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Siebentes Capitel

Die Fenster des geräumigen und niedrigen Zimmers, in welches der Diener Neshdanow geführt, gingen in den Garten hinaus. Sie waren geöffnet: ein linder Wind bewegte die weißen Vorhänge, die sich bald wie Segel rundeten und hoben, bald wieder ruhig niederfielen. An der Decke glitten goldglänzende Lichter still dahin; das ganze Zimmer war von der frischen, feuchten Frühlingslust durchdrungen. Neshdanow begann damit, daß er den Diener fortschickte, seine Sachen auspackte, sich dann wusch und umkleidete. Die Reise hatte ihn erschöpft; das zweitägige beständige Zusammensein mit diesem unbekannten Menschen, mit dem er viel und so Verschiedenartiges gesprochen – und nutzlos gesprochen, – hatte ihn tief erregt: ein bitter-herbes Etwas, halb Wehmuth und Langweile, halb Aerger, hatte sich insgeheim tief in seiner Seele eingenistet; er war voll Unwillen über seine Kleinmüthigkeit – das Herz aber stöhnte und blutete.

Er trat an’s Fenster und blickte in den Garten hinaus. Es war ein Urväter-Garten mit schöner schwarzer Erde, wie man diesseits Moskaus nirgends mehr einen solchen finden wird. Aus dem langgestreckten Plateau eines abschüssigen Hügels angelegt, bestand er aus vier deutlich abgegrenzten Theilen. Vor dem Hause breitete sich, etwa zweihundert Schritte weit, der Blumengarten aus; mit sandbestreuten gradlinigen Wegen, mit Gruppen von Akazien und Syringen, und mit Blumenbeeten; links am Stallhof vorüber zog sich bis zur Tenne der Fruchtgarten hin, mit Aepfel-, Birnen- und Pflaumenbäumen und mit Himbeer- und Johannisbeersträuchern dicht bestanden; dem Hause gerade gegenüber erhoben sich mit ihren ragenden Wipfeln, in Form eines prächtigen, durch sich kreuzende Alleen getheilten Vierecks ganze Reihen von Lindenbäumem Rechts wurde die Aussicht durch den großen, von einer doppelten Reihe von Silberpappeln eingefaßten Fahrweg begrenzt; durch eine Gruppe von Trauerbirken sah man das steile Dach des Treibhauses hindurchschimmern. Der ganze Garten strahlte im schönsten Grün der ersten Frühlingspracht; von dem sommerlichen Summen und Schwirren der Insektenwelt war noch nichts zu hören; es flüsterten nur die jungen Blättchen – und hier und da schlug der Fink, und es girrten zwei Turteltäubchen auf einem und demselben Baum, es ließ auch ein Kuckuck, von einer Stelle zur anderen fliegend, seinen Ruf erschallen – aus der Ferne aber, von da her, wo am Teich die Mühle steht, drang das Geschrei der krächzenden Krähen, dem Geknarre einer Unzahl von Wagenrädern gleich, durch die Luft. Und über diesem jungen, einsamen, stillen Weben der erwachenden Natur glitten die Wolken, ihre Formen rundend, wie große, träge Vögel dahin. – Neshdanow schaute hinaus und horchte und sog die Luft mit den offenen, kalten Lippen ein . . .

Auch ihm wurde es leichter um’s Herz, auch in ihm wurde es still.

Unterdessen erzählte unten im Schlafzimmer Ssipjagin seiner Frau, wie er mit Neshdanow bekannt geworden und was ihm der Fürst G. erzählt und worüber sie auf der Reise gesprochen.

– Ein kluger Kopf! – wiederholte er, – und hat Kenntnisse; freilich gehört er zu den Rothen, aber Du weißt, das hat ja in meinen Augen nichts zu bedeuten; sie haben doch wenigstens Ehrgeiz, diese Leute. Und Kolja ist ja auch noch zu jung; es ist nicht zu befürchten, daß er sich von diesen Thorheiten etwas aneignen könnte.

Valentine Michailowna hörte ihrem Mann mit freundlichem und doch zugleich spöttischem Lächeln zu, als ob er sich vor ihr gleichsam wegen eines seltsamen, aber doch lustigen Einfalls entschuldige; es schien ihr sogar angenehm zu sein, daß ihr »seigneur et maitre,« ein so solider Mann und hochstehender Beamter, im Stande war, wie ein zwölfjähriger Knabe plötzlich irgend einen tollen Streich loszulassen, vom Zaune zu brechen. Im schneeweißen Hemd, mit blauseidenen Tragbändern vor dem Spiegel stehend, kämmte er sich nach englischer Art mit zwei Bürsten das Haar; – Valentine Michailowna aber, die ihre Füßchen auf die niedrige türkische Couchette heraufgezogen, fing an, ihm über die Wirthschaft Mittheilungen zu machen, über die Papierfabrik, mit der es nicht so gut ging, als es eigentlich sollte, über den Koch, den man wechseln müsse, über die Kirche, in welcher die Stukkatur herabgefallen sei, über Kallomeyzew. . .

Zwischen den Eheleuten herrschte aufrichtiges Vertrauen und volles Einvernehmen; sie lebten mit einander wirklich, wie man zu sagen pflegt, in Liebe und Eintracht; und als Ssipjagin, nachdem er mit seiner Toilette zu Ende, sich in ritterlicher Weise die Hand von Valentine Michailowna zum Kuß erbat, reichte sie ihm beide Hände, und schaute mit zärtlichem Stolz auf ihn, als er sie abwechselnd küßte. Es war das Gefühl, welches beiderseitig zum Ausdruck kam, ein gutes und wahres Gefühl, wenn es bei ihr auch aus eines Raphael’s würdigen Augensternen leuchtete, bei ihm nur aus einfachen, geheimräthlichen Augen.

Genau um fünf Uhr begab sich Neshdanow nach unten zum Diner, das nicht durch Glockenton angekündigt wurde, sondern durch den gedehnten Schall des chinesischen Gong. Im Eßzimmer waren bereits Alle beisammen. Ssipjagin bewillkommnete ihn von Neuem, von der Höhe seiner Halsbinde herab, und wies ihm am Tisch einen Platz zwischen Anna Sacharowna und Kolja an. Anna Sacharowna war ein bejahrtes Fräulein, eine Schwester von Ssipjagins verstorbenen Vater; es ging von ihr ein kampherartiger Duft aus, wie von einem Kleide, das lange gelegen; auch hatte sie ein unruhiges und gedrücktes Aussehen. Sie erfüllte im Hause die Pflichten einer Aufseherin oder Gouvernante Kolja’s, und es war die Unzufriedenheit, daß man Neshdanow zwischen sie und ihren Schützling gesetzt, deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen. Kolja schaute zum neuen Nachbar zuweilen von der Seite aus; der kluge Knabe errieth, daß sich der Lehrer unbehaglich fühle, daß er verlegen sei; er hob die Augen ja gar nicht empor und aß fast gar nichts. Das gefiel Kolja: er hatte bis dahin gefürchtet, daß er vielleicht ein strenger und böser Lehrer sein werde. Auch Valentine Michailowna blickte von Zeit zu Zeit auf Neshdanow.

»Er hat das Aussehen eines Studenten – dachte sie – und ist wohl nicht viel unter Menschen gewesen, aber das Gesicht ist interessant und auch die Farbe der Haare so originell, wie bei jenem Apostel, den die alten italienischen Meister stets mit rothem Haar abgebildet, – auch die Hände sind rein.« Es sahen übrigens alle Tischgenossen aus Neshdanow, und es schien, als ob sie ihn in der ersten Zeit in Ruhe lassen, ihn gleichsam schonen wollten; er fühlte das und war zufrieden damit, obgleich es ihn zugleich auch erbitterte. Die Unterhaltung führten Kallomeyzew und Ssipjagin. Man sprach über die Semstwo, über den Gouverneur, über die Wegesteuer, die Loskaufs-Operationen, die gemeinschaftlichen Bekannten in Petersburg und Moskau, über das sich eben erst kräftig aufschwingende Lyceum des Herrn Katkow, über die Arbeiternoth, über die Strafen, aber auch über Bismarck, über den Krieg von 1866 und über Napoleon, den Kallomeyzew besonders herausstrich. Die Ansichten, die der junge Kammerjunker entwickelte, waren höchst retrograder Art; er war in seinen Reden endlich so weit gekommen, daß er – freilich nur in Form eines Scherzes – den Toast eines ihm bekannten Herrn auf einem Banket bei Gelegenheit einer Namenstagsfeier anführte: »ich bringe ein Hoch auf auf die einzigen Prinzipien, die ich anerkenne,« – hatte der erhitzte Gutsbesitzer ausgerufen – »die Peitsche und Roederer!«

Valentine Michailowna runzelte die Brauen und bemerkte, daß dieses ein Citat sei – de très mauvais gout – Ssipjagin sprach im Gegentheil höchst freisinnige Ansichten aus; in höflicher und ein wenig herablassender Weise widerlegte er Kallomeyzew und machte sich sogar über ihn lustig.

– Ihre Befürchtungen in Hinsicht der Bauern-Emanzipation, lieber Ssemen Petrowitsch – sagte er ihm unter Anderem – erinnern mich an ein Memorandum, das unser verehrter und vortrefflicher Alexei Iwanytsch Tweritinow im Jahre 1860 eingereicht und in allen Petersburger Salons vorgelesen hat. Wundervoll war namentlich die eine Phrase: wie der befreite russische Bauer nothwendiger Weise mit der Fackel in der Hand über den Boden des Vaterlandes hinschreiten würde! Man mußte es sehen, wie unser lieber Alexei Iwanowitsch, die Wänglein aufblasend und die Aeuglein aufreißend, mit dem kleinen Kindermunde die Worte hervorstieß: »Fackel! F-ackel! wird mit der F-ackel hinschreiten!« Nun, die Bauern-Emanzipation ist da . . . Wo ist denn der Bauer mit der Fackel geblieben?

– Tweritinow, entgegnete finsteren Tones Kallomeyzew, – hat sich nur darin geirrt, daß nicht die Bauern mit der Fackel in der Hand einherschreiten werden, sondern andere Leute!

Bei diesen Worten blickten Marianne und Neshdanow, der das Mädchen bis zu diesem Moment fast gar nicht beachtet hatte – sie saß ihm schräg gegenüber – plötzlich einander an, und sie fühlten sogleich, daß sie Beide, – dieses in sich gekehrte Mädchen und er – von demselben Schlage seien und denselben Ansichten huldigten. Sie hatte auf ihn nicht den geringsten Eindruck gemacht, als sie ihm von Ssipjagin vorgestellt worden war; weshalb hatte er sie denn gerade jetzt angeblickt? Er stellte sich gleich die Frage: ob es nicht schimpflich, nicht eine Schande sei, da zu sitzen und dergleichen Reden anzuhören, ohne zu protestiren und durch sein Schweigen Anlaß zu der Voraussetzung zu geben, daß er diese Ansichten theile? Neshdanow blickte von Neuem zu Marianne auf und es schien ihm, daß er in ihren Augen die Antwort auf seine Frage zu lesen habe: »wart’ noch ein wenig, jetzt ist nicht die Zeit dazu . . . es lohnt nicht der Mühe . . . später; wirst es ja jederzeit thun können . . . «

Es war ihm angenehm zu denken, daß sie ihn verstehe. Er wandte sich wieder der Unterhaltung zu. . . Valentine Michailowna war jetzt statt ihres Mannes in dieselbe eingetreten und äußerte sich noch freisinniger, noch radikaler als dieser. Sie konnte es nicht begreifen, »positiv nicht be . . . grei . . . fen,« wie ein gebildeter und junger Mann an dieser veralteten Anschauung festhalten könne!

 

– Ich bin übrigens überzeugt, – fügte sie hinzu, – daß es bei Ihnen nur Schönrednerei ist! Was Sie jedoch betrifft, Alexei Dmitritsch, – wandte sie sich mit verbindlichem Lächeln auf den Lippen zu Neshdanow – er war ganz erstaunt darüber, daß sein Tauf- und Vatername ihr bekannt waren – so weiß ich, daß Sie die Befürchtungen von Ssemen Petrowitsch nicht theilen: Boris hat mir Ihre Unterhaltung mit ihm während der Reise mitgetheilt.

Neshdanow erröthete, beugte sich über den Teller und murmelte ein paar unverständliche Worte: es war weniger Befangenheit, als vielmehr das Ungewohnte, mit so glänzenden Personen Worte zu wechseln. Frau Ssipjagin lächelte ihm noch immer zu; ihr Gemahl hielt gönnerhaft ihre Partie. . . Dagegen klemmte Kallomeyzew gemächlich sein rundes Monocle zwischen Augenbraue und Nase, und heftete den Blick auf das Studentlein, das seine Befürchtungen nicht zu theilen gewagt. Doch dadurch Neshdanow in Verwirrung zu bringen, war schwer; es geschah im Gegentheil, daß dieser sich aufrichtend den Kopf emporhob und auch seinerseits den Blick scharf auf den Beamten der großen Welt richtete: – und eben so plötzlich, wie er in Marianne eine Gesinnungsgenossin erkannt, sah er jetzt in Kallomeyzew seinen Feind! Das fühlte auch Kallomeyzew; er ließ das Monocle fallen, wandte sich ab und versuchte zu lächeln . . .; nur Anna Sacharowna, welche ihn insgeheim tief verehrte, hatte sich in Gedanken auf seine Seite gestellt, so daß sie den ungebetenen Nachbar, der sie von Kolja getrennt, noch mehr zu hassen begann.

Das Diner ging bald zu Ende. Die ganze Gesellschaft begab sich auf die Terrasse, um dort den Kaffee einzunehmen; Ssipjagin und Kallomeyzew zündeten Cigarren an; Ssipjagin offerirte auch Neshdanow eine echte Regalia, dieser schlug sie jedoch aus.

– Ach ja! – rief Ssipjagin; – ich hatte es vergessen: – Sie tauchen nur die eigenen Cigaretten!

– Ein merkwürdiger Geschmack, – bemerkte Kallomeyzew durch die Zähne.

Neshdanow wurde feuerroth – »den Unterschied zwischen einer Regalia und einer Cigarette kenne ich sehr gut, aber ich will Niemandem verpflichtet sein« – wäre ihm fast entfahren . . . Er hielt jedoch an sich, aber zugleich schrieb er auch diese zweite Grobheit in das »Debet« des Feindes.

– Marianne! – rief Valentine Michailowna plötzlich mit lauter Stimme aus; – mach’ doch keine Umstände vor unserm neuen Hausgenossen gegenüber . . . rauche mit Gott Deine Pachitos. Dazu ist um so weniger Grund vorhanden – fügte sie, sich zu Neshdanow wendend, hinzu – da ja in Ihren Kreisen alle Damen, wie ich gehört habe, rauchen.

– Ganz recht, – antwortete Neshdanow trocken: – Das war das erste Wort, das er an Frau Ssipjagin richtete.

– Ich rauche aber gar nicht, – fuhr sie, die sammetnen Augen freundlich zusammendrückend, fort . . . – Ich bin hinter dem Jahrhundert zurückgeblieben.

Marianne nahm langsam und bedächtig, der Tante gleichsam zum Trotz, zuerst eine Pachitos, daraus das Kästchen mit den Zündhölzchen und begann dann zu rauchen. Neshdanow tauchte ebenfalls eine Papiros, indem er sich bei Marianne Feuer holte.

Es war ein prachtvoller Abend. Kolja und Anna Sacharowna begaben sich in den Garten; die Uebrigen blieben, die schöne Luft genießend, noch fast eine Stunde auf der Terrasse. Man unterhielt sich überaus lebhaft. . . Kallomeyzew griff die Literatur an; Ssipjagin bewahrte auch hier seinen Freisinn, vertheidigte ihre Unabhängigkeit, suchte ihre Nützlichkeit zu beweisen, erwähnte sogar Chateaubriand’s, indem er darauf hinwies, daß der Kaiser Alexander Pawlowitsch ihm den St. Andreas-Orden verliehen! Neshdanow blieb dem Streite fern und Valentine Michailowna sah ihn mit einem Ausdruck an, als ob sie seine bescheidene Zurückhaltung einerseits billige, andererseits aber – sich darüber ein wenig wundere.

Zum Thee gingen Alle wieder in’s Gastzimmer hinüber.

– Wir haben die schlechte Gewohnheit, Alexei Dmitritsch, – sagte Ssipjagin zu Neshdanow, – des Abends Karten zu spielen, und noch dazu ein verbotenes Spiel. . . stellen Sie sich vor, das Pharao. Ich fordere Sie nicht auf. . . Marianne wird übrigens so gut sein und uns etwas vorspielen. Ich hoffe, Sie lieben die Musik. Ja? Und ohne die Antwort abzuwarten, ergriff Ssipjagin die Karten. Marianne setzte sich an’s Klavier und spielte, weder gut, noch schlecht, einige »Lieder ohne Worte« von Mendelssohn – Charmant! Charmant! quel toaché! – schrie Kallomeyzew von weitem, wie mit heißem Wasser übergossen, auf; doch geschah dies nur aus Höflichkeit. Neshdanow besaß, ungeachtet der von Ssipjagin geäußerten Hoffnung, gar keine Liebe für Musik.

Unterdessen hatten sich Ssipjagin, seine Frau, Kallomeyzew und Anna Sacharowna an den Kartentisch gesetzt. . . . Kolja kam den Eltern gute Nacht zu wünschen und entfernte sich, nachdem er den Segen der Eltern und ein großes Glas Milch statt des Thees erhalten; der Vater rief ihm noch nach, daß der Unterricht bei Alexei Dmitritsch schon morgen beginnen werde. Als Ssipjagin nach Verlauf einiger Zeit bemerkte, daß Neshdanow allein in der Mitte des Zimmers saß und mit gespannten Mienen in einem photographischen Album blätterte, rief er ihm zu, daß er durchaus keine Umstände machen und in sein Zimmer gehen möge, da er doch wahrscheinlich von der Reise müde sein werde und daß in seinem Hause die Devise Freiheit herrsche.

Neshdanow machte von der Erlaubniß Gebrauch und verließ, nachdem er sich von Allen verabschiedet, das Zimmer; in der Thür stieß er auf Marianne und empfand von Neuem, indem er ihr in die Augen blickte, daß er mit ihr wie mit einem guten Freunde leben werde, obgleich sie bei dieser Begegnung ganz ernst geblieben war und sogar die Brauen gerunzelt hatte.

Er fand sein Zimmer von duftiger Frische erfüllt: die Fenster waren den ganzen Tag offen geblieben. Im Garten schlug, seinem Fenster gerade gegenüber, kurz und klangvoll die Nachtigall, der nächtliche Himmel leuchtete warm über den abgerundeten Wipfeln der Linden in dem Schein des eben aufsteigenden Mondes. Neshdanow zündete ein Licht an; ein Schwarm von kleinen grauen Nachtfaltern drang aus dem dunklen Garten in’s Zimmer und kreiste und schwirrte um das Licht, der Wind aber trieb sie immer von Neuem von der blau-gelben, flackernden Flamme fort.

»Es ist doch merkwürdig!« dachte Neshdanow, bereits im Bette . . . »Es sind doch, wie es scheint, gute, freisinnige, sogar humane Menschen . . . und doch ist das Herz so schwer. Kammerherr Kammerjunker . . . Nun, über Nacht kommt Rath . . . Fort mit der Sentimentalität.«

In diesem Augenblick schlug der Wächter im Garten laut und hartnäckig an das Brett – es ertönte sein gedehnter Ruf: »Acht—u—ung!«

– Paß a—auf! – antwortete eine andere allmählich verhallende Stimme.

– Herr, mein Gott! – als ob man in der Festung wäre!

Achtes Capitel

Neshdanow erwachte sehr früh, kleidete sich rasch an, ohne den Diener abzuwarten, und stieg in den Garten hinab. Der Garten war groß und schön und wurde vortrefflich unterhalten. Gemiethete Arbeiter reinigten mit Schaufeln die Wege, von dem hellen Grün der Gewächse hoben sich die rothen Kopftücher der harkenden Bauernmädchen ab. Neshdanow war bis an den Teich gekommen: der Morgennebel hatte sich bereits verzogen, nur hie und da erhoben sich in den schattigen Uferbuchten noch dunstige Flocken. Die noch niedrig am Himmel stehende Sonne warf rosige Streiflichter auf die breite, seidige, bleifarbene Wasserfläche. Mehrere Zimmerleute machten sich an einem Floß zu schaffen; hier schaukelte auch ein neues, bunt gestrichenes Boot und theilte seine Bewegung dem sich kräuselnden Wasser mit. Nur selten vernahm man gleichsam verhaltene menschliche Stimmen: überall fühlte man sich von der Morgenstille und von dem rüstigen, steten Gange der Morgenarbeit, von der Ruhe und der Regelmäßigkeit geordneten Lebens angeweht. Und da stand nun Neshdanow plötzlich am Kreuzungsweg der Alleen der personifizirten Ordnung und Regelmäßigkeit selbst gegenüber – da stand Ssipjagin vor ihm.

Er war in einem erbsfarbenen Rock in Form eines Schlafrockes, in einer bunten Mütze und stützte sich auf ein englisches Bambusrohr; sein eben rasirtes Gesicht athmete zufriedene Selbstgenügsamkeit; er hatte sich aufgemacht, sein Gut zu besichtigen Ssipjagin begrüßte Neshdanow in freundlich höflicher Weise.

– Ah! – rief er aus; – ich sehe, Sie gehören zu den Jungen und Frühzeitigen! Er wollte mit dieser nicht ganz passenden sprichwörtlichen Redensart wahrscheinlich seine Billigung ausdrücken, daß Neshdanow, wie er selbst, sich früh aus dem Bette gemacht. – Wir trinken um acht Uhr Alle zusammen im Eßzimmer den Morgenthee und frühstücken dann um zwölf Uhr; um zehn Uhr werden Sie Kolja die erste Stunde in der russischen Sprache geben, um zwei Uhr aber – in der Geschichte. Morgen am 9. Mai ist sein Namenstag und die Stunden werden ausfallen; heute aber bitte ich den Unterricht zu beginnen!

Neshdanow neigte den Kopf – Ssipjagin aber verabschiedete sich von ihm nach französischer Art, indem er die Hand erhob und dieselbe mehrere Mal rasch an Lippen und Nase führte – und ging dann pfeifend und das Rohr keck schwingend weiter – nicht wie ein hochangesehener Beamter oder Staatsmann – sondern wie ein gutmüthiger russischer country-gentleman.

Bis acht Uhr blieb Neshdanow im Garten, sich im Schatten der alten Bäume an der Frische der Luft und am Gesang der Vögel erfreuend; dann rief ihn der kläglich gedehnte Laut des Gong in’s Haus zurück, wo im Eßzimmer bereits Alle versammelt waren. Valentine Michailowna war gegen ihn sehr freundlich; in ihrem Morgenkleide erschien sie ihm geradezu als ein bildschönes Weib. Das Antlitz Mariannen’s drückte die gewöhnliche in sich gekehrte Strenge aus. – Genau um zehn Uhr gab Neshdanow seine erste Stunde im Beisein von Valentine Michailowna: sie erkundigte sich zuerst, ob sie nicht vielleicht störe und verhielt sich die ganze Zeit über sehr bescheiden und zurückhaltend. Es erwies sich, daß Kolja ein sehr aufgeweckter Knabe war; nach dem ersten unvermeidlichen und unbehaglichen Umhertasten nahm die Stunde einen glücklichen Verlauf. Valentine Michailowna schien mit Neshdanow überaus zufrieden und begann sogar mehrmals mit ihm zu sprechen. – Er blieb steif . . . doch nicht allzusehr. Valentine Michailowna war auch bei der zweiten, der russischen Geschichts-Stunde zugegen. Lächelnd erklärte sie, daß sie in dieser Beziehung nicht weniger eines Lehrers bedürfe, als ihr Kolja – und verhielt sich ebenso zurückhaltend und bescheiden wie während der ersten Stunde. Von drei bis fünf Uhr saß Neshdanow in seinem Zimmer, schrieb an die Freunde in St. Petersburg, und fühlte sich ziemlich behaglich: die Langeweile war verschwunden, auch das Unbehagen; die erregten Nerven kamen allmählich zur Ruhe. Sie wurden während des Mittags von Neuem in Spannung versetzt, obgleich Kallomeyzew abwesend war und auch die freundlich entgegenkommende Haltung des Hausherrn unveränderlich dieselbe blieb; aber dies Entgegenkommen eben ärgerte Neshdanow. – Dazu kam noch, daß seine Nachbarin, das alte Fräulein Anna Sacharowna, ihm offenbar feindselig gesinnt war und ein böses Gesicht machte; Marianne aber von ihrem Ernst nicht lassen wollte, und daß selbst Kolja ihn schon etwas ungenirt mit den Füßen stieß. Ssipjagin schien auch nicht recht bei Laune zu sein. Er war mit dem Leiter seiner Papierfabrik unzufrieden, einem Deutschen, den er für schweres Geld engagirt hatte. Er begann auf alle Deutschen überhaupt zu schmähen, erklärte, daß er bis zu einem gewissen Grade Slavophile sei, wenn auch kein Fanatiker, wies auf einen jungen Russen, einen gewissen Ssolomin hin, der, wie es hieß, der Fabrik eines benachbarten Kaufmanns in ausgezeichneter Weise vorstehen solle und äußerte den Wunsch, die Bekanntschaft dieses Ssolomin zu machen. Am Abend erschien Kallomeyzew, dessen Gut nur zehn Werst von »Arshanoje« – so hieß Ssipjagins Dorf – entfernt war. Dann erschien noch ein Friedens-Vermittler, einer von jenen Gutsbesitzern, die Lermontow in zwei bekannten Versen treffend charakterisirt hat:

 
Im Halstuch verborgen, im Frack ellenlang . .
Mit Schnauzbart, Diskantstimm’ und unsicherem Blick . . .
 

Es kam noch ein anderer Nachbar mit gedrücktem Ausdruck in dem zahnlosen Gesicht, der jedoch sehr gut gekleidet war; endlich auch der Kreisarzt, ein sehr schlechter Arzt, der aber mit gelehrten Ausdrücken um sich zu werfen liebte: er versicherte zum Beispiel, daß er Kukolnik – Puschkin vorziehe, weil in Kukolnik viel »Protoplasma« anhalten sei. Man setzte sich an den Kartentisch – Neshdanow begab sich auf sein Zimmer – und las und schrieb bis lange nach Mitternacht.

 

Am folgenden Tages, am 9. Mai, wurde Kolja’s Namenstag gefeiert. Die »Herrschaft« begab sich mit dem ganzen Hausstand in drei offenen Kaleschen mit Dienern hinten auf dem Tritt zur Messe in die Kirche, obgleich es nur ein viertel Werst bis dahin war. Alles ging höchst prächtig und feierlich zu. Ssipjagin hatte sich ein Ordensband umgelegt, Valentine Michailowna ein wunderschönes, in Paris verfertigtes Kleid von der Farbe blaß-blauer Syringen angezogen. Während der Messe las sie aus einem in karmoisin-rothen Sammet gebundenen Gebetbüchlein; durch dieses Büchlein lenkte sie den Unwillen der älteren Besucher der Kirche auf sich, so daß Einer unter denselben sich nicht enthalten konnte, seinen Nachbar zu fragen: »Was thut sie denn da, verzeih’ mir Gott die Sünde, hext sie, oder was?« – Der die Kirche erfüllende Blumenduft vermischte sich mit dem scharfen Geruch der neuen, geschwefelten Kittel, der getheerten Stiefel und Schuhe, und über allen diesen Dünsten schwebte noch der beklemmende Duft des Weihrauchs. Küster und Meßner sangen beide mit besonderem Eifer. Unter Beihilfe der Fabrikarbeiter, die sich zu ihnen gesellt, ließen sie es sich sogar entfallen, ein förmliches Concert zu geben! Es kam ein Augenblick, wo es allen Anwesenden . . . ganz bang zu Muthe wurde. Der Tenor, ein Fabrikarbeiter Namens Klim, der sich bereits im höchsten Stadium der Schwindsucht befand, begann plötzlich ganz allein, ohne jede Unterstützung, allerlei musikalische Figuren in Dur und Moll und auch in chromatischer Folge auszuführen – sie waren schrecklich, diese Töne – wenn ihm die Stimme versagt hätte, wäre es gleich mit dem ganzen Concert zu Ende gewesen. . . Aber die Sache lief doch noch . . . so ziemlich ab. Vater Cyprian, ein Priester von höchst würdevollem Aussehen, mit Nabédrennik3 und Kamiláwka,4 aus einem Heft eine sehr erbauliche Predigt ab; leider hatte der eifrige Geistliche es jedoch für nöthig gehalten, einige ganz wunderliche Namen assyrischer Könige anzuführen, deren Aussprache ihm große Schwierigkeiten bereitete und ihn – obgleich er dabei eine gewisse Gelehrsamkeit allerdings entwickelte – weidlich schwitzen machte! Neshdanow, der schon lange in keiner Kirche gewesen, hatte sich in eine Ecke zu den Weibern zurückgezogen. Diese schienen ihn, sich eifrig bekreuzend, tief verneigend und den Kleinen ehrbar die Nase abwischend, kaum zu beachten, dafür aber schauten die Bauermädchen in ihren neuen Kleidern, mit den Perlenschnüren um die Stirn und die Bauernknaben in ihren Hemden mit den verzierten Schulterstücken und rothen Achselzwickeln den neuen Kirchengänger um so neugieriger an – . . . Auch Neshdanow sah sie an – und allerlei Gedanken gingen ihm durch den Kopf-

Nach dem Gottesdienste, der sehr lange dauerte – der Gottesdienst am Tage des heiligen Nikolaus des Wunderthäters ist bekanntlich einer der längsten der orthodoxen Kirche – begab sich die ganze Geistlichkeit, von Ssipjagin aufgefordert, in das herrschaftliche Haus, worauf ihr nach einigen, dem Tage angemessenen Ceremonien und nach Besprengung der Zimmer mit heiligem Weihwasser, ein mit Allem im Ueberfluß versehenes Frühstück vorgesetzt wurde. Während desselben wurden die üblichen, wohlmeinenden und ehrbaren, aber ein wenig ermüdenden Reden gewechselt. Obgleich Ssipjagin und Frau niemals um diese Zeit zu frühstücken pflegten, so nahmen sie doch von Diesem und Jenem der Speisen und nippten auch ein wenig vom Wein, Ssipjagin gab sogar eine komische Anekdote zum Besten, die in Anbetracht seines rothen Bandes und seiner Würde einen höchst effectvollen Eindruck machte und in Vater Cyprian sogar ein aus Dankbarkeit und Staunen gemischtes Gefühl hervorrief. Um nicht zurückzubleiben – um zu zeigen, daß auch er bei Gelegenheit etwas Wissenswürdiges mittheilen könne – erzählte Vater Coprian seine Unterhaltung mit dem Erzbischof, als derselbe, seine Eparchie bereisend, alle Geistlichen in die Stadt in’s Kloster berief. – Er ist ein gestrenger, sehr gestrenger Herr, – versicherte Vater Cyprian; – zuerst erkundigte er sich nach der Gemeinde, nach den Zuständen . . . dann ging er zum Examen über. . . So wandte er sich auch an mich: Wann feierst Du dein Kirchweihfest? – Am Tage der Verklärung Christi, antwortete ich. – Kennst Du auch den Lobgesang dieses Tages? – Wie sollte ich ihn nicht kennen! – Laß hören! – Nun, ich fange also zu singen an; »Sintemal Du Christe, unser Heiland auf dem Berge verkläret bist. . . « Halt! Was bedeutet das Wort: Verklärung, und was versteht man darunter? – Ich sage also ganz einfach: Christus wollte seinen Jüngern von seiner Herrlichkeit Zeugniß geben! – Gut, sagte er; da hast Du ein kleines Heiligenbild zum Andenken. – Ich falle ihm zu Füßen: ich danke Dir, Oberhirt! . . . Und so ging ich, nicht mit leeren Magen, von dannen!

– Ich habe die Ehre Se. Eminenz persönlich zu kennen, – bemerkte Ssipjagin mit einer gewissen Wichtigkeit. – Ein höchst würdiger Seelenhirt!

– Höchst würdig! – bestätigte Vater Cyprian. – Er sollte nur den Pröbsten weniger trauen. . .

Valentine Michailowna that der Volksschule Erwähnung und wies dabei auf Marianne, als auf die zukünftige Lehrerin, hin; der Diakon – ihm war die Oberaufsicht über die Schule anvertraut – ein Mann von athletischer Körperbildung mit bang herabwallendem Haar, das entfernt an den schön gestrichenen Schweif eines Orlow’schen Renners erinnerte, wollte seine Billigung aussprechen, platzte aber, der Macht seiner Kehle uneingedenk, so laut heraus, daß er selbst zusammenfuhr und auch die Anderen erschreckte. – Bald darauf entfernten sich die Geistlichen.

Kolja war in seinem neuen Jäckchen mit den goldenen Knöpfen der Held des Tages; man machte ihm Geschenke, gratulirte ihm, küßte ihm die Hände sowohl an der vorderen als an der hinteren Hausthür: Fabrikarbeiter, Knechte, alte Frauen, Mädchen und Bauern; die Letzten drängten sich meist vor dem Hause in alter, noch von den Zeiten der Leibeigenschaft her gewohnter Weise, mit dumpfen Getöse um die mit warmem Gebäck und Branntweinflaschen besetzten Tische. – Und Kolja selbst, er schien so froh, so stolz zu sein, und dann wieder so schüchtern, so beschämt und er schmiegte sich bald an die Eltern, bald lief er hin und her. . . Beim Mittagessen ließ Ssipjagin Champagner bringen und hielt, bevor er auf die Gesundheit des Sohnes trank, eine Rede. Er sprach darüber, was es heiße: »dem Lande dienen,« – welches der Weg sei, von dem er wünsche, daß ihn Nikolai – so nannte er jetzt feierlich seinen Sohn – einschlagen möge, und was von ihm erstens: – die Familie, zweitens: – der Stand, die Gesellschaft, drittens: – das Volk, ja, meine Herren, das Volk! und viertens: – die Regierung zu erwarten berechtigt seien. Sich allmählich immer mehr steigernd, schwang sich Ssipjagin zur Höhe der Beredtsamkeit empor, wobei er die Hand, nach dem Vorgange Robert Peel’s, beständig nach hinten in die Rocktasche steckte; er gerieth endlich in Entzücken bei dem Worte »Wissenschaft« und schloß seine Rede mit dem lateinischen Ausruf: »Laboremus!« den er auch gleich in’s Russische übersetzte. Kolja machte mit dem Pokal in der Hand die Runde um den Tisch, dem Vater zu danken und sich mit Allen zu küssen.

Neshdanow’s und Mariannen’s Blicke begegneten sich während des Mittagessens zu wiederholten Malen. Sie schienen dasselbe zu empfinden. . . Sie sprachen jedoch nicht mit einander.

Neshdanow empfand, daß Alles, was er da zu sehen und zu hören bekam, eher komisch und unterhaltend, als zornerregend und widerwärtig war. Valentine Michailowna aber, die liebenswürdige Hausfrau, war in seinen Augen eine kluge Dame, die da wußte, daß sie Komödie spielte, sich zugleich darüber freute, daß noch ein anderer Mensch vorhanden war, – ebenso klug und verständig, – der ihr Benehmen begreifen konnte. Neshdanow merkte es selbst nicht, wie sehr es seiner Eitelkeit schmeichelte, daß sie so zuvorkommend freundlich gegen ihn war.

3Ein länglich-viereckiges, an der Hüfte herabhängendes Stück Goldstoff mit einem Kreuz in der Mitte.
4Eine emporstehende Kopfbebeckung von violettem Sammet für Weltgeistliche, von schwarzem – für Klostergeistliche.