Stell' dich nicht so an! Leben mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS

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Stell' dich nicht so an! Leben mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS
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Iva Okërn

Stell' dich nicht so an! Leben mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

„Ich kenne dich nur müde“

Und wieder: grippaler Infekt

Der Krug ist zerbrochen

Irrfahrten. Diagnosemarathon

Ein Zufallsfund

Die Mitbetroffenen des*der ME/CFS

Ideen zur Verbesserung der Situation des*der ME/CFS

Nachwort

Anhang

Literatur

Impressum neobooks

Vorwort

Ich bin entsetzt!

Da habe ich endlich mit Hilfe der behandelnden Ärzte und Ärztinnen herausgefunden, unter welcher Erkrankung ich leide, da hoffe ich auf Hilfe und Therapien wie etwa effektive Medikamente, um bald wieder arbeiten zu können und etwas Lebensqualität zurückzuerhalten, und muss erfahren: die Krankheit ist noch so unerforscht, dass es weder eine eindeutige Diagnostik noch kurative Behandlungen gibt. Das heißt, eine Heilung der Erkrankung ist aktuell nicht möglich, lediglich einzelne Symptome können behandelt werden.

Zuerst bin ich sprachlos. Und meine Sprachlosigkeit steigert sich, als ich erfahre, dass es weltweit sehr viele Betroffene gibt, dass seit Ausbruch der Covid-Pandemie die Zahl der Betroffenen steigt, dass das Leiden der Betroffenen und ihrer Angehörigen teils extrem ist, dass eine unerhörte gesellschaftliche Ausgrenzung besteht, dass der wirtschaftliche Schaden hoch ist, der durch die Erkrankung entsteht, und trotzdem ein allgemeines Interesse zu fehlen scheint, um Forschung und Anerkennung der ME/CFS voranzubringen.

ME/CFS – das heißt Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronic Fatigue Syndrom (Chronisches Er- schöpfungssyndrom), ein krankhafter Er- schöpfungszustand auch schon nach geringer Belastung und Aktivität, oftmals verbunden mit Muskel- und Gelenkschmerzen und mitunter vielen weiteren Symptomen. ME/CFS ist eine sehr schwere neuroimmunologische Erkrankung. Die Lebens-qualität der meisten Betroffenen ist extrem gering. Ich selber bin 'nur' moderat betroffen und erlebe dennoch eine gewaltige Einschränkung meines Lebens.

Meine Sprachlosigkeit wird allmählich von ohnmächtiger Wut abgelöst. Zunächst ist die Wut trotzig („Warum hilft mir denn keiner?“), doch dann wandelt sie sich in Tatkraft, befeuert meinen Verstand und meine Fantasie: hier ist ein Problem, wie kann ich es kreativ angehen? Was kann ich aktiv tun, um nicht nur für meine Person einzutreten, sondern auch für andere Betroffene, damit die Erkrankung eine Öffentlichkeit erhält und die entsprechenden Fachleute in Medizin, Wissenschaft, Gesundheits- und Sozialwesen, Politik und Gesellschaft bewogen werden, sich noch intensiver mit ihr auseinanderzusetzen?

Leider bin ich keine Medizinerin. Das wäre es jetzt gewesen! Am besten wäre ich Internistin oder Neurologin! Ich hätte mit der ME/CFS mein Fachgebiet gefunden und mich auf die Chronische Erschöpfung spezialisiert.

Aber dafür habe ich andere Fähigkeiten, die im Bereich 'Sprache' liegen.

Es liegt für mich also nahe, als Betroffene über ME/CFS zu schreiben, eine möglichst genaue Selbstbeobachtung zu verfassen, die vielleicht denjenigen hilft, die noch den langen und quälenden Weg hin zu einer Diagnose gehen; vielleicht erkennen sie in meinem Erleben ihr eigenes wieder und kommen einer Bestimmung ihrer Krankheit schneller entgegen. Vielleicht bietet es auch Mediziner*innen einen Anreiz, sich mit der Erkrankung auseinanderzusetzen. Das wäre gerade angesichts der gegenwärtigen Krisenzeit angeraten, denn eine Corona-Infektion kann ME/CFS auslösen; vieles, was momentan noch unter 'Long-Covid' erfasst wird, ist möglicherweise eine ME/CFS.

Und nicht zuletzt verstehe ich mein Buch als Selbsthilfe: es hilft mir selber bei der Reflexion, Aufarbeitung und Neuorientierung. Es ist stellenweise humorvoll geschrieben – denn Humor tröstet mich hin und wieder.

Im ersten Kapitel schildere ich wie meine Tage und meine Nächte im Schatten der Erkrankung aussehen. Der zweite Abschnitt zählt Krankheiten und Merkmale auf, die teils typisch für ME/CFS-Betroffene sind, teils auch als Ursachen der Erkrankung diskutiert werden. Das anschließende Kapitel beschreibt meine Situation kurz vor und während meines endgültigen Zusammenbruchs, der zu einem schier endlosen Diagnosemarathon führte (Viertes Kapitel).

Im fünften Kapitel kläre ich die Definition von ME/CFS, wer aber den steinigen und wirrenden Weg hin zur Diagnose mitempfinden möchte, so, wie ihn eben viele ME/CFS-Erkrankte und ihre Angehörigen gehen müssen, der ist eingeladen, mir bis dahin von Kapitel zu Kapitel zu folgen.

Wie steht es mit den Mitbetroffenen der Erkrankung, Familie und Freunden beispielsweise? Welche Unterstützung benötigen ME/CFS-Patienten und -Patientinnen von der Gesellschaft? Mit diesen Fragen befassen sich die beiden Schlusskapitel.

Nur zu klagen bringt wenig und ist so gar nicht meine Art. In die letzten Kapitel sind daher zahlreiche Impulse zur Hilfe und Selbsthilfe eingestreut. Leider sind die Betroffenen hauptsächlich zur Selbsthilfe verurteilt – ich hoffe inständig, dass sich das in nächster Zeit ändert.

Ich hoffe, mein Text signalisiert Mitleidenden, dass sie nicht allein sind. Der Weg hin zu der Diagnose ME/CFS ist nämlich mühselig und oft irreführend. Auf ihm kann es verdammt einsam werden.

Er ist mit Unverständnis, Unkenntnis und dem folternden Satz „Stell dich nicht so an“ gepflastert.

Iva Okërn M.-A., Oktober 2021

PS: Ich schreibe aus Rücksicht auf meine Familie, Freunde und Arbeitsstätte ausnahmsweise unter einem Pseudonym.

„Ich kenne dich nur müde“

Niemand hat eine Idee von dieser pathologischen Genügsamkeit. Das Einrollen in die schwere Bettdecke, wenn der Schlaf kommt, ist der Höhepunkt dieses Nicht-Lebens! Still trägt jede ihre unabwendbare Lebensbürde.“ (Peter Altenberg)

Wie sahen meine Tage, meine Nächte aus, als ich noch nicht wusste, was mir fehlte, es mir aber rapide schlechter ging? Wie reagierte mein Umfeld? Ich erinnere mich...

Ein Tag im Mai 2019

Es ist kurz nach halb sechs. Ich fahre mit dem Rad zu meiner Arbeit. Das bedeutet, eine Stunde zu strampeln.

Früher habe ich das sehr geliebt. Noch vor drei Jahren konnte ich morgens hin zur Arbeit, mittags zurück und abends noch einmal dieselbe Strecke fahren, um an einer Teamsitzung teilzunehmen – vier Stunden Radfahren neben einem körperlich fordernden Arbeitsalltag – das war kein Problem für mich.

Jetzt kann ich das nicht mehr. Ich hole das Letzte aus mir heraus, um die geringe Steigung bis zur Bildungsstätte hinaufzufahren. Oben angekommen steige ich mit zitternden Knien und unverhältnismäßig verschwitzt vom Rad. Ich gehe die letzten Meter zu Fuß, um das Herzrasen zu mäßigen, den Schweiß trocknen zu lassen und das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Ich will nicht, dass mich Kolleg*innen und die Familien der Kinder derart derangiert sehen. Sie kennen nur eine gelassene und fröhliche Iva und so soll es bleiben.

Mein erster Weg führt mich in den Waschraum. Ich ziehe das Shirt aus und wasche Gesicht, Nacken, Achseln und Arme. Ich habe immer mein eigenes Tuch dabei. Dann bediene ich mich aus meiner Kiste im Spind, in der ich Deo, Parfüm, Cremes und Erkältungssalbe aufbewahre. Ich muss mich noch einmal pflegen.

Die Erkältungssalbe ist mein Ritual. Ich habe dauernd Husten, Schnupfen oder Halsweh. Beinahe jeder Tag fühlt sich für mich so an, als würde ich eine Erkältung ausbrüten. Manchmal wird der Husten schlimmer. Besonders schlimm zu Zeiten, in denen mir auch meine Allergien zu schaffen machen. Erkältungssalbe auf der Brust lindert für mich ein wenig den Husten. Und auch ein Tuch oder Schal um den Hals muss sein. Die können mir nicht bunt genug aussehen.

Wegen meiner Selbstpflege bin ich etwas vor Arbeitsbeginn da. Und wenn ich schon mal da bin, fange ich gleich früher an. Wenn meine Kolleg*innen um sieben Uhr pünktlich zum Frühdienst erscheinen, sind schon viele Handgriffe getan. Sie nehmen die ersten Kinder in Empfang.

Ich könnte das nicht.

Ich bin abgekämpft von den vergangenen zweieinhalb Stunden: aufstehen, duschen, frühstücken, radfahren, Selbstpflegeaktion, Türen aufschließen, Stühle herunterstellen, Tische decken, Post hereinholen... das hat mich bereits völlig aufgebraucht. Ich könnte mich schon wieder hinlegen und zwei, drei Stunden schlafen. Aber das geht natürlich nicht. Die Kinder mit ihrer Laustärke und ihrem Aufmerksamkeitsbedürfnis kann ich in diesem Augenblick nicht um mich ertragen, und auch die Eltern mit ihren Anliegen nicht. Ich kann jetzt nicht sprechen. Ich kann keine Geduld aufbringen. Ich muss erst wieder die unerträgliche Erschöpfung in mir hinunterkämpfen, um Fassung ringen, mich zusammenreißen.

 

Daher bereite ich das Frühstück der Kinder allein in der Küche vor, kümmere mich um unsere Terrarientiere, erledige dies und das Notwendige rundherum, ehe ich nach etwa einer halben Stunde erholt genug bin, zu den anderen zu stoßen.

Ich habe das große Glück, dass ich als Sprachexpertin gruppenübergreifend in einer KiTa tätig bin. Ich kann meist selber bestimmen, ob ich in einer großen Gruppe, in Kleingruppen, in der Einzelbetreuung oder im Personalraum am PC arbeite. So kann ich die Arbeit oft gut meinem Befinden anpassen.

An Tagen, an denen das nicht möglich ist, bin ich nach der Arbeit einfach nur kaputt. Häufig bin ich am nächsten Arbeitstag richtig krank: zerschlagen, mit Kopf- und Gliederschmerzen, manchmal erhöhter Temperatur, hundemüde.

Wenn ich Glück habe, fallen diese Tage aufs Wochenende.

Der Donnerstag ist mein heftiger, langer Tag in der Arbeit – Freitagnachmittag breche ich dann regelrecht zusammen, den Samstag verbringe ich auf dem Sofa oder im Bett liegend. Gottlob samstags, denn dann muss ich mich nicht krank melden. Es ist ein Horror, erschöpft zur Arbeit fahren zu müssen, aber sich dauernd krank zu melden, geht auch nicht und das verstehe ich auch nicht unter Arbeit.

Es ist Mittag. Ich habe Pause. Unser Team hat sich glücklicherweise auf eine ganze Stunde Pause geeinigt. Ich haste in den Personalraum. Hurra! Ein Sofa ist noch frei! Ich werfe mich hin, ziehe mir eine Decke über die Schultern und bin schon eingeschlafen.

„Es ist erstaunlich, wie du sofort einschlafen kannst“, meint eine Kollegin einmal: „Du liegst, und, wupps, bist du weg.“

„Dass dich überhaupt nicht stört, wenn wir uns hier unterhalten oder die Kinder vor der Türe so laut sind“, wundert sich eine andere.

Wenn ihr dermaßen erschöpft wäret wie ich, dann würde es euch nicht mehr wundern, denke ich.

Wenn ich nach der Pause gleich in den Kinderdienst und auf Hochtouren laufen muss, dann ist das erneut Folter. Am liebsten sind mir die Tage, an denen ich erst noch etwas am PC oder in der Küche zu erledigen habe. Dann kann ich auch endlich eine Kleinigkeit essen. Seit dem Frühstück um fünf Uhr morgens habe ich nichts im Bauch; ich kann vor Müdigkeit oft nichts essen. Manchmal fehlt mir einfach die Kraft zu kauen und/oder zu schlucken. Wir haben zwar eine Frühstückspause gegen neun Uhr, aber häufig bringe ich nur meine notwendige Tasse Kaffee runter. Wenn ich gegen vierzehn Uhr die Mittagspause beende, schnappe ich mir einen Apfel oder Reste, die vom Mittagessen der Kinder übriggeblieben sind. Und Kaffee. Damit die Schläfrigkeit und Benommenheit weggeht.

Dann stehe ich einigermaßen den Rest der Arbeitszeit durch.

Aber nicht, wenn ich Chor habe.

Den Chor habe ich vor Jahren mit großer Freude mit ins Leben gerufen. Es ist herrlich, gemeinsam mit den Kindern Vokalspiele zu veranstalten, Lieder zu singen und zu tanzen! Es war herrlich. Jetzt ist das, was ich sehr liebte, zur Qual geworden. Der Chor findet um halb drei nachmittags statt – das ist gar nicht meine Zeit. Ich muss schon vor dem Singen eine Lutschtablette nehmen. Ich weiß, was mir blüht. Ich werde heiser. Ich kriege immer weniger Luft. Ich bekomme Schnappatmung à la Horst Schlemmer. Meine Stimme bleibt oft ganz weg. Die halbe Stunde Chor ist für mich wie drei Stunden Leistungssport. Zwischendurch muss ich noch einmal eine Tablette lutschen. Hinterher bin ich nur noch mit großer Anstrengung und mit erheblichem Kraftaufwand in der Lage zu sprechen. Manchmal muss ich nicht mehr viel reden. Meistens aber doch: Eltern informieren, Absprachen mit Kolleg*innen treffen, Gespräche mit Kindern führen.

Ich setze mich nach der Arbeit halb betäubt aufs Rad, um nach Hause zu strampeln. Mein Kopf ist wie benebelt. Brain fog nennen es die ME/CFS. Ich merke, dass ich total gereizt bin. Ich könnte vor Müdigkeit heulen. Jede Bank, an der ich unterwegs vorbeikomme, ruft mir zu: „Mach ein Päuschen, setze dich zwei, drei Stunden hier hin und fahr' dann weiter!“ Aber ich will nur noch nach Hause, um auszuruhen, zu schlafen – mein Sofa, mein Bett, meine Ruhe!

Zuhause angekommen schlinge ich mein Essen hinunter. Meistens die Reste vom Vortag, damit sie nicht weggeworfen werden müssen. Dann kann ich nicht anders – ich muss mich hinlegen. Mein Körper hat keine Kraft mehr. Er zwingt mich dazu. Dabei ist es ihm ganz gleich, um welche Uhrzeit ich heimkomme oder wieviel Stunden ich gearbeitet habe. Ich muss ausruhen, sonst geht nichts mehr.

Wenn mein Mann nach mir von der Arbeit kommt, findet er mich schlafend auf dem Sofa. Immer dasselbe 'schöne' Bild, das sich ihm bietet. „Ich bin müde“, rechtfertige ich mich sofort. „Ich kenne dich nur müde“, hält er mir entgegen: „Bewegung! Rausgehen! - Du lebst ja gar nicht!“ Ja, ich bin sicher nicht, was jemand zum Partner haben möchte: eine Schlaftablette, eine Schnarchnase!

Ich versuche, mich zu verteidigen: „Heute war es sehr anstrengend...“

Insgeheim mache ich mir genau dieselben Vorwürfe: er hat auch den ganzen Tag gearbeitet und ist müde, aber kommt nun noch seinen Pflichten in Familie, Haus und Garten nach; ich sollte mich zusammenreißen wie er, mich nicht hängen lassen, nicht meiner Müdigkeit nachgeben, mich nicht so anstellen – was für ein Beispiel der Bequemlichkeit gebe ich für unsere drei Kinder ab: negativ!

Ich schäme mich und werde beschämt.

Ich raffe alle meine Kräfte zusammen. Ich schaffe es noch, mit unserer Jüngsten die Englisch-Hausaufgaben zu besprechen, eine Maschine Wäsche zu waschen und aufzuhängen, für den nächsten Tag vorzukochen, auf dem Gartenweg Unkraut zu zupfen, dem Ältesten bei einer wichtigen Mail zu helfen, aufzuräumen, mich auf den nächsten Tag vorzubereiten … all die üblichen Handgriffe eines Familienalltags.

Mich aber kostet dies das allerletzte Quentchen Kraft.

Gegen zweiundzwanzig Uhr schleppe ich mich ins Schlafzimmer. Ich versuche, noch etwas zu lesen. Lesen ist mir wichtig, Lesen ist für mich mehr als ein Hobby, nämlich ein Lebenselixier!

Zwei Seiten – nur halb verstanden, weil ich mich nicht konzentrieren kann – dann ist Schluss.

Eine Nacht im Mai

Dann ist nicht wirklich Schluss.

Ich schlafe zwar sogleich ein, nachdem ich das Licht gelöscht habe, aber nach etwa einer Stunde wache ich wieder auf. Da ist das eigentümliche Zittern, das mich mal wieder weckt. Es ist, als würden die Nerven in meinem Gehirn Morsezeichen klopfen und legte sich das Vibrieren ganz tief im Körper in alle Gliedmaße. Ich habe das Gefühl, als laufe da ein Motor auf Hochtouren. Mein Körper ist vom Hals abwärts bis hin zu den Zehen angespannt, unter Strom.

Ich kenne das und versuche dagegen zu atmen. Einatmen, ausatmen, ruhig werden. Gut, dass ich mich für Shaolin Qi Gong und den Zen-Buddhismus erwärme und solche Atem – und Entspannungsübungen aus dem Ärmel schütteln kann.

Der Spuk dauert fast eine Viertelstunde. Shaolin-Kung Fu gegen den eigenen Körper. Endlich siegt die Entspannung. Ich schlafe erschöpft ein.

Nach einiger Zeit fühle ich einen stechenden Schmerz in den Zehen. Ich wache kurz auf, verändere die Lage bis sich der Schmerz abmildert, wenigstens so weit, dass ich wieder einschlafen kann. Ich bin es gewohnt mit Schmerzen zu schlafen.

Aber gegen halb zwei Uhr morgens werde ich erneut aus dem Schlaf gerissen. Diesmal bekomme ich keine Luft. Meistens, weil ich falsch geschluckt habe. Schlucken fällt mir nachts manchmal schwer. In der Brust steigt ein Engegefühl auf. Ich verändere mehrfach meine Lage: halbhoch, Kissen im Rücken – rechts auf der Seite – links auf der Seite – flach auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch...

Das Engegefühl nimmt zu, die Luftnot auch. Ich stehe auf, reiße das Fenster weit auf und lege mich wieder zu Bett. Ich versuche weiter meine Atemtechniken. Schlafe.

Es wird kühl. Der Mai hat noch keine lauen Nächte. Von Juni bis fast Mitte Oktober schlafe ich übrigens jede Nacht bei weit geöffneten Fenstern. Ich habe das Gefühl, ich brauche viel Luft.

Nun wache ich also vor Kälte wieder auf, schließe das Fenster und starte den nächsten Versuch, noch einmal in den Schlaf zu finden. Einzelne Körperstellen melden sich mit pochendem, stechendem oder dumpfem Schmerz: die Schultern, die Zehen, die Oberschenkel, die Unterarme. Die Haut über den Wangenknochen spannt. Ich habe Mühe meinen Speichel hinunterzuschlucken. Ich spucke ins Taschentuch aus. Dann befehle ich mir selber, anständig zu schlucken. Mein Wille und mein Verstand siegen schließlich über den in Hochspannung versetzten Körper.

Ich sehe auf die Uhr. Halb vier. Heute habe ich keinen Frühdienst. Heute darf ich bis halb sechs schlafen. Was für ein Glück – noch zwei Stunden! Wenigstens zwei Stunden!

Ich bin noch vor dem Weckerläuten wach. Mein Geist will aufspringen, denn von Natur aus bin ich eine 'Lerche', ein Mensch, der gerne früh morgens aufsteht und gleich loslegen kann. Mein Körper aber streikt mal wieder. Ich muss den Kampf mit mir selber abermals aufnehmen. Mein Wille muss den Körper aktivieren. „Kreise mit den verdammten Füßen, ob es schmerzt oder nicht. Stretche nach links und rechts, egal, was die Schultern sagen! Mach' ein paar Pliés und Relevés zum Aufwärmen, der schmerzenden Hüfte zum Trotz. Und nun gehe ins Bad. Dusche. Putze die Zähne.“ So muss der Kopf unentwegt befehlen. Nach dem Duschen ist der Körper bereits wieder dermaßen erschöpft, dass er am liebsten zurück in die Ruhelage möchte. Aber das geht nicht. Er muss sich zusammenreißen. Der neue Tag hat begonnen.

„Frisch, ans Werk“, ermuntere ich mich selber – und quäle mich los.

Jede Menge Schnappschüsse

„Ich kenne dich nur müde.“

Naja, lieber 'Göttergatte' ganz stimmt das nicht, denn mein erster schwerer Krankheitsschub – soweit ich es jetzt im Nachhinein rekonstruieren kann – fand statt, als unser Mittelkind, drei Jahre alt war, nach neun Ehejahren.

Der erste Schub. Damals dachte ich: o, nein, bloß keinen Bandscheibenvorfall!

Ich hatte vormittags meine üblichen Pflichten erledigt und war mit meinem mittleren Kind zum Spielplatz gepilgert. Dann holten wir den Ältesten vom Kindergarten ab, aßen gemeinsam zu Mittag und gingen nach einer Ruhepause zum Spielen auf den Hof. Fangen, Verstecken, Ball spielen, Sandkuchen backen – das ganze Programm. Als wir nach zwei Spielstunden wieder in unsere Wohnung hinaufstiegen, überfielen mich wahnsinnige Schmerzen in der Hüfte, die bis in den Rücken ausstrahlten. Ich tat das, was ich schon zuvor getan hatte und später noch zu Genüge tun würde: ich biss die Zähne zusammen. Bloß nichts anmerken lassen, sonst erschrecken die Kinder!

Irgendwie kam ich ohne auffälliges Humpeln bis in unserer Wohnung. Dort angekommen war ich hundemüde. Schlagartig. Ich tat, was nicht sein sollte und deponierte die Kinder vor dem Fernseher – sie beschäftigten sich mit ihren Spielzeugen und sahen dann und wann in die Glotze. Währenddessen schlief ich etwas auf dem Sofa, im Vertrauen auf meine Instinkte, die mich allezeit aufmerken ließen, wenn für die Kinder 'Gefahr in Verzug' war.

Nach etwa einer Stunde Schlaf war ich wieder relativ fit. Der Hüftschmerz war fast unmerklich, der Rückenschmerz gänzlich vergangen. Meine Zehen taten etwas weh, sodass ich beschloss, in den nächsten Tagen gut auf mich zu achten.

Das kommt vom Kinder-Herumtragen und dem Herumtoben, dachte ich bei mir: Das mittlere Kind wird halt zu schwer für mich; ich darf es nicht mehr so oft hochheben, was auch vernünftig ist, denn das Kind hat zwei Beine, ist ein selbstständiges Wesen und kann sich alleine vorwärtsbewegen.

Nach etwa einer Woche war ich der Knochenschmerzen ledig. Glück gehabt, kein Bandscheibenvorfall, dachte ich.

Aber mir blieb etwas. Mir blieb das Bedürfnis, mich zwischendurch immer wieder ausruhen zu müssen. Mir blieb das Gefühl von Müdigkeit und Erschöpfung.

 

In meiner Umgebung hörte ich andere junge Mütter über Stress, Überforderung und Müdigkeit klagen.

Das ist wohl so, wenn man junge Kinder hat, dann ist man dauerhaft erschöpft, suggerierte mir die Umwelt, bis ich selber so dachte.

Ich wusste damals noch nicht, dass es zwischen 'sich erschöpft fühlen' und 'erschöpft sein' einen Unterschied gibt.

Mein damaliger Hausarzt, dem ich dann doch einmal meine Erschöpfung eingestand, tutete ins selbe Horn, verwies auf die beiden Kinder, dass es ja anstrengend mit den Kleinen wäre und schon an den Kräften zehren könnte. Er gab mir über mehrere Wochen hinweg Aufbauspritzen. Wirklich geholfen haben die nicht.

Mit den Jahren musste ich meiner Kraftlosigkeit immer mehr nachgeben. Es ging ganz gut und von der Familie fast unbemerkt, als auch das mittlere Kind vormittags den Kindergarten besuchte.

Ich arbeitete zu der Zeit freiberuflich für einen Verlag. Die Arbeit legte ich in die Abend- und Nachtstunden, schlief etwa vier, fünf Stunden, kümmerte mich dann um die Kinder, brachte sie gegen halb neun Uhr in die Kita, erledigte in Windeseile den Haushalt, damit ich mich um elf Uhr noch einmal kurz hinlegen konnte, bevor ich die Kinder wieder abholen musste. Schlafen mit Wecker. Und jedes Mal beim Aufwachen musste ich mir mein Mantra vorbeten: Reiß dich zusammen, stell' dich nicht so an; du bist nicht die einzige Mama auf der Welt.

Ich hielt den eingespielten Alltagsablauf prima durch, doch jedes Zusatzprogramm wurde für mich zur Tortur, zum ständigen Kampf gegen die körperliche Erschöpfung, zur kräftezehrenden Aktivierung des eisernen Willens: der Frisörbesuch, der Besuch beim Kinderarzt, der Vortrag, zu dem ich geladen war, der Kaffeeklatsch bei den Nachbarinnen, ein Sonntagsausflug, Besuche bei Freunden und Verwandten – alles, alles Tagespunkte, die mich stark ermüdeten. Noch ein, zwei Tage nach so einem Sonderprogramm war mein Kopf wie in Nebel getaucht.

Wann immer ich es ihm erlauben konnte, ließ ich meinen Körper ausruhen.

Auf dem Sofa liegen – wenn wir abends, nachdem die Kinder im Bett lagen, die Tagesschau ansahen, dann musste ich liegen, ich konnte nicht mehr sitzen. Wenn ich nicht an meinen Büchern arbeiten musste, dann schlief ich auch bald ein. Ein herrliches Abendprogramm für den Lebenspartner!

Zu dieser Zeit entstanden die ersten Schnappschüsse der 'schlafenden Iva'. Iva schläft auf dem Sofa, im Bett, am Strand, im Sessel. Ob Alltag oder Urlaub, sie schläft.

Diese Fotos!

Sie sind gemacht worden, mir auf humorvolle Weise meinen angeblichen Kardinalfehler der Faulheit/Bequemlichkeit unter die Nase zu reiben. Sie sind nicht böse gemeinte Neckereien der etwas derberen Art.

Aber: würde man das offene Bein eines Raucherkranken beim Verbandswechsel im Schnappschuss festhalten? Den Neurodermitis- Patienten ablichten, wie er sich gerade den Schorf blutig kratzt? Den Krebspatienten fürs Familienalbum aufnehmen, wenn er gerade kotzend über der Kloschüssel hängt? Sicher nicht.

Bei mir hält man jedoch mit der Kamera genau auf die Verwundung, die ich habe. Schnappschuss. Iva schläft. Zum Gaudi der ganzen Familie. Es ist die moderne Version einer Side-Show.