, unterrichte seinen Sohn, esse prächtig – so habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegessen – schlafe herrlich, tummle mich nach Herzenslust in der schönen Umgegend – vor Allem aber: ich habe mich auf kurze Zeit von der Vormundschaft der Petersburger Freunde befreit; und wenn am Anfang auch die Langeweile gründlich an mir genagt hat, so ist es mir jetzt doch leichter um’s Herz geworden. Bald werde ich in das Dir bekannte Joch kriechen müssen, das heißt: ich muß ziehen, da ich mich habe einspannen lassen, fürs Erste aber kann ich das Leben physisch vollauf genießen, an Umfang zunehmen – und meinetwegen dichten, wenn die Lust dazu kommt. Die sogenannten Beobachtungen werden bis auf eine gelegenere Zeit aufgespart: das Gut scheint mir vortrefflich bewirthschaftet, vielleicht, daß es um die Fabrik ein wenig faul steht; die nach dem Loskauf abgefundenen Bauern sehen unzugänglich aus; die auf dem Gute dienenden Leute dagegen haben Physiognomien von einem


Comme il faut!


Aber wir werden die Sachen später untersuchen. Die Herrschaft – das sind höfliche, liberale Leute; der gnädige Herr ist so herablassend, so herablassend – dann aber schwingt er sich plötzlich empor: ein höchst gebildeter Mann! Die gnädige Frau – ist schön wie ein Bild und scheint ihre fünf Sinne beisammen zu haben: sie lauert nur darauf, daß sie Dich packt, – ist aber so weich – als ob sie keine Knochen hätte! Ich fürchte mich vor ihr: Du weißt, was ich für ein Damencavalier bin! – Es sind


noch Nachbarn da – garstige Leute; eine alte Frau, die mir feindlich gesinnt ist . . . Am meisten interessirt mich aber ein junges Mädchen, eine Verwandte, Gesellschafterin – Gott weiß! – mit der ich kaum zwei Worte gesprochen habe, die aber, ich fühle es, aus meinem Holz gezimmert ist . . .«



Hierauf folgte eine Schilderung des Aeußeren von Marianne – ihres ganzen Wesens; dann fuhr er fort:



»Daß sie unglücklich, stolz, eigenliebig, verschlossen, namentlich aber unglücklich ist – unterliegt keinem Zweifel. Weshalb sie unglücklich ist – weiß ich noch nicht. Daß sie eine ehrenhafte Natur ist – ist mir klar; ob sie gut ist – das ist noch die Frage. Giebt es denn auch vollkommen gute Frauen – wenn sie nicht dumm sind? Und sind solche denn überhaupt nöthig? Ich kenne übrigens die Frauen nur wenig. Von Frau Ssipjagin wird sie nicht geliebt . . . Und auch sie zahlt ihr mit derselben Münze . . . Wer von den Beiden Recht hat, – ist mir unbekannt. Ich denke, daß eher Frau Ssipjagin im Unrecht ist . . . da sie schon fast zu höflich gegen sie ist; bei Dieser zucken hingegen sogar die Brauen, wenn sie mit ihrer Patronin spricht. Ja; ein sehr nervöses Wesen, das paßt auch zu mir. Aus der Art geschlagen ist sie ebenso wie ich, – wenn auch wahrscheinlich in anderer Weise.



Wenn sich Alles ein wenig entwirrt haben wird – schreibe ich Dir . . .



Wir sprechen fast nie miteinander, wie ich Dir schon gesagt habe; aber aus den wenigen Worten, die sie an mich gerichtet – immer plötzlich und unerwartet – tönt eine gewisse herbe Aufrichtigkeit . . . Das ist mir angenehm.



Was mir dabei einfällt: hast Du bei Deinem Anverwandten noch immer dieselbe schmale Kost? – und denkt er nicht daran, in’s Jenseits hinüberzugehen?



Hast Du im »Europäischen Boten« den Aufsatz über die letzten Prätendenten im Gouvernement Ostenburg gelesen? Das war im Jahre 1834, Freund! Ich liebe diese Zeitschrift nicht – auch gehört der Verfasser zu den Konservativen; es ist aber ein interessanter Artikel und kann verschiedene Ideen anregen . . .



Neuntes Capitel

So war die erste Hälfte des Monats Mai vorübergegangen, es kamen die ersten heißen Sommertage – Nachdem Neshdanow seine Geschichtsstunde gegeben, begab er sich in den Garten und ging dann in das Birkenwäldchen hinüber, welches an der einen Seite an den Garten stieß. Einen Theil dieses Wäldchens hatten die Kaufleute vor ungefähr fünfzehn Jahren ausgeholzt; jetzt schossen überall junge Birkenstämme an den lichten Stellen empor. Wie kleine, von mattem Silberglanz zart angehauchte, mit grauen Ringen geschmückte Säulen erhoben sich die dicht aneinandergedrängten Bäumchen; in freudiger Gemeinschaft grünten und glänzten die feinen Blätter, als hätte sie Jemand gewaschen und mit Lack überzogen; durch die gleichförmig dicke Schicht der am Boden liegenden gelbrothen Herbstblätter brachen die Halme der Frühlingsgräser wie spitze Zünglein hindurch. Der ganze Hain war von schmalen Fußwegen durchschnitten. Einen scharfen durchdringenden Ton hervorstoßend, flogen ununterbrochen schwarze Misteldrosseln dicht an der Erde über diese Wege hin, als wenn sie Jemand aufgescheucht hätte, – und stürzten kopfüber in’s Dickicht. Nachdem er vielleicht eine halbe Stunde im Walde sich ergangen, setzte sich Neshdanow auf einen Baumstumpf, um den noch graue Holzspähne herumlagen: wie sie einst unter dem Schlag der Axt gefallen waren, so umgaben sie noch jetzt in Haufen zerstreut den Baumstumpf. Oft war der Winterschnee über sie gefallen – und war im Frühling wieder hinweggeschmolzen, und Niemand hatte an ihnen gerührt. Neshdanow saß im tiefen, aber kurzen Schatten einer Wand von jungen Birken; er dachte an Nichts, gab sich aber voll und ganz jener eigenthümlichen Frühlingsempfindung hin, welche bei Jung und Alt mit einer gewissen Wehmuth verbunden ist mit der Wehmuth gespannter Ermattung – bei der Jugend, mit der stillen Wehmuth der Trauer – beim Alter . . .



Neshdanow vernahm plötzlich ein Geräusch wie von herannahenden Schritten.



Es waren nicht

eines

 Menschen Schritte – es war auch kein Bauer in Bastschuhen oder ein barfüßiges Weib. Es schienen zwei Menschen langsamen, gleichmäßigen Schrittes nebeneinander herzugehen . . . Er glaubte ein Frauenkleid rauschen zu hören. . .



Da drang plötzlich der Ton einer dumpfen Männerstimme an sein Ohr.



– Es ist Ihr letztes Wort? Niemals?



– Niemals! – wiederholte eine Neshdanow bekannt klingende Frauenstimme – und gleich darauf bog um die Ecke des Weges, der hier einen Winkel bildete – Marianne in Begleitung eines Menschen mit schwarzen Augen und brauner Gesichtsfarbe, den er noch nie gesehen hatte.



Wie erstarrt blieben sie stehen, als sie Neshdanow gewahr wurden; – dieser aber war so bestürzt, daß er sich nicht einmal von dem Baumstumpf, auf welchem er saß, zu erheben vermochte . . . Marianne erröthete über das ganze Gesicht – verzog jedoch sogleich die Lippen zu einem verachtungsvollen Lächeln . . . Auf wen bezog sich dieses Lächeln – auf sie selbst, weil sie erröthet – oder auf Neshdanow? . . . Ihr Begleiter aber runzelte die dichten Brauen – und warf Neshdanow aus dem gelblichen Weiß der unstäten Augen einen ergrimmten Blick zu. Dann schaute er zu Marianne auf – worauf sich Beide, Neshdanow den Rücken kehrend, ohne ihre Schritte zu beschleunigen, schweigend entfernten, während ihnen Dieser noch immer mit denselben verwunderten Augen nachblickte.



Als Neshdanow eine halbe Stunde darauf nach Hause zurückkehrte, begab er sich auf sein Zimmer, – und als er nun, durch das Gong gerufen, in’s Wohnzimmer trat, erblickte er daselbst den schwarzäugigen Unbekannten, auf den er im Birkenhain gestoßen war. Ssipjagin führte Neshdanow zu ihm und stellte den Fremden – Ssergei Michailowitsch Markelow – als seinen beau-frère, einen Bruder von Valentine Michailowna vor.

 



– Bitte einander in Freundschaft und Liebe gewogen zu sein, meine Herren! – sagte Ssipjagin mit dem ihm eigenen majestätisch-freundlichen und doch zugleich zerstreuten Lächeln.



Markelow verneigte sich schweigend, Neshdanow gleichfalls . . . Ssipjagin aber trat, den kleinen Kopf zurückwerfend und mit den Schultern zuckend, bei Seite, als wollte er sagen: – »ich habe Euch zusammengebracht, ob Ihr einander aber wirklich in Liebe und Freundschaft zugethan sein werdet, das ist mir ziemlich gleich!«



Darauf näherte sich Valentine Michailowna dem noch immer regunglos dastehenden Paare, stellte sie von Neuem einander vor – und begann nun mit einem besonders freundlichen und hellen Blick in den wunderbaren Augen, die gleichsam auf Befehl zu leuchten verstanden, mit dem Bruder zu sprechen.



– Du scheinst uns ja ganz vergessen zu haben, eher

cher Serge

! Sogar Kolja’s Namenstag hast Du vorübergehen lassen, ohne zu uns zu kommen. Oder bist Du so beschäftigt? – Er führt da irgend ein neues System ein, – wandte sie sich zu Neshdanow, – ein höchst originelles System: seine Bauern erhalten von Allein drei Viertel, er selbst – nur ein Viertel; er findet aber, daß er auch so noch zu viel bekommt.



– Die Schwester liebt zu scherzen – wandte sich seinerseits Markelow zu Neshdanow: – aber ich könnte ihr beistimmen; es ist in der That viel, wenn ein Mensch ein Viertel von dem erhält, was

hundert

 Menschen angehört.



– Sie aber, Alexei Dmitrijewitsch, haben Sie auch bemerkt, daß ich zu scherzen liebe? – fragte Valentine Michailowna mit derselben freundlichen Milde in Blick und Stimme.



Neshdanow wußte nicht, was er ihr antworten solle – da meldete man die Ankunft Kallomeyzew’s. Frau Ssipjagin ging ihm entgegen; – bald darauf erschien der Kammerdiener und kündigte mit singender Stimme an, daß das Essen bereit sei.



Während desselben mußte Neshdanow unwillkürlich immer wieder Marianne und Markelow anblicken. – Sie saßen nebeneinander, Beide mit zu Boden gesenkten Augen, mit zusammengepreßten Lippen, mit finsterem und ernstem, fast bösem Ausdruck im Antlitz. Neshdanow nahm namentlich das Eine Wunder: wie konnte Markelow der Bruder Frau Ssipjagin’s sein? – so wenig waren sie einander ähnlich. – Beide hatten vielleicht dieselbe dunkle Gesichtsfarbe; aber der zartbräunliche matte Ton der Arme, der Schultern, des Antlitzes von Valentine Michailowna bildete eben das Bezaubernde an ihrer Erscheinung . . . bei dem Bruder hingegen ging Alles in jenes Schwarz über, das höfliche Leute bronzefarben zu nennen lieben, welches aber das russische Auge an – einen Stiefelschaft erinnert. Markelow hatte krauses Haar, eine etwas gebogene Nase, dicke Lippen, eingefallene Wangen, einen eingedrückten Leib und sehnige Hände. Er war überhaupt sehnig und hager – und sprach mit metallischer, scharfer, durchdringender Stimme. Sein Blick war trübe, beinahe schläfrig – sein Aussehen finster, ein echter Griesgram!



Er aß nur wenig, und spielte statt dessen mit Brodkügelchen, die er auf dem Tische hin- und herrollte, indem er von Zeit zu Zeit einen flüchtigen Blick auf Kallomeyzew warf. Dieser war eben aus der Stadt gekommen, wo er bei dem Gouverneur gewesen – in einer für ihn, Kallomeyzew, nicht angenehmen Sache, was er jedoch sorgsam verschwieg.



Ssipjagin stieß ihn wie gewöhnlich vor den Kopf, wenn er zu weit ging, lachte jedoch von ganzem Herzen über seine Anekdoten und seine bon-mots, obgleich er fand – »

pu’il est un affreux réaetionnairae.«

 Kallomeyzew behauptete unter Anderem, daß er in Entzücken gerathen sei über den Namen, den die russischen Bauern –

oui, oui! les simples mougiks

 – den Advokaten gegeben. »Kläffer! Kläffer!« – wiederholte er mit Wonne: –

ce people russe est délicieux

! – Darauf erzählte er, wie er einst den Schülern einer Volksschule die Frage vorgelegt, was ein

Struthiocamelus

 sei. – Und als Niemand diese Frage – zu beantworten verstand, nicht einmal der Lehrer, habe er eine zweite Frage an sie gerichtet: was ist ein

Pithocium

? – und zugleich auch einen Vers aus Chemnitzer citirt: »Pithecium, schwach an Geist, der Thiere Sein nachahmend!« – Aber auch jetzt vermochte ihm Niemand zu antworten. – Da haben Sie die Volksschule!



– Aber erlauben Sie, – bemerkte Valentine Michailowna, – ich weiß eben so wenig, was das für Thiere sind.



– Gnädige Frau! – rief Kallomeyzew aus, – Sie brauchen es auch nicht zu wissen.



– Weshalb braucht es denn das Volk zu wissen?



– Deshalb, weil es besser ist zu wissen, was ein

Struthiocamelus

 und ein

Pithecium

 ist, als mit irgend einem Proudhon oder gar Adam Smith bekannt zu sein!



Hier mischte sich Ssipjagin ein und bedeutete Kallomeyzew, daß Adam Smith einer von den Bannerträgern des menschlichen Denkens sei und daß es nur nützen könne, wenn man seine Prinzipien . . . – er goß sich

Château d’Yquem

 in’s Glas – . . . mit der Muttermilch . . . – er führte das Glas an die Nase und zog die Blume des Weines ein – . . . einsaugen würde! – Er leerte sein Glas. Kallomeyzew folgte seinem Beispiel und lobte den Wein.



Markelow schien aus die Auslassungen des Petersburger Kammerjunkers nur wenig zu achten, warf jedoch zwei Mal einen fragenden Blick auf Neshdanow, wobei er das Brodkügelchen spielend von sich fortschleuderte, so daß es dem beredten Gaste fast an die Nase geflogen wäre . . .



Ssipjagin ließ seinen Schwager gewähren; Valentine Michailowna unterließ es gleichfalls, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen; – man sah es ihnen an, daß Beide gewohnt waren, Markelow für einen Sonderling zu halten, den man unbehelligt lassen müsse.



Nach dem Mittagessen begab sich Markelow in’s Billardzimmer, um dort seine Pfeife zu rauchen, Neshdanow aber zog sich in sein Zimmer zurück. – Im Korridor stieß er aus Marianne. Er wollte vorüber-gehen . . . durch eine rasche Handbewegung Mariannen’s aufgehalten, blieb er stehen.



– Herr Neshdanow, – begann sie mit nicht ganz fester Stimme. – es müßte mir eigentlich vollkommen gleichgültig sein, wie Sie von mir denken; ich meine jedoch . . . ich meine – sie konnte das Wort nicht finden – ich halte es für nothwendig, Ihnen zu sagen, daß, als Sie mich heute im Birkenhain mit Herrn Markelow erblickten . . . Sagen Sie, – Sie haben gewiß gedacht: weshalb waren sie so verwirrt und warum sind sie hierhergekommen – wie zu einem Stelldichein?



– Es kam mir in der That etwas wunderbar vor. . . wollte Neshdanow erwidern.



– Herr Markelow, – unterbrach ihn Marianne – hat mir einen Antrag gemacht; – und ich habe ihn ausgeschlagen. Das ist Alles, was ich Ihnen zu sagen hatte, und nun – leben Sie wohl und denken Sie von mir, wie Sie wollen.



Sie wandte ihm schroff den Rücken und eilte hastigen Schrittes von dannen.



Als er sein Zimmer betreten, setzte sich Neshdanow nachdenklich an das Fenster.



– Ein wunderliches Mädchen! – Und was soll dieser bizarre Einfall, diese unerbetene Aufrichtigkeit bedeuten? Was ist das? – Originalitätssucht – oder einfach Schönthuerei – oder Stolz? . . . Stolz – das wird wohl am richtigsten sein. Sie kann nicht die Spur eines Verdachts ertragen. . . Der Gedanke, daß man sie falsch beurtheilen könnte, läßt ihr keine Ruhe.



– Wunderliches Mädchen!



Während ihn diese Gedanken beschäftigten, hörte er, wie unten auf der Terrasse von ihm gesprochen wurde.



– Es spürt meine Nase – suchte Kallomeyzew Frau Ssipjagin zu überzeugen, – es spürt meine Nase, daß er zu – zu den Rothen gehört. In der Zeit, da ich noch –

avec Ladislas

 – Beamter für besondere Aufträge beim General-Gouverneur von Moskau war, habe ich diese Herren – die Rothen – und auch die Raskolniks aufzuspüren gelernt. Es leitete mich mein Instinkt! – Und nun erzählte Kallomeyzew, wie er einst in der Umgegend von Moskau einen greisen Raskolnik, in dessen Hütte er mit der Polizei eingedrungen war, am

Stiefelabsatz

 gepackt und festgehalten habe: »er wäre mir fast durch’s Fenster entsprungen . . . Und so ruhig hatte er, der Taugenichts, bis zu jenem Moment auf der Bank gesessen!«



Kallomeyzew vergaß aber hinzuzufügen, daß derselbe greise Raskolnik im Gefängniß jede Nahrung von sich gewiesen hatte – und Hungers gestorben war.



– Ihr neuer Lehrer, – fuhr der eifrige Kammerjunker fort – ist unbedingt ein Rother! Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß er niemals zuerst grüßt?



– Weshalb soll er denn auch zuerst grüßen? – bemerkte Frau Ssipjagin, – das gefällt mir gerade an ihm.



– Ich bin der Gast des Hauses, in welchem er dient – rief Kallomeyzew aus, – ja, ja, in welchem er dient, für Geld,

comme un salarié

 . . . Ich stehe folglich über ihm. – Und daher muß er mich zuerst begrüßen.



– Sie fordern zu viel, mein liebenswürdiger Freund, – fiel Ssipjagin ein; – das riecht, – entschuldigen Sie – nach dem vorigen Jahrhundert. Ich habe nur seine Arbeit gekauft, er selbst ist ein freier Mensch geblieben.



– Die Zügel fühlt er nicht, – fuhr Kallomeyzew fort – die Zügel:

le frein

! So sind sie Alle – diese Rothen. Ich sage Ihnen – ich habe eine feine Nase! – Es könnte sich nur Ladislas in dieser Beziehung mit mir messen! – Wenn er nur mir in die Hände gerathen wäre, dieser Lehrer – ich würde ihn schon zappeln lassen! So würde ich ihn zappeln lassen! Einen anderen Ton würde er bei mir anschlagen; – und den Hut abnehmen würde er vor mir . . . eine wahre Pracht!



– Du Lump, Prahlhans! – wäre es Neshdanow beinahe entfahren . . . da that sich aber die Thür seines Zimmers auf und es trat – zu seiner nicht geringen Verwunderung – Markelow herein.



Zehntes Capitel

Neshdanow erhob sich und ging ihm entgegen. – Markelow richtete, ohne zu grüßen, sogleich die Frage an ihn, ob er in der That Alexei Dmitrijew Neshdanow, Student der St. Petersburger Universität sei.



– Ja . . . der bin ich, – antwortete Neshdanow.



Markelow zog darauf aus der Seitentasche seines Rockes einen entsiegelten Brief hervor.



– Dann lesen Sie. – Von Wassilij Nikolajewitsch, – fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu.



Neshdanow nahm den Brief und begann zu lesen. Der Brief war etwa in der Art eines halboffiziellen Rundschreibens, in welchem Derjenige, der ihn vorzeige, Ssergei Markelow, als »Einer von den Unsrigen,« als eine des Vertrauens vollkommen würdige Person empfohlen wurde; dann folgte ein Hinweis auf die unaufschiebbare Nothwendigkeit gemeinsamen Handelns und eine Instruktion über die Verbreitung der bekannten Prinzipien.



Neshdanow reichte Markelow die Hand, bot ihm einen Stuhl und setzte sich gleichfalls. Markelow rauchte, ohne ein Wart zu sprechen, eine Cigarette an. Neshdanow folgte seinem Beispiel.



– Ist es Ihnen bereits möglich gewesen, mit den hiesigen Bauern Verbindungen anzuknüpfen? – fragte endlich Markelow



– Nein, noch nicht.



– Sind Sie schon lange hier?



– Bald werden es zwei Wochen.



– Und haben Sie viel zu thun?



– Nein, nicht besonders viel.



Markelow hüstelte trocken.



– Hm! Die Bauern sind hier ziemlich einfältig, – fuhr er mürrisch fort; – das Volk liegt noch arg im Finstern – muß des Besseren belehrt werden. Die Armuth ist groß – und doch ist Niemand da, der es ihnen auseinandersetzen könnte, warum sie so arm sind.



– Die früheren Leibeigenen Ihres Schwagers scheinen, so weit ich es beurtheilen kann, gerade nicht zu darben, – bemerkte Neshdanow.



– Mein Schwager ist ein Schlaukopf; Sand in die Augen zu streuen versteht er meisterhaft. Den hiesigen Bauern geht es in der That nicht schlecht; aber er hat eine Fabrik. Das ist die Stelle, wo die Sache in Angriff genommen werden muß. Das ist wie ein Ameisenhaufen, ein zur rechten Zeit gegebener Stoß – und sie rühren sich gleich. – Haben Sie auch Bücher bei sich?



– Ja . . . aber nicht viele.



– Ich werde Ihnen welche schicken.



Wie haben Sie nur so wenige mitnehmen können!



Neshdanow blieb die Antwort schuldig. – Auch Markelow verstummte und rauchte weiter, indem er bläuliche Wolken durch die Nase aufsteigen ließ.



– Ist das aber ein Schurke, dieser Kallomeyzew! – rief Markelow endlich aus. – Während des Mittags fuhr es mir durch den Kopf, ob ich nicht aufstehen, zu diesem Herrn herantreten, und ihm die ganze unverschämte Physiognomie braun und blau schlagen solle, damit nicht Andere in Versuchung gerathen, dies zu thun? Doch nein! Haben wir jetzt doch Wichtigeres zu vollbringen, als Kammerjunker zu prügeln. – Jetzt ist nicht die Zeit, in Zorn darüber zu gerathen, daß Narren thörichte Reden im Munde führen; jetzt ist es vielmehr Zeit sie zu hindern, thörichte Thaten zu vollführen.



Neshdanow nickte bejahend mit dem Kopf, – Markelow griff wieder zu seiner Cigarette.



– Es befindet hier sich unter der Dienerschaft ein höchst brauchbarer Mensch, – begann er von neuem; – nicht Iwan, der bei Ihnen ist das ist eine Fischnatur; nein, ein Anderer . . . er heißt Cyrill und hat das Buffet unter sich (dieser Cyrill war als ein Erztrunkenbold bekannt). – Sehen Sie ihn sich näher an. Ein desperater Kerl . . . nun, schüchtern thun, ist jetzt nicht unsere Sache. Was sagen Sie aber zu meiner Schwester? – fügte er, den Kopf mit den gelben Augen plötzlich zu Neshdanow emporhebend, hinzu. – Die ist doch noch schlauer als mein Schwager. Wie denken Sie über meine Schwester!

 



– Ich denke, daß es eine sehr angenehme und liebenswürdige Dame ist. . . Und auch eine sehr schöne Dame. . .



– Hm! Wie Ihr Euch, meine Herren, in Petersburg fein auszudrücken versteht. . . Ich staune-! – Nun . . . in Hinsicht, aber . . . – fing er an, hielt jedoch plötzlich mit finsterer Miene in seiner Rede inne. – Ich sehe, wir müssen uns aussprechen, – begann er von neuem. – Hier geht’s aber nicht. Weiß der Teufel! Sie horchen am Ende hinter der Thür. Wissen Sie, was ich Ihnen vorschlagen will? Heute ist Sonnabend, morgen werden Sie wohl keine Stunden geben? Nicht wahr?



– Morgen um drei Uhr ist eine Repetition angesagt.



– Eine Repetitioni Ganz wie im Theater! Es ist wohl meine liebe Schwester, die solche Worte erfindet? Nun gut. Wenn Sie wollen, könnten wir vielleicht gleich zu mir fahren. Es sind nur zehn Werst bis zu meiner Besitzung. Meine Pferde sind tüchtig: im Nu sind wir da. – Sie schlafen bei mir, wir bleiben den Morgen zusammen – um drei Uhr sind Sie mit meinen Pferden dann wieder hier. Sind Sie damit einverstanden?



– Gut, – willigte Neshdanow ein. – Er war seit dem Erscheinen Markelow’s in höchst aufgeregter, gedrückter Stimmung. Der plötzliche Anschluß an diesen Menschen beunruhigte ihn und doch zog es ihn andererseits wieder zu ihm hin. Er fühlte, er sah es, daß Markelow, obgleich geistig wahrscheinlich wenig entwickelt, ein unbedingt ehrlicher und charakterfester Mensch war. Dazu kam noch die seltsame Scene im Birkenhain, die unerwartete Erklärung Mariannen’s. . . .



– Das ist herrlich! – rief Markelow aus. – Rüsten Sie sich jetzt zur Fahrt – ich lasse unterdessen anspannen. Sie brauchen doch keine besondere Erlaubniß?



– Ich werde es anzeigen. Ohne diese Anzeige darf ich mich nicht entfernen, wie mir scheint.



– Ich werde es sagen, – fiel Markelow ein. – Seien Sie unbesorgt. – Sie sind jetzt mit ihren Karten – beschäftigt und werden Ihre Abwesenheit gar nicht bemerken. Mein Schwager möchte gern ein großer Staatsmann sein, – und doch besitzt er nur die eine Tugend, daß er ausgezeichnet Karten spielt. Nun freilich: auch dadurch ist schon Mancher zu Ehren und Würden gelangt!l . . . – Seien Sie also bereit. Ich treffe gleich die nöthigen Anordnungen.



Markelow entfernte sich. Eine Stunde darauf saß Neshdanow wieder neben ihm, auf einem großen ledernen Kissen, in einem breit ausgebogenen, sehr alten und sehr bequemen Tarantaß; vom Bock her erschallte des kleinen, untersetzten, unermüdlichen Kutschers merkwürdig angenehmes, an eine Vogelstimme erinnerndes Pfeifen; die drei Schecken mit den geflochtenen Mähnen und Schweifen griffen auf dem ebenen Wege feurig aus; von den Schatten der anbrechenden Nacht überdeckt – die Uhr schlug gerade zehn, als sie fortfahren – glitten die einzelnen Bäume, Sträucher, Felder, Wiesen und Schluchten – die je nach der Entfernung entweder langsam rückwärts entschwanden, oder sich mit den Fahrenden fortzubewegen schienen – gleichmäßig an ihnen vorüber.



Die kleine Besitzung Markelow’s – sie hieß »Borsenkowo,« umfaßte zweihundert Dessiatinen und brachte ihm jährlich 700 Rubel ein – war drei Werst von der Gouvernementsstadt gelegen, während Ssipjagin’s Gut sieben Werst von derselben entfernt war. Um von des Letzteren Besitzung nach «Borsenkowo« zu gelangen, mußte man durch die Stadt hindurchfahren. – Die neuen Bekannten hatten kaum fünfzig Worte miteinander gewechselt, als bereits die kläglichen vorstädtischen Häuser mit den eingefallenen Dächern und den schiefen, zur Seite geneigten, trübe erleuchteten Fenstern an ihnen vorüberflogen; in den Hauptstraßen auf dem Steinpflaster hin- und hergeworfen, schwankte der rasselnde Tarantaß von einer Seite zur andern. . . Bei jedem Stoß emporschnellend, tanzten die dummen, steinernen, zweistöckigen Kaufmannshäuser, die säulengeschmückten Kirchen, die Schenken und Gasthäuser neben ihnen her. . . Es war ein Sonntag. – Während auf den Straßen Niemand mehr zu sehen war, schienen die Schenken noch überfüllt. Ueberall konnte man heisere Stimmen, trunkenen Liedersang, weinerliche Harmonika-Töne vernehmen, aus den zuweilen plötzlich geöffneten Thüren drang im röthlichen Schimmer spärlicher Abendbeleuchtung ein Strom erhitzter, verpesteter, mit scharfem Spiritusdunst versetzter Luft in’s Freie. Vor fast allen Schenken erblickte man ärmliche Bauernkarren, bespannt mit zottigen, dickbäuchigen Gäulen, die ihre Köpfe geduldig hängen ließen und sich so ruhig verhielten, als ob sie schliefen. Hier trat ein abgerissener Bauer aus der Schenke, mit weit geöffnetem Kittel und einer großen Winterkappe auf dem Kopfe, die ihm sackartig am Nacken herabhing: er beugte sich über die Deichselstange, hob tastend, als ob er etwas suche, die Hände empor und blieb dann regungslos stehen; dort – ein schmächtiger Fabrikarbeiter mit schief auf den Kopf gedrückter Mütze, in einem Nanking-Hemde und barfuß – die Stiefel waren in der Schenke geblieben; schon nach den ersten unsicheren Schritten stockte er, kratzte sich darauf im Rücken – und fiel mit einem plötzlichen Seufzer wieder in die Schenke hinein.



– Es überwältigt den Russen die Macht des Branntweins! – bemerkte Markelow.



– Um die Sorgen zu vergessen, Ssergei Michailowitsch, lieber Herr! – rief, ohne sich umzublicken der Kutscher, welcher mit dem Pfeifen jedes Mal inne hielt, sobald er an einer Schenke vorbeikam, und sich gleichsam in sich selbst vertiefte.



– Vorwärts! vorwärts! – schrie ihm Markelow zu, ihn herzhaft am Kragen seines Mantels schüttelnd.



Der Tarantaß rasselte über den ungemein stark nach Kohl und Matten riechenden Marktplatz hinweg, kam vorbei am Hause des Gouverneurs, mit den bunten Schilderhäuschen vor dem Thore, an dem mit einem Thurm geschmückten Polizeihause, am Boulevard mit den eben gepflanzten und schon absterbenden Bäumen, an dem von Hundegebell und Kettengerassel erzitternden Bazar – war endlich, nachdem er eine unendlich lange Reihe von Lastwagen, die noch in der Abendkühle ausgerückt waren, hinter sich gelassen – wieder in der freien Luft der weidenbesetzten Landstraße – und rollte nun von Neuem rasch und gleichmäßig dahin.



Markelow war um sechs Jahre älter, als seine Schwester Valentine Michailowna. Er war in der Artillerie-Schule erzogen worden, die er mit dem Range eines Offiziers verlassen hatte: schon als Lieutenant jedoch reichte er in Folge eines unangenehmen Auftrittes mit dem Regiments-Kommandeur – einem Deutschen – seinen Abschied ein. Seitdem haßte er alle Deutschen, namentlich die russischen Deutschen. In Folge seines Abschiedes überwarf er sich mit seinem Vater, den er dann bis zu seinem Tode nicht weiter gesehen; als der Vater starb, zog sich Markelow auf sein kleines, von ihm ererbtes Gut zurück. In Petersburg war er mit vielen Koryphäen der neuen Bewegung, die er innig und hoch verehrte, zusammengekommen; hier in diesem Kreise entwickelte und festigte sich auch seine ganze Anschauungsweise. Er las nur wenig – und meist nur solche Bücher, welche auf die ihn einzig und allein interessirende Sache Bezug hatten: – namentlich Herzen. Er hatte die militärische Haltung beibehalten und lebte als Spartaner, als Mönch. Vor einigen Jahren verliebte er sich leidenschaftlich in ein junges Mädchen, das ihn jedoch in rücksichtslosester Weise verrieth und einen Adjutanten – einen Deutschen – heirathete. Seitdem haßte er auch die Adjutanten. Er versuchte es, Spezial-Artikel über die Mängel der russischen Artillerie zu schreiben – er besaß jedoch nicht die Gabe, seine Gedanken richtig auszudrücken: – er konnte keinen einzigen Artikel zu Ende bringen und fuhr doch noch immer fort, große Bogen grauen Papiers mit unsicheren, unförmlichen, wahrhaft k