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So entfernten sich denn die Herren Beamten, ohne etwas ausgerichtet zu haben, nachdem sie einen Wächter an die Leiche gesetzt und den Untersuchungsrichter zu schicken versprochen hatten.

Achtunddreißigstes Capitel

Zwei Tage nach diesem Ereigniß fuhr in den Hof des gefügigen Priesters Sossima ein Karren, auf welchem zwei uns bekannte Personen saßen, ein Herr und eine – Dame, welche am folgenden Tage von dem Priester getraut wurden. Bald darauf verschwanden sie – und der gute Sossima bereute nicht im Geringsten, was er gethan hatte. Auf der Fabrik, die Ssolomin verlassen, fand sich ein Brief vor, der an den Eigenthümer derselben adressiert war und ihm von Paul zugestellt wurde; er enthielt einen genauen und vollständigen Rechenschaftsbericht über den Stand der Geschäfte – er war glänzend – und die Bitte um Gewährung eines dreimonatlichen Urlaubes. Dieser Brief war zwei Tage vor Neshdanow’s Tode geschrieben worden, woraus ersichtlich war, daß Ssolomin es schon damals für nöthig gehalten, mit ihm und Marianne fortzureisen und eine Zeitlang in Verborgenheit zu leben. Die in Folge des Selbstmordes angeordnete Untersuchung verlief resultatlos. Die Leiche wurde in’s Grab gesenkt; Ssipjagin stand ab von allen weiteren Nachforschungen über den Aufenthaltsort seiner Nichte.

Neun Monate darauf wurde Markelow vor Gericht gestellt. Seine Haltung war auch hier ebenso ruhig, wie vor dem Gouverneur, nicht ohne Würde, doch ein wenig – niedergeschlagen. – Seine Rede klang weniger scharf als sonst, – aber es war nicht Kleinmuth, es war die Einwirkung eines anderen, edleren Gefühls. Er rechtfertigte sich nicht, bereute nichts, beschuldigte Niemand und nannte auch Niemand; sein hageres Antlitz mit den erloschenen Augen bewahrte nur den Ausdruck der Ergebenheit in sein Schicksal und den der Festigkeit; seine kurzen, doch offenen und wahrhaften Antworten aber weckten selbst in den Richtern ein gewisses Mitgefühl. Die Bauern sogar, die ihn ergriffen hatten und gegen ihn zeugten, empfanden dieselbe Theilnahme, und sprachen von ihm, als von einem »einfachen« und guten Herrn. Aber seine Schuld lag zu klar am Tage, er konnte der Strafe nicht entgehen – und empfing diese Strafe, wie es schien, als etwas Unvermeidliches, Nothwendiges. – Von den anderen, übrigens wenig zahlreichen, Mitschuldigen, hatte sich Maschurina der Verantwortung durch die Flucht entzogen. Ostrodumow war von einem Kleinbürger getödtet worden, den er zum Aufruhr verleiten wollte und der ihm »ungeschickt« einen Stoß versetzt hatte. Ueber Goluschkin, der vor Schreck und Gram fast den Verstand verloren hatte, wurde seiner »offenherzigen Reue« wegen eine unbedeutende Strafe verhängt; Kissljakow wurde ungefähr einen Monat in Arrest gehalten und daraus freigelassen, ja ihm nicht einmal verboten, nach Herzenslust wieder durch alle Gouvernements zu »sprengen;« Neshdanow hatte der Tod erlöst; Ssolomin wurde, wegen Mangel an Beweisen, zwar für verdächtig erklärt, sonst aber in Ruhe gelassen. (Er hatte sich übrigens der Verantwortung durchaus nicht entzogen und war zum Termin vor Gericht erschienen.) Von Marianne war gar nicht die Rede gewesen. . . Paklin gelang es, sich herauszuwinden; man hatte ihm auch keine besondere Aufmerksamkeit zugewandt.

* * *

Es waren anderthalb Jahre seitdem vergangen, der Winter des Jahres 1870 war herangekommen. In Petersburg, in welchem der Gheimrath und Kammerherr Ssipjagin eine große Rolle zu spielen sich vorbereitete, in welchem seine Gemahlin als Beschützerin aller Künste auftrat, musikalische Abendunterhaltungen veranstaltete und billige Volksküchen einrichtete, Herr Kallomeyzew aber in dem Rufe stand, einer der zuverlässigsten Beamten seines Ministeriums zu sein – in demselben Petersburg schritt in einer der Linien von Wassili-Ostrow ein kleines Männlein, in einem bescheidenen Paletot mit einem Katzenfellkragen, hinkend die Straße entlang. Es war Paklin. Er hatte sich in der letzten Zeit stark verändert: an den Rändern der unter der Fellmütze hervorragenden Schläfen zeigten sich einzelne silberne Fäden. – Von der anderen Seite kam ihm eine ziemlich volle, hochgewachsene, in einen dunklen Tuchmantel gehüllte Dame entgegen. – Paklin hatte sie mit zerstreuten Augen angeschaut, und war an ihr vorübergegangen . . . dann aber blieb er plötzlich nachdenklich stehen, streckte die Arme aus, wandte sich darauf lebhaft um, holte sie ein und blickte ihr unter den Hut gerade in’s Gesicht.

– Maschurina? – fragte er leise.

Die Dame maß ihn mit einem majestätischem Blick – und ging, ohne ein Wort zu sagen, weiter.

– Liebe Maschurina, ich habe Sie erkannt, – fuhr Paklin fort, neben ihr herhinkend, —aber fürchten Sie nichts. Ich werde Sie ja nicht verrathen – ich freue mich zu sehr, Sie zu sehen. – Ich bin es, Paklin, Ssila Paklin, wissen Sie, der Freund Neshdanow’s . . . Kommen Sie zu mir; ich wohne ein paar Schritte von hier . . . Ich bitte Sie sehr.

– Jo sono contessa Rocca di santo u . . . u . . . e ancora! – versetzte die Dame mit tiefer Stimme, aber mit auffallend reinem russischen Accent.

– Nun, was Contessa . . . was für eine Contessa . . . Kommen Sie, plaudern wir ein wenig . . .

– Wo wohnen Sie denn? – fragte die italienische Gräfin plötzlich auf Russisch – Ich habe keine Zeit.

–– Ich wohne hier in dieser Line, da ist mein Haus, dort – das graue, dreistöckige. – Wie gut Sie sind, daß Sie nicht mehr geheimnisvoll thun! Geben Sie mir Ihre Hand, kommen Sie. – Sind Sie schon lange hier?– Und warum sind Sie Gräfin? Haben Sie irgend einen italienischen Conte geheirathet!

Maschurina war gar nicht verheirathet; man hatte ihr einen auf den Namen einer unlängst verstorbenen Gräfin Rocco die Santo-Fiume lautenden Paß gegeben – und damit war sie nun ganz ruhig nach Rußland zurückgekehrt, ohne ein Wort italienisch zu verstehen – und trotz ihres echt russischen Typus.

Paklin führte sie in seine bescheidene Wohnung. Die bucklige Schwester, die bei ihm lebte, kam dem Gast aus der winzigen Küche entgegen, die von dem ebenfalls winzigen Vorzimmer durch einen Bretterverschlag getrennt war.

– Hier, Ssnapotschka, – sagte er, – stelle ich Dir eine gute Freundin von mir vor; gieb uns Thee.

Maschurina, die gewiß nicht mit ihm gegangen wäre, wenn er nicht Neshdanow’s Namen erwähnt hätte, nahm den Hut ab, verbeugte sich, indem sie mit der männlichen Hand über das, wie früher kurz beschnittene, Haar fuhr, und setzte sich schweigend. Sie schien sich gar nicht verändert zu haben; sie trug sogar noch immer dasselbe Kleid, wie vor zwei Jahren; – aus ihren Augen aber sprach eine gewisse unbewegliche Traurigkeit, die ihren sonst rauhen Zügen etwas Rührendes verlieh.

Snandulia lief die Theemaschine zu holen, Paklin aber setzte sich, Maschurina leichthin auf das Knie schlagend, ihr gegenüber und ließ den Kopf hängen; als er aber zu reden anfangen wollte, mußte er sich zuerst räuspern, die Stimme versagte ihm und Thränen traten ihm in die Augen. – Maschurina saß regungslos auf ihrem Stuhle, ohne sich anzulehnen – und blickte mürrisch zur Seite.

– Ja, ja, – begann Paklin, – es war eine verhängnißvolle Zeit! Ich sehe Sie an und denke – an Viele und Vieles . . . an Lebende und Todte. – Meine lnséparables sind auch gestorben – Sie kennen sie übrigens nicht, wie ich glaube, – und wie ich vorhergesagt, Beide an einem Tage. – Neshdanow der arme Neshdanow! . . . Sie wissen wahrscheinlich. . .

– Ja, ich weiß, – sagte Maschurina, noch immer in derselben Weise zur Seite blickend.

– Sie haben auch von Ostrodumow gehört?

Maschurina nickte blos mit dem Kopf. Sie wollte, daß er fortfuhre, von Neshdanow zu sprechen – konnte sich jedoch nicht entschließen, ihn darum zu bitten. Er hatte sie aber verstanden.

– Ich habe gehört, daß er in seinem letzten Briefe Ihrer erwähnt hat. – Ist das wahr?

Maschurina zögerte mit der Antwort.

– Es ist ist wahr, – sagte sie endlich.

– Er war ein prächtiger Mensch! Aber er war nur nicht im rechten Geleis! Er war eben so wenig ein Revolutionär, wie ich es bin! Wissen Sie, was er eigentlich war? – Der Romantiker des Realismus! Verstehen Sie mich?

Maschurina warf einen raschen Blick auf Paklin. Sie hatte ihn nicht verstanden – und gab sich auch keine Mühe, ihn zu verstehen. Es schien ihr unpassend und sonderbar, daß er sich Neshdanow gleichzustellen wage; sie dachte jedoch; »Mag er jetzt prahlen und sich rühmen!« (Obgleich er gar nicht prahlte, sondern sich, seinen Ansichten nach, eher tadelte.)

– Es hat mich hier ein gewisser Ssilin aufgesucht, – fuhr Paklin fort, – Neshdanow hatte ihm vor seinem Tode gleichfalls geschrieben. Dieser Ssilin also fragte mich: ob nicht irgend welche Papiere des Verstorbenen vorhanden seien, – Alexei’s Sachen wurden aber damals versiegelt . . . und es waren auch keine Papiere darunter; er hatte Alles verbrannt – auch seine Gedichte. – Sie wußten vielleicht gar nicht, daß er zu dichten pflegte! Mir thut es leid; ich bin überzeugt, daß einige dieser Gedichte nicht übel waren. – Alles ist nun mit ihm verschwunden – ist in den allgemeinen Strudel hineingezogen worden – und auf ewig verstummt! Nur in den Freunden lebt noch die Erinnerung – bis auch sie verschwinden!

Paklin machte eine kleine Pause.

– Dafür stehen aber die Ssipjagin’s, – begann er von Neuem, – erinnern Sie sich, diese herablassenden, wichtigen, widerwärtigen vornehmen Leute – dem Gipfel der Macht und des Ruhmes! – Maschurina erinnerte sich ihrer gar nicht; Paklin haßte sie aber Beide – namentlich ihn – so sehr, daß er sich das Vergnügen nicht Versuch konnte, sie ein wenig »vorzunehmen.« – Man sagt daß in ihrem Hause ein erhabener Ton herrschen soll! Es wird da immer von Tugend gesprochen!! Ich habe jedoch bemerkt, daß, wenn irgendwo zu viel von Tugend gesprochen wird, es eben so ist, wie wenn man das Zimmer eines Kranken mit Wohlgerüchen durchräuchert, in welchem vorher irgend etwas Schmutziges stattgefunden! Es ist das verdächtig! – Den armen Alexei haben sie zu Grunde gerichtet, diese Ssipjagin’s!

 

– Was macht Ssolomin? – fragte Maschurina – Es war ihr plötzlich das Verlangen vergangen, etwas von Diesem über Jenen zu hören!

– Ssolomin! – rief Paklin – Dem geht es vortrefflich! Hat sich ausgezeichnet herauszubeißen gewußt. Die frühere Fabrik hat er verlassen und die besten Leute mit sich genommen. – Da war ein Arbeiter ein geriebener Kopf, wie man sagt! Paul hieß er . . . den hat er auch zu sich genommen. Jetzt soll er eine eigene kleine Fabrik haben – da in Perm – auf genossenschaftlicher Grundlage. Der wird seine Sache schon zu Ende führen! Der wird sich schon durcharbeiten! Er hat einen feinen und dabei harten Schädel. Er ist – ein ganzer Mann! Namentlich aber tritt er nicht als plötzlicher Heilkünstler für gesellschaftliche Schäden auf. Denn was wir Rassen für ein Volk sind? Wir warten immer, ob nicht irgend Etwas oder irgend Jemand kommt und uns plötzlich gesund macht, alle unsere Schäden ausbessert und alle unsere Gebrechen herauszieht, wie einen kranken Zahn. Wer wird dieser Zauberer sein? Der Darwinismus? Das Dorf? Archip Perepentjew? Ein Krieg mit dem Auslande? – Alles, was Du willst, nur den Zahn heraus! – Das ist aber weiter nichts als Faulheit, Schwäche, Gedankenmangel! – Ssolomin aber ist nicht so; nein – er zieht keine Zähne aus – er ist ein ganzer Mann!

Maschurina machte eine Bewegung, als ob sie sagen wollte: »Dieser muß also gestrichen werden.«

– Nun, und jenes Mädchen, – fragte sie, – ich habe den Namen vergessen – welches damals mit ihm – mit Neshdanow entflohen ist?

– Marianne? Sie ist jetzt die Frau dieses selben Ssolomin. Sie sind schon über ein Jahr verheirathet. Anfangs war sie nur nominell seine Frau – jetzt soll sie es aber wirklich sein. Ja—a.

Maschurina machte wieder dieselbe Bewegung mit der Hand.

Einst war sie auf Marianne, Neshdanow’s wegen, eifersüchtig gewesen; jetzt zürnte sie ihr, weil sie seinem Gedächtniß hatte untreu werden können. – Ein Kind ist wohl auch schon da, – fügte sie mit spöttischer Verachtung hinzu.

– Vielleicht, ich weiß nicht. – Aber wohin eilen Sie denn, wohin? – rief Paklin, als er sah, daß sie nach ihrem Hut griff. – Warten Sie ein wenig; Ssnapotschka wird uns gleich Thee bringen.

Es war ihm weniger darum zu thun, Maschurina aufzuhalten, als die günstige Gelegenheit, die sich ihm bot, nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen und Alles, was in seinem Herzen gährte und kochte, Jemandem mitzutheilen. – Seitdem Paklin nach Petersburg zurückgekehrt, war er nur mit wenigen Menschen, namentlich mit wenigen jungen Leuten zusammengekommen. Die Geschichte mit Neshdanow hatte ihn ungeheuer erschreckt, er war sehr vorsichtig geworden und mied die Gesellschaft – auch die jungen Leute sahen ihn ihrerseits mit verdächtigen Blicken an. Einer hatte ihn sogar geradezu einen Denunzianten genannt. Mit alten Leuten verkehrte er selbst ungern; so kam es, daß er zuweilen ganze Wochen schweigen mußte. Gegen seine Schwester sprach er sich niemals aus; nicht etwa, weil er dachte, daß sie ihn nicht zu begreifen vermöge – o nein! Er hatte hohe Achtung vor ihrem gesunden Verstande . . . Aber er hätte mit ihr vollkommen ernst und wahrhaft sprechen müssen; sobald er aber seine »Trümpfe auszuspielen« begann oder »Brander aufsteigen« ließ, schaute sie ihn sofort mit so besonderen, aufmerksamen, mitleidigen Blicken an, daß er ganz verlegen wurde. Aber sagen Sie selbst, ist es denn möglich ohne einen kleinen Trumpf auszukommen? Wenn es auch eine Zwei ist – aber nur trumpfen! Daher begann auch das Leben in Petersburg ihn zu langweilen und er dachte schon daran, ob er nicht nach Moskau übersiedeln solle. – Verschiedene Kombinationen, Ideen, Einfälle, komische oder böse Worte hatten sich in ihm angesammelt, wie das Wasser vor einer geschlossenen Mühle. . . Die Schleusen konnten nicht aufgezogen werden: das Wasser stand und faulte. . . Da kam ihm Maschurina in den Weg. . . Er hob die Schleusen und sprach, und sprach . . .

Es kamen aber auch Petersburg, das Petersburger Leben, ganz Rußland schön bei ihm an! Niemand und Nichts fand vor seinen Augen Gnade. – Maschurina schien dies Alles nicht sonderlich zu interessiren; aber sie widersprach ihm nicht und unterbrach ihn auch nicht . . . und weiter verlangte er auch nichts.

– Ja – sagte er – ich kann Sie versichern, es ist eine lustige Zeit, in der wir leben! In der Gesellschaft herrscht vollkommener Stillstand; Alle vergehen vor höllischer Langeweile! In der Literatur – eine kolossale Leere! In der Kritik wenn ein moderner junger Rezensent sagen will, daß »die Hühner Eier zu legen pflegen,« – so braucht er, um diese große Wahrheit darzuthun, wohl zwanzig Seiten – und kommt auch damit kaum aus! Aufgeblasen sind diese Herren, glauben Sie es mir, wie Bettpfühle, wässerig, wie Kaltschale und reden mit Schaum vor dem Munde – in Gemeinplätzen! In der Wissenschaft . . . ha, ha, ha! Gelehrte wie Kant werden bei uns repräsentirt durch die gelehrte Kante an den Kragen der Ingenieure! In der Kunst dasselbe! Wollen Sie heute nicht vielleicht ein Konzert besuchen? Sie werden den nationalen Sänger Agremantsky hören . . . Singt mit großem Erfolge . . . Wenn aber ein Brassen mit Grütze – ein Brassen mit Grütze sage ich Ihnen, eine Stimme besäße, so würde er ebenso singen, wie dieses Herr! – Und jener Skoropichin, wissen Sie, unser ewiger Aristarch – der lobt ihn! Das ist, sehen Sie, etwas Anderes, als westeuropäische Kunst! Er lobt doch auch unsere armseligen Maler! – Früher, sagt er, war ich ja selbst ganz entzückt von Europa, von den Italienern; aber später hörte ich Rossini und dachte: – Eh! Eh! Futsch! – ich sah Raphael . . . Eh! eh! – Und dieses: Eh! eh! – genügt unseren jungen Leuten vollkommen, und Sie wiederholen mit Skoropichin: Eh! eh! und sind zufrieden, denken Sie sich! Aber zu derselben Zeit vergeht das Volk in Armuth und Elend, die Steuern haben es gänzlich zu Grunde gerichtet und es ist nur die eine Reform zu Stande gekommen, daß die Bauern jetzt Mützen tragen und die Weiber den alten Kopfputz abgelegt haben . . . Und der Hunger! Die Trunksucht! Die Bauernschinderei!

Hier gähnte Maschurina – und Paklin begriff, daß er zu einem anderen Thema übergehen müsse.

– Sie haben mir noch nicht gesagt – wandte er sich zu ihr – wo Sie während dieser zwei Jahre gewesen sind, wie lange Sie hier sind – was Sie gethan haben – wie und warum Sie eine Italienerin geworden sind, und weshalb. . .

– Das brauchen Sie gar nicht zu wissen – unterbrach ihn Maschurina – wozu das? Es geht Sie das Alles jetzt gar nichts mehr an.

Paklin war es, als ob man ihm plötzlich einen Stoß vor die Brust versetzt hätte – und er lachte, um seine Verwirrung zu verbergen, gezwungen auf.

– Nun, wie Sie wollen, – sagte er. – Ich weiß, – daß ich in den Augen der jetzigen Generation ein Mensch bin, der hinter seiner Zeit zurückgeblieben ist; ich kann mich ja auch freilich nicht mehr . . . in jenen Reihen . . . Er verstummte, ohne den Satz zu vollenden. – Da bringt uns Ssnapotschka den Thee. Trinken Sie ein Täßchen,, und hören Sie mir zu . . . Vielleicht finden Sie etwas in meinen Worten, was Sie interessiren wird.

Maschurina nahm eine Tasse, ein Stückchen Zucker und begann ihren Thee zu trinken, indem sie den Zucker dazu biß.

Paklin brach in überlautes Gelächter aus.

– Gut, daß die Polizei nicht hier ist, denn sonst – eine italienische Gräfin . . . wie wars doch gleich?

– Rocco di Santo-Fiume, – versetzte mit unerschütterlicher Ruhe Maschurina, indem sie die heiße Fluth einschlürfte.

– Rocco di Santo-Fiume! – wiederholte Paklin, – und trinkt den Thee, indem sie Zucker dazu beißt! Das ist denn doch sehr unwahrscheinlich! Die Polizei würde sofort Verdacht schöpfen.

– An der Grenze, – bemerkte Maschurina, – war auch in der That ein Herr in Uniform, der nicht von mir weichen wollte, allerlei Fragen an mich richtete; ich hielt es endlich nicht mehr aus und sagte: »So laß mich doch endlich in Ruhe, um Himmels Willen!«

– Haben Sie ihm das italienisch gesagt!

– Nein, russisch.

– Nun, und er?

– Er? Natürlich ging er fort.

– Bravo! – rief Paklin. – Vortrefflich, Contessa! Trinken Sie noch ein Täßchen! – Sehen Sie, was ich Ihnen sagen wollte: Sie haben sich in trockener Weise über Ssolomin geäußert. – Wissen Sie aber, was ich Ihnen darauf erwiedern werde? Solche, wie er – das sind eben die Echten. Man versteht sie nicht gleich, aber – glauben Sie mir – sie sind die Echten, und ihnen gehört die Zukunft. Das sind keine Helden; es sind nicht einmal jene »Helden der Arbeit,« über welche irgend ein Sonderling – ein Amerikaner oder Engländer – ein Buch geschrieben zur Belehrung und Nacheiferung für uns verkrüppelte Geschöpfe; das sind – starke, graue, einfarbige, nationale Menschen. Nur solcher bedarf man aber jetzt! – Sehen Sie sich diesen Ssolomin doch nur an: klug, wie der Tag, – und gesund, wie der Fisch im Wasser. . . Ist das nicht wunderbar! Wie ist es denn bisher bei uns in Rußland gewesen? Wenn Du ein lebendiger Mensch bist, mit Gefühlen, mit Verständniß – so bist Du ganz gewiß krank! Ssolomin’s Herz thut ihm vielleicht nicht weniger weh als uns – und er haßt und verachtet genau dasselbe, was wir hassen und verachten – aber seine Nerven schweigen – und sein ganzer Körper gehorcht ihm . . . folglich ist er – ein ganzer Mann! Ich bitte Sie: ein Mensch mit Idealen – und ohne Phrase, gebildet – und aus dem Volke, einfach – und vernünftig. . . Was wollen Sie denn noch?

– Und achten Sie nicht darauf, – fuhr Paklin fort, sich immer mehr erwärmend, ohne zu bemerken, daß Maschurina ihn schon längst nicht mehr anhörte und wieder starr zur Seite blickte, – achten Sie nicht darauf, daß jetzt bei uns in Russland allerlei Volk zu schauen ist: Slavophilen, Beamte, einfache und veredelte Generale, Epikuräer, Nachahmer und Sonderlinge – (kannte ich doch eine Frau, Namens Chawronja Prystschow, welche plötzlich eines schönen Tages zu einer Legitimistin wurde und Allen versicherte, daß man, sobald sie gestorben sei, nur ihren Körper zu öffnen brauche, um auf ihrem Herzen den Namen Heinrich V. zu finden . . . Bei der Chawronja Prystschow!) – Achten Sie nicht darauf, meine Verehrteste, und wissen Sie, daß der echte, wahre Weg dort ist, – wo die Ssolomin’s sind, die grauen, einfachen, schlauen Ssolomin’s! Denken Sie daran, wann ich Ihnen dieses sage – im Winter des Jahres 1870, wo Deutschland Frankreich zu vernichten im Begriff steht, – wo . . .

– Lieber Ssila – ertönte hinter Paklin’s Rücken leise die Stimme seiner Schwester. – Es scheint mir, daß Du in Deinen Raisonnements über die Zukunft unsere Religion und ihren Einfluß unbeachtet gelassen . . . » Und dann, – fügte sie hastig hinzu, – Fräulein Maschurina hört Dich ja gar nicht an. . . Du solltest ihr noch ein Täßchen Thee anbieten.

Paklin besann sich.

– Ach ja, meine Wertheste, – wollen Sie nicht vielleicht noch ein Täßchen?

Maschurina jedoch lenkte die dunklen Augen langsam auf Paklin und sagte nachdenklich.

Ich wollte Sie fragen, Paklin, ob Sie nicht vielleicht irgend ein Zettelchen von Neshdanow’s Hand besitzen – oder dessen Photographie!

– Ja, ich habe eine Photographie – und es ist ein ziemlich gutes Bild. – Es liegt im Tischkasten. Ich werde es gleich heraussuchen.

Er begann in der Lade zu kramen, Snandulia aber näherte sich Maschurina, sah sie lange und theilnahmvoll an, und drückte ihr, wie einer Leidensgenossin die Hand.

– Da ist sie! Ich habe sie gefunden! – rief Paklin und reichte ihr das Bild. Maschurina ergriff es hastig und steckte es – fast ohne es anzusehen, ohne zu danken, jedoch stark erröthend – in die Tasche, setzte den Hut auf und lenkte die Schritte zur Thür . . .

– Sie gehen? – fragte Paklin. – Sagen Sie mir doch wenigstens, wo Sie wohnen?

– Wo es sich trifft.

– Ich verstehe. Sie wollen nicht, daß ich es wisse. Nun gut. Sagen Sie mir aber bitte das Eine: agitiren Sie noch immer auf Befehl von Wassili Nikolajewitsch?

– Wozu brauchen Sie das zu wissen?

– Oder vielleicht auf Befehl eines Anderen, eines Ssidor Ssidorytsch?

Maschurina antwortete nicht.

– Oder verfügt jetzt irgend ein Namenloser über Sie?

Maschurina war bereits auf der Schwelle.

– Vielleicht ein Namenloser!

Sie warf die Thür zu.

Paklin stand lange regungslos vor der geschlossenen Thür.

– »Namenloses Rußland!« – sagte er endlich.

Druck der F. Priv. Hofbuchdruckerei in Rudolstadt