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Die letzte Nacht Traupmanns

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XI

Es fehlte eine Minute an Sieben – aber der Himmel war kaum hell und derselbe trübe Dampf füllte die ganze Luft und verbarg die Umrisse der Gegenstände. Das Gebrüll der Masse erfaßte uns wie eine ununterbrochene, unerträglich tosende Woge, sobald wir über die Schwelle getreten waren. Auf dem Steinpflaster des Hofes bewegte sich rasch, gerade aus das Thor zu, unser dünner gewordenes Häufchen; Einige von uns waren zurückgeblieben – ja, auch ich, obgleich ich zugleich mit den Anderen ging, hielt, mich etwas zur Seite. Traupmann bewegte trippelnd die Füße – die Bande hinderten ihn – und erschien mir so wie ein kleiner Junge, fast wie ein Kind! Plötzlich und langsam öffneten sich vor uns wie ein Rachen beide Thorflügel und zugleich, begleitet von einem ungeheuren Winseln der erstellten Menge, die bis dahin gewartet hatte, blickte das Ungeheuer der Guillotine mit seinen beiden schwarzen Pfählen und dem aufgezogenen Beile auf uns. Es wurde mir plötzlich kalt, kalt bis zum Uebelsein, es schien mir, als ob die Kälte durch das Thor zu uns auf den Hof dränge; – ich fühlte meine Beine nicht mehr. Gleichwohl sah ich noch einmal auf Traupmann. Er war plötzlich zurückgewichen, der Kopf fiel zurück, die Kniee beugten sich, gerade wie wenn ihm Jemand einen Stoß vor die Brust gegeben hätte. »Er wird in

Ohnmacht fallen,« flüsterte eine Stimme neben mir. Aber er richtete sich sogleich auf und ging mit festem Schritt vorwärts. Neben ihm liefen Diejenigen von uns auf die Straße, welche sehen wollten, wie der Kopf fällt . . . Mir fehlte es dazu an Lust und Kraft und mit stockendem Herzen blieb ich an dem Thor . . .

Ich sah, wie der Henker plötzlich gleich einem schwarzen Schein auf der linken Seite des Plateaus der Guillotine auftauchte; ich sah, wie Traupmann sich von dem Haufen Leute trennte, die unten zurückblieben, und die Stufen hinanstieg (es waren deren zehn, volle zehn Stufen!), ich sah, wie er anhielt und sich umwandte, ich hörte, wie er sagte: »Dites áá M. C***«)2 ich sah, wie er oben erschien, wie von rechts und links zwei Männer sich auf ihn stürzten, wie Spinnen auf eine Fliege, wie er plötzlich mit dem Kopf nach vorwärts flog und seine Fußsohlen in die Höhe schlugen . . .

Aber jetzt wendete ich mich ab – ich begann zu warten – und die Erde wich leise unter meinen Füßen. Ich sagte mir, daß ich schon furchtbar lange gewartet habe.)3 Ich hatte Zeit genug gehabt, zu bemerken, daß bei dem Erscheinen Traupmann’s der Menschenlärm zerronnen war und eine lautlose Stille eintrat; – vor mir stand eine Schildwache, ein junger, rothbackiger Mensch . . . ich hatte Zeit, zu bemerken, daß er stumpfsinnig und in Schrecken auf mich sah. Ich hatte Zeit daran zu denken, daß jener Soldat vielleicht aus einem stillen Dörfchen, einer friedlichen und guten Familie herstammt – und was muß er jetzt sehen! Endlich ertönte ein leichtes Geräusch, wie von Holz gegen Holz – es fiel die obere Hälfte des Halsbrettes, welches einen langen Schlitz hat, um die Schneide hindurch zu lassen, und welches den Hals des Delinquenten umfaßt und seinen Kopf unbeweglich hält . . . Dann knurrte Etwas dumpf und fiel – und schlug auf . . . Gerade wie wenn ein gewaltiges Thier sich geräuspert hätte.

Sich räuspert. Ich kann keinen andern, treffendern Vergleich finden.

Alles wurde dunkel. Jemand ergriff mich beim Arm . . . Ich sah auf: es war des Herrn C***’s Gehilfe, Herr J . . ., dem Herr Ducamp, mein Freund, wie ich später erfuhr, aufgetragen hatte, auf mich Acht zu geben.

»Sie sind sehr blaß. Wünschen Sie Wasser?« sagte er lächelnd.

Aber ich dankte – und ging auf den Gefängnißhof zurück, der mir wie ein Asyl gegen den Schrecken vor dem Thor erschien.

XII

Unsere Gesellschaft versammelte sich in der Wache am Thor, um von dem Commandanten Abschied zu nehmen und die Menge sich etwas verlaufen zu lassen. Auch ich begab mich dorthin und erfuhr, daß Traupmann, als er schon auf dem Brette lag, plötzlich den Kopf krampfhaft zur Seite geworfen hatte – so daß er nicht in dem halbrunden Ausschnitt lag, und daß die Scharfrichter ihn bei den Haaren dorthin hatten ziehen müssen, wobei er einen von ihnen – dem Chef – in den Finger biß; daß sogleich nach der Execution, als der in den Wagen geworfene Leichnam in Marsch-Marsch fortgefahren wurde, zwei Männer die ersten Augenblicke der unvermeidlichen Verwirrung benutzten, durch die militärischen Ketten brachen und an den Fuß der Guillotine stürzend, ihre Tücher in das Blut tauchten, das durch die Ritzen der Bretter rieselte . . .

Aber ich hörte alle diese Gespräche wie im Traume, ich fühlte mich sehr müde: aber ich nicht allein. Alle erschienen müde, obgleich Alle sichtlich erleichtert waren, wie wenn ihnen eine Last von den Schultern genommen wäre. Aber Keiner von uns, entschieden Keiner sah aus, wie ein Mensch, der sich bewußt ist, dem Vollzuge eines Aktes der gesellschaftlichen Gerechtigkeit beigewohnt zu haben; Jeder versuchte im Geiste sich abzuwenden und gewissermaßen die Verantwortung für einen Mord von sich abzuwälzen.

Ducamp und wir empfahlen uns dem Commandanten und begaben uns nach Hause. Der ganze Strom menschlicher Wesen, Männer, Weiber, Kinder – trug seine häßlichen und schmutzigen Wogen an uns Vorüber. Beinahe Alle schwiegen. Nur einzelne Weiber riefen sich gegenseitig zu: »Wohin gehst Du? . . . und Du?« . . . und Straßenjungen begrüßten vorüberfahrende Carossen mit Pfeifen, – und was für vertrunkene, finstere, verschlafene Gesichter! Welche Ausprägungen der Langeweile, der Ermüdung, der Unbefriedigung, des Mißbehagens, eines matten, gegenstandslosen Mißbehagens! Betrunkene bemerkte ich übrigens wenig, sei es, daß man sie schon glücklich fortgeschafft hatte, sei es, daß sie sich selbe beruhigt hatten. Das Werktagsleben nahm alle diese Leute wieder in seinen Schooß – und weshalb, um welche Empfindungen waren sie für einige Stunden aus seinen Gleisen herausgetreten? Es ist furchtbar, darüber nachzudenken, was dort nistet.

Zweihundert Schritte von dem Gefängniß fanden wir einen leeren Fiaker, bestiegen ihn und fuhren ab.

Während der Fahrt sprachen wir mit Ducamp über Das, was wir gesehen hatten und worüber er nicht lange vorher (in dem schon erwähnten Januarheft der »Revue des deux mondes« so gewichtige und verständige Worte gesprochen hatte. Wir sprachen über die unnütze, über die sinnlose Barbarei einer ganz mittelalterlichen Procedur, Dank welcher der Todeskampf des Delinquenten reichlich eine halbe Stunde dauert (von achtundzwanzig Minuten nach sechs bis sieben Uhr), über die Abscheulichkeit eines An- und Ausziehens, dieses Haarschneidens, dieser

Wanderungen über Stiegen und durch Corridore . . . Auf Grund welchen Rechtes geschieht das Alles? Wie kann man solche entsetzliche Routine zulassen? Und die Todesstrafe selbst? Läßt sie sich rechtfertigen? Wir haben gesehen, welchen Eindruck ein solches Schauspiel auf das Volk macht; etwa einen irgend belehrenden – durchaus nicht.

Kaum der tausendste Theil der zusammengeströmten Masse – nicht mehr als fünfzig oder sechzig Menschen – konnte im Halbdunkel des Wintermorgens, aus einer Entfernung von anderthalbhundert Schritt, zwischen den Reihen der Soldaten und den Kruppen der Pferde – auch nur das Geringste sehen! Und die Uebrigen? Welchen noch so kleinen Nutzen konnten sie aus dieser trunkenem schlaflosen, müßigem liederlichen Nacht ziehen? Ich erinnerte mich jenes jungen Arbeiters, der sinnlos schrie und dessen Gesicht ich einige Minuten beobachtete. Wird er heute an die Arbeit gehen als ein Mensch, der mehr als früher das Laster und den Müßiggang haßt? Und ich endlich? Was habe ich mit hinweggenommen? Das Gefühl unfreiwilliger Bewunderung für den Mörder, – dieses moralische Ungeheuer, welches seine Verachtung des Todes zu zeigen verstand!

Kann der Gesetzgeber solche Eindrücke wünschen? Von welchem moralischen Zwecke kann man noch reden, nach so vielen durch die Erfahrung bestätigten Wirkungen?

Aber ich will mich in kein Raisonnement einlassen: es würde mich zu weit führen. Und wem wäre es nicht bekannt, daß die Frage der Todesstrafe eine der vordersten, unaufschiebbaren Fragen ist, an deren Lösung die heutige Menschheit arbeitet? Ich bin zufrieden und werde vor mir selbst meine unangebrachte Neugierde entschuldigen – wenn meine Erzählung auch nur einige Argumente für Diejenigen geliefert hat, welche die Todesstrafe – oder wenigstens ihre Oeffentlichkeit – abschaffen wollen.

Weimar 1870.

Iwan Turgeniew.
2Ich hörte nicht das Ende der Phrase. Seine Worte waren: »Dites á M. C***, que je persiste; d. h. sagen Sie, daß ich dabei bleibe, Mitschuldige gehabt zu haben. Traupmann wollte sich diese letzte Freude, diese letzte Genugthuung nicht versagen, den Stachel des Zweifels und des Vorwurfs in den Häuptern seiner Richter und des Publikums zu lassen.
3In Wirklichkeit verflossen von dem Augenblick, wo Traupmann seinen Fuß auf die erste Stufe der Guillotine setzte, bis zu dem, wo man seinen Leichnam in den bereit gehaltenen Korb warf, zwanzig Secunden.