Stell' dich nicht so an! Leben mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS

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Und wieder: grippaler Infekt

Der Nacht und dem Tag aus dem Jahr, in dem meine Krankheit die Oberhand gewann, gingen etwa sieben Jahre voraus, in denen sich mein Befinden schleichend, aber kontinuierlich verschlechterte. Jahre, in denen ich mich mal dies und mal jenes 'Zipperlein' plagte und in denen niemand wusste, dass sie Ausdruck ein und derselben Krankheit sind, womöglich sogar die Krankheitsverursacher. Dies ist ungefähr der Zeitrahmen, in den sich die folgenden Erfahrungen mit Symptomen der ME/CFS einsortieren lassen.

Die Lage spitzt sich zu

Die Schmerzerfahrung kann ungeahnte Widerstandskräfte, aber auch unerwartete Schwächen freilegen“ (Le Breton 2003, 7).

Meine Lage spitzt sich 2017 zu. Ich habe definitiv kaum noch Lebensqualität. Meine linke Schulter schmerzt Tag und Nacht. Beide Arme sind sehr kraftlos. Etwas Schweres zu heben ist mir nur mit großer Anstrengung möglich. Ich kann den versagenden linken Arm auch bei der Arbeit nicht mehr 'tarnen'. Ich gehe mit ihm zum Orthopäden, der aber außer „ein wenig Entzündung“ nichts weiter entdecken kann. Ein Impingement-Syndrom diagnostiziert er. Verschleiß. Mit Anfang fünfzig darf 'frau' ruhig verschleißen.

Ich entnehme den Äußerungen des Arztes die mir nur allzu wohlbekannte Weisung: stellen Sie sich nicht so an, Verschleiß gehört dazu, das ist 'normal', das haben Sie nicht allein, also reißen Sie sich zusammen.

Jawoll, mon général! Ich versuche, mich zusammenzureißen!

Ich kann aber beim besten Willen kaum noch Kinder hochheben, Seilchen drehen, beim Sporteln Hilfestellung leisten, Kinder an- und umziehen (jedenfalls nicht mehrere hintereinander), anschaukeln, und, und, und... Das Lenkrad im Auto zu halten fällt mir nach zehn Minuten schwer. Auf dem Fahrrad behelfe ich mir mit Armübungen und wechselnder Sitzhaltung, beim Busfahren kann ich höchstens ein wenig den Unterarm auf- und abbewegen ohne übel aufzufallen, beim Gehen darf mein Arm nicht zu lange am Körper herunterhängen. Er wird sonst schwer wie Blei. Also: Hand in die Tasche, Hand auf den Rücken, Hand und Arm herunterhängen lassen, den Arm ein wenig hin- und herbeugen und wieder von vorne. Jede veränderte Haltung schafft für einen Moment Erleichterung.

Das Taschenschleppen beim Einkaufen wird zum Herkulesakt. Um mich selber anzuziehen, muss ich neue Strategien entwickeln; ich muss nun umlernen, zum Beispiel zuerst mit dem linken Arm in den Ärmel, oder den BH vorne schließen und dann nach hinten drehen.

Ich lasse mich nicht unterkriegen.

Ich spiele dem Schmerz zum Trotz mit den Kindern, ich fahre Auto, Bus und Rad, ich schleppe Einkäufe und vieles mehr.

Der Hausarzt und der Orthopäde verschreiben mir nacheinander Physiotherapie. Einige der Übungen für den Arm behalte ich bei. Ich mache morgens und abends Schulterübungen. Im Großen und Ganzen bringt mir die Physio aber gar nichts, sie ist vielmehr ein Sonderprogramm, das mich zusätzlich belastet, zumal es nachmittags stattfindet. Ich liege jedesmal vollkommen erledigt auf der Massageliege und das Wasser steht mir in den Augen: ich könnte heulen vor Müdigkeit, Schmerzen und dem Bedürfnis nach Ruhe.

Ich schlafe kaum noch eine Nacht durch. Meistens werde ich mindestens einmal wach wegen des Schmerzes in der linken Schulter. Und es vergeht kaum ein Tag mehr, an dem ich mich nicht nach der Arbeit hinlegen muss. Ich schlafe erschöpft ein bis zwei Stunden lang und wache wie gerädert auf.

Ob morgens nach der Nachtruhe, ob nachmittags nach dem 'Mittagsschlaf' – ich habe nie das Gefühl, im Schlaf Ruhe gefunden und entspannt zu haben.

Mal wieder: ein Virusinfekt

Wissenschaftler mutmaßen, dass das Chronische Erschöpfungssyndrom nicht nur durch eine Infektion oder einen Krankheitserreger bzw. - zustand allein ausgelöst wird, sondern durch eine Vielzahl an unterschiedlichen Erkrankungen oder Krankheitszuständen“ (Pertl/Stürzlinger 2012, 5).

Im selben Jahr sitze ich gut alle drei Monate im Wartezimmer meines Hausarztes. Ich huste mir die Seele aus dem Leib, habe Gliederschmerzen, leichtes Kopfweh, niemals Fieber, aber immer etwas erhöhte Temperatur und fühle mich 'zum Kotzen' - wie man sich halt so fühlt, wenn sich eine schwere Erkältung ankündigt.

Schon im Jahr zuvor hatte ich mehrfach Erkältungen durchzustehen, die mich zudem immer länger außer Gefecht setzten. Bis dahin war ich bei einem grippalen Infekt kaum länger als drei Tage krank und fehlte selten einmal deswegen bei der Arbeit; ich kurierte mich mit Hühnersuppe, Salbeitee und Wärme über Nacht.

Seit 2017 geht das nicht mehr. Ich muss mich mindestens zwei, drei Tage, manchmal eine ganze Woche krank melden, weil mir viel zu elend ist. Diese Fehlzeiten sind mir peinlich. Glücklicherweise fallen sie oft in meinen Jahresurlaub.

Doch nun will die Serie an Atemwegsinfektionen, die mich befallen, gar nicht mehr abreißen. Von der Diagnose „Virusinfekt“ rückt mein Hausarzt nun ab und identifiziert eine „Bronchitis“. Bei jedem Infekt sind die Bronchien in Mitleidenschaft gezogen. Zwei Wochen lang dauert eine Bronchitis-Attacke nun an und das etwa drei Mal jährlich. Wenn ich nicht das 'Glück' habe, die Bronchitis im Urlaub auskurieren zu können, fehle ich ca. dreißig Tage pro Jahr; eine wirtschaftlich relevante Zahl.

Warum mich der Virusinfekt denn schon wieder träfe, frage ich einmal etwas entnervt meinen Hausarzt. „Sie haben halt überempfindliche Bronchien, das gibt's“, erwidert er.

„Naja – jeder hat ja seine Schwachstelle am Leib, sagt man doch“, meine ich.

„Und Ihre Achillesferse sind...“

„... meine Bronchien“.

„Leider.“

„Aber es gibt Schlimmeres auf der Welt“, seufze ich: „Damit muss ich wohl leben.“

„Und dagegen gibt es Medikamente. Ich schreibe Ihnen ein Rezept. Sie kennen das ja schon. Ausruhen, inhalieren, Wärme und wenn es nicht besser wird, kommen Sie nächste Woche noch einmal vorbei.“

„Alles klar. Vielen Dank“, verabschiede ich mich aus diesem beinahe schon ritualisierten Gesprächsablauf und hätte fast noch ein „bis Montag“ angehängt. Oft habe ich Glück und bin dann wieder halbwegs auf dem Damm. Ebenso oft habe ich Pech und mein Körper kommt einfach nicht wieder hoch.

Raupen, Pollen, Katzenhaare

Mit dem Auto geht’s nicht, Busfahren schaffe ich nicht, also gondele ich daher wieder einmal mit dem Rad zur Arbeit.

Komisch – was juckt denn da am Halsansatz? Kleine Quaddeln und Rötungen.

Ich habe sicher eine Sonnenallergie, denke ich. Die Arme und das Gesicht habe ich an diesem herrlichen Sommertag eingecremt, aber die Stelle zwischen Hals und Ausschnitt vergessen. Natürlich knallt beim Radeln die ganze Zeit die Sonne darauf.

Ich kühle die Stelle mit Quark. Abends creme ich mich sorgfältiger ein.

Die Quaddeln bleiben.

Sehr appetitlich, denke ich: mit zunehmendem Alter wird der Mensch immer ekliger.

Der Ausschlag verfolgt mich bis weit in den Herbst hinein mit fleckiger Haut und Juckreiz.

Im folgenden Frühjahr bilden sich die Ekzeme erneut. Und auch im übernächsten habe ich damit zu kämpfen, doch jetzt habe ich diese juckenden Pusteln auch an den Armen und Beinen und komme endlich hinter ihr Geheimnis: nicht die Sonne ist der Urheber des Ausschlags, sondern die Raupe des Eichenprozessionsspinners, unter der viele Menschen alljährlich zu leiden haben. Ich reagiere besonders allergisch auf das Toxin der Raupenhaare.

Ich habe immer schon mit Allergien zu kämpfen gehabt, aber das hier ist extrem. Ich besorge mir Cortison-Salbe. Dennoch werden aus vielen der Bläschen bleibende Narben auf meiner Haut. Ewig werde ich sie mit mir herumtragen. Ich freue mich schon auf die kommenden Sommer mit den niedlichen Räupchen!

Mein ganzes Leben lang setzten mir Allergien zu, aber als ich Kind und Jugendliche war, in den Sechzigern, Siebzigern des vorigen Jahrhunderts, wurden Allergien nicht ganz ernst genommen. Die Zeit von Frühjahr bis Spätsommer, von der Haselblüte bis zur Heuernte ist für mich seit jeher mit den unangenehmen Begleiterscheinungen der Allergie verbunden: Husten, Schnupfen, tränende, juckende Augen, Ausschlag.

Vor einigen Jahren fragte mich mein HNO bei einer Routineuntersuchung: „Sie sind starke Allergikerin, nicht wahr?“

„Wieso?“

„Ihre Nasenschleimhaut ist völlig zerstört.“

Das wundert mich nicht eine Sekunde. Heute ist deshalb auch mein Geruchssinn stark beeinträchtigt. Allerdings gereicht mir das in meinem Beruf sogar zum Vorteil: nämlich beim Windelwechseln und bei Magen-Darm-Wellen.

Früher gab es nur drei Mittel gegen Allergien für mich: Taschentücher, feuchte Lappen auf die Augen, aushalten. Erst als Erwachsene nahm ich Antiallergika.

.Mein Körper überreagiert auf vermeintliche Angriffe von außen. Er ist äußerst wehrhaft. Mein Immunsystem scheint ein kleiner Choleriker zu sein; sofort überschießen, sofort aggressiv reagieren!

Als Kind nahm ich eine Zeit lang Reitunterricht. Nach manchen Stunden wussten meine Mutter und ich uns keinen anderen Rat, als dass ich mich in eine Wanne kalten Wassers setzte. Die Innenseiten der Beine und die Fingerzwischenräume waren brennend rot und juckten entsetzlich.

Nach einem halben Jahr hatte mir die Allergie den Spaß am Reiten gründlich verdorben. Nicht das erste und nicht das letzte Mal in meinem Leben, dass ich auf etwas Freudevolles, Vergnügliches schmerzlich verzichten musste.

 

Die Allergien liegen in der Familie. Mein drittes Kind zum Beispiel ist hochgradige Allergikerin; mehrere Verwandte leiden unter Neurodermitis.

Inzwischen weiß ich genau, was mein Immunsystem in hysterischer Weise hasst: Insektengifte, Gräser-, Birken-, Pappeln-, Haselpollen, Kiwis, Erdbeeren, Katzen- und Pferdehaare und noch einiges mehr.

Das Übelste ist, wenn die Allergien und die Bronchitis zusammenfallen. Im Sommer 2019 ist das zum ersten Mal der Fall. Ich bin, sage und schreibe, drei Wochen richtig krank und falle komplett aus. Mein Körper – das spüre ich – will einfach nicht mehr hochkommen. Er hat sich müde gekämpft. Und kämpft immer weiter, denn mein Immunsystem, ist anscheinend irrsinnig geworden. Mein Körper will ausruhen, sehnt sich nach Entspannung, dennoch ist alles tief in ihm, in mir, bis zum Reißen angespannt.

Auf dem Klo

Ich habe dort viele schöne Minuten verbracht, zum Beispiel damals als Kind und Jugendliche, wenn ich in dem marmorierten Muster der Bade-zimmerbodenfliesen im Haus meiner Eltern Gesichter, Gestalten, Bäume und mehr entdecken konnte, während langwieriger Sitzungen. Wenn ich Bauchweh hatte – und das hatte ich als junger Mensch öfters mal – war es vor allem ein Fliesenmuster, das für mich wie ein schreitender Löwe aussah, das mir half, den Stuhlgang zu überstehen. Ich musst mich nur auf den 'Löwen' konzentrieren, dann sprach er in der Fantasie zu mir: „Bleibe ruhig, Iva, gleich ist es vorbei. Dann putzt du dir den Popo ab und kannst weiter spielen gehen.“

Später lenkte ich meine Fantasie anders. Mit Hilfe von Lesen und Zeichnen, Ja, ich gestehe, ich bin ein Toilettenleser! Ich gehe immer mit Lesestoff aufs Klo, oder mit Stift und Papier, und wenn das alles nicht zur Hand ist, lese ich die Etiketten von Shampooflaschen und ähnlichem; das hilft, vom Stuhlgang abzulenken und macht mit Fremdsprachen vertraut.

Natürlich war meine Mutter öfters wegen der Bauchschmerzen mit mir beim Arzt. Zuerst wurden sie als 'Wachstumsschmerzen', dann als 'Blinddarmreizungen' erklärt. Dass genauer über meine Darmentleerungen gesprochen wurde, daran kann ich mich nicht erinnern. Kinder haben halt oft Bauchweh, das kann bei ihnen vieles sein.

Erst jetzt, in diesen Wochen nach meiner Diagnose, komme ich darauf, dass mein Stuhlgang alles andere als normal ist. Ich bin mehr als ein halbes Jahrhundert alt und lerne erst in dieser Zeit, dass ein Krankheitsbild hinter meinem Verhalten steckt!

Früher sprach man einfach nicht über 'Aa' und Co. Ich habe bisher auch mit keinem Arzt, keiner Ärztin über meinen Stuhlgang geredet, sondern auf diesbezügliche Fragen hin in aller Unschuld gelogen: „Da ist alles in Ordnung – ganz normal!“

Aber nichts ist normal, wenn man mindestens viermal täglich 'groß' auf die Toilette muss.

Es ist nicht normal, nach jeder Nahrungsaufnahme den Drang zu haben, den Darm entleeren zu müssen. Der erste Gang nach dem Aufwachen (und wenn es der steife, schmerzende Körper zulässt) ist auf die Toilette: Stuhlgang. Nach dem Frühstück: Stuhlgang. Nach dem Mittagessen: Stuhlgang. Vor dem Schlafengehen: Stuhlgang. Nach längeren Bewegungseinheiten: Stuhlgang.

„Oben rein, unten raus“, haben ich, meine Eltern, meine Familie das lachend wahrgenommen. Als eine ulkige Eigenheit, Iva als eine Art Kloheldin.

Trotz der vielen täglichen Stuhlgänge habe ich selten das Gefühl, alles wäre raus. Als würde mein Darm ständig etwas zu verarbeiten haben. Dabei esse ich keine Unmengen (doch, an manchen Feiertagen wohl! Käsekuchen!) und meiner Meinung nach ausgewogen. Ich habe Schwarzbrot lieber als Weißbrot, Äpfel lieber als Schokopudding und mag keine Fertiggerichte. Ich denke, dass ich mich alles in allem gesund ernähre (mit Ausnahme der zwei Tassen Kaffee täglich, von denen ich aber nicht lassen werde) – und dennoch ist meine Ausscheidung gestört. Entschuldigung, wenn ich deutlich werde: meistens ist mein Stuhl sehr weich, oft breiig, an der Grenze zum Durchfall.

Seit etwa vier, fünf Jahren kommen starke Blähungen hinzu. Morgens und abends spielt auf meiner Toilette nicht nur Flötenmusik, sondern blasen die Trompeten von Jericho, als wollten sie unsere Hausmauern niederreißen. Mein Leib ist ständig aufgebläht.

Abgenommen habe ich trotz meiner Toilettengänge nicht. Jammerschade.

Soweit zum Reizdarm-Syndrom, das die ME/CFS begleiten kann.

Den Engel machen – die Sprüche der Orthopäden

Schon bevor sich meine ME/CFS zuspitzt, macht sie sich auf verschiedenste Weise stärker bemerkbar.

Eines schönen Tages, von hier auf jetzt, schmerzt mein linkes Knie in unglaublicher Weise. Der erste Gedanke ist, dass ich es mir irgendwie verrenkt haben muss. Doch wo und wann sollte das geschehen sein? Vielleicht eine unglückliche Drehung im Schlaf? Jedenfalls führt mich mein Weg zum Orthopäden. Logisch. Der untersucht das Knie sehr gründlich und mit allen Mitteln. Schließlich lehnt er sich in seinem Stuhl zurück. „Ich kann nichts an dem Knie feststellen, nichts gerissen, nichts kaputt, alles in bester Ordnung.“

„Ja, nur, dass es schmerzt“, werfe ich ein. „Tja, wo das herkommt, kann ich Ihnen nicht sagen“, meint der Orthopäde leicht patzig: „Vielleicht versuchen Sie es mal mit Radfahren? Das ist gut für die Gelenke.“

„Ich fahre täglich zwei Stunden Rad, zur Arbeit hin und zurück“, sage ich und schaue ihn erwartungsvoll an. Nun, was jetzt? Es funkelt böse in seinen Augen auf, einen Moment lang. Irgendwie muss mein Knie an seiner Ehre kratzen. „Wie wäre es mit Schwimmen, das ist ein gelenkschonender Sport“, sagt er betont freundlich und fügt – mit einem schrägen Seitenblick auf meine Speckröllchen hinzu: „Bewegung schadet ja nie.“

Ich denke: ja, Meister, ich bin etwas aus der Façon, obwohl ich mich tagtäglich viel bewege und normal esse (auch so ein Mirakel meines Körpers!). Trotzdem kannst du mich wie einen Menschen behandeln. Laut sage ich dagegen fröhlich: „ Na dann, versuche ich es mal mit Schwimmen!“ Wie soll er auch ahnen, dass Schwimmen neben Radfahren mein Größtes ist. Ich bin gerne im Wasser und ich pinkle da nicht nur hinein, sondern ich bewege mich tatsächlich im kühlen Nass!

Also: ich erhalte keine Hilfe, keine Medikamente, keine Therapie.

Mein Knie schmerzt anderthalb Jahre. Ich humpele die meiste Zeit über. Das Radfahren quält. Ich mache weiter. Nach anderthalb Jahren ist der Spuk schlagartig vorbei. Das Bein schmerzt nicht mehr. Zurückgeblieben ist nur, dass es etwas dicker ist als das rechte Bein. Ist das normal? Ich wage nicht, einen Arzt/eine Ärztin deshalb zu befragen.

Ein paar Jahre später steht ein Orthopädenbesuch wegen der Schulter- und Oberarmschmerzen an, die ebenso unvermutet auftreten wie der Knieschmerz. Der zweite Orthopäde, der mich nun untersucht.

„Ich kann nichts an der Schulter feststellen, nichts gerissen, nichts kaputt, alles in bester Ordnung,“ tönt der Orthopäde, sich wohlgefällig in seinem Stuhl zurücklehnend. Habe ich diesen Satz nicht schon einmal gehört?

„Warum habe ich dann diese Schmerzen“, insistiere ich: „Die müssen doch irgendwo herkommen.“ Der Orthopäde wippt ein wenig mit seinem Stuhl hin und her, dass es quietscht, und sagt mir mit schrägem Seitenblick auf meine fünfundvierzigjährige Erscheinung: „Natürlicher Verschleiß. Arthrose. - Sehen Sie, eigentlich ist der Mensch nur für vierzig Jahre konzipiert und dann fängt eben der Verfall an. Sie und ich, wir sind überfällig, wenn man so will.“ Ich muss mich zusammenreißen, um nicht lauthals zu lachen. Orthopäden-Darwinismus, denke ich. Ich fange mich in dem frohgemuten Schlusssatz: „Dann lebe ich halt damit.“

„Genau. Was anderes können Sie nicht tun“, meint der Orthopäde.

Ich muss mich außerhalb der Praxis erst einmal ausschütten vor Amüsement. Von der Biologie aus betrachtet hat er ganz Recht. Er hat mir nichts Neues verraten: wir Menschen werden dank Medizin und Technologie älter, als wir eigentlich werden sollten. Doch was will er speziell mir damit sagen? Du bist überfällig, geh' und stirb'?

Ach, du Guter, ich weiß es doch längst, denke ich: ich bin eine natürlich verschlissene, pummelige Alte, die besser ins Gras beißen sollte, aber dennoch durchhält, weitermacht, sich nicht anstellt!

Den dritten Orthopädenbesuch muss ich irgendwann einmal zu einer Kurzgeschichte ausschmücken. Allein die Beschreibung des Arztes mit seinem fanatischen Silberblick würde Seiten köstlich, vergnüglich füllen.

Wieder einmal ist es meine Schulter, die schmerzt. Ich werde bei diesem dritten Orthopäden (bald kenne ich alle Orthopäden der Umgebung) vorstellig. Er untersucht meine Schulter haargenau. Ich werde zu Röntgen und MRT gebeten. Das Ergebnis?

„Ich kann nichts an der Schulter feststellen. Nichts gerissen, nichts kaputt, alles in bester Ordnung.“ - Lernt man diesen Satz auf der Orthopäden-Schule?

„Tja, und nun, woher kommt der Schmerz? Was kann ich tun“, frage ich. Er lehnt sich im Stuhl zurück. Er sagt, mit schrägem Blick auf meine Haltung (meine Haltung ist in sich zusammengesunken, denn es ist später Nachmittag, ich habe einen Arbeitstag hinter mir, zwei Stunden Radfahren, Wartezeit in der Praxis, die Untersuchung und bin demzufolge zu Tode erschöpft!): „Die Haltung. Wie Sie da sitzen! Das kann doch nur zu Verspannungen kommen! Stehen Sie auf!“

Ich stehe auf. Er auch. „Ich zeige Ihnen ein paar Übungen.“ Er stellt sich kerzengerade hin, breitet die Arme aus, führt sie nach hinten, überstreckt dabei den Hals, das Gesicht sieht gen Himmel. Ich muss wieder einen Lachanfall unterdrücken. „Diese Übung heißt 'der Engel'“, erklärt er.

„Machen Sie mal den Engel mit“, fordert er mich auf. Wir machen den Engel gemeinsam, dann mache ich den Engel alleine. Ich stehe da, original wie eine Barlach-Bronze. „Sehr gut“, lobt der Orthopäde. Er zeigt mir noch zwei weitere Übungen für die Schultern, die ich brav kopiere. „Verspannung, das ist alles“, sagte er: „Machen Sie jeden Tag mehrmals diese Übungen, auch so zwischendurch, und denken Sie an eine aufrechte Haltung, nicht so in sich zusammenfallen!“ Ich bedanke mich tausend Mal.

Draußen muss ich mich erst einmal ausschütten vor Lachen. Witzig sind sie ja, diese Orthopäden. Vielleicht haben sie auf diese Weise schon so manchen geheilt, einfach mit ihrer unfreiwilligen Komik. Lachen ist bekanntlich gesund.

Mich hat es nicht geheilt.

Ich mache den Engel. Mehrmals täglich und zwischendurch. Wirkungslos.

Ich weiß, ich weiß. Ich bin eine pummelige, faule, überfällige, verspannte, natürlich verschlissene Fehlhaltung, die den Engel macht und besser tot wäre.

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