Ein reines Wesen

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Aus der Reihe: Willa Stark #4
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Das Schwimmbad im Hotel am Triller war am Morgen bereits gut besucht.

Diese Frühschwimmer waren drei Senioren und zwei Mütter mit Kleinkindern. Dazu ein jüngerer Mann, der sich kraulend von Beckenrand zu Beckenrand bewegte und rücksichtslos an den anderen vorbeizog.

Willa passte in keine dieser Kategorien.

Sie war hier, weil sie ohnehin seit fünf Uhr keinen Schlaf mehr gefunden hatte. Die kleine Flasche Wein aus der Minibar vor dem Zubettgehen hatte sie zwar schnell einschlafen lassen, aber wilde Träume hatten sie heimgesucht.

Willa zog ihre Bahnen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sie drehte sich oft, wechselte die Haltung. Das Brustschwimmen bereitete ihr Schmerzen. Egal, ob sie sich Zeit ließ, wie der letzte Physiotherapeut es ihr geraten hatte, oder ob sie mit zusammengebissenen Lippen ihren Körper antrieb und trotz der Qual bis zum Beckenrand durchhielt.

Die Hüfte war es, die höllisch weh tat, seit ihrer Rückkehr aus dem Dornröschenschlaf, wie Harro es gerne benannte. Das Wort Koma vermied er genauso wie die Kollegen und Willas Mutter.

Zu Anfang waren die Schmerzen über ihren gesamten Körper verteilt gewesen. Jeder Muskel schien sich zurückgebildet zu haben, jedes Gelenk versteift. Ihr Nacken knackte während den ersten Behandlungen derart laut, dass sie jedes Mal erschrak und befürchtete, ihre Wirbelsäule könnte brechen. Erst, als ihr der Therapeut erklärte, dass dieses Geräusch ein gutes Zeichen war, weil es signalisierte, dass die Wirbel wieder in ihre richtigen Positionen kamen, ließ sie ihn uneingeschränkt an sich hantieren.

Das Training war hart, qualvoll und unerbittlich. Der Erfolg stellte sich nur langsam ein. Die ungeduldige Willa musste lernen, sich Zeit zu lassen.

Das Problem mit der Hüfte blieb jedoch hartnäckig. Schmerzen waren zu täglichen Begleitern geworden. Bei zu langem Gehen oder Stehen knickte die linke Seite regelrecht ein. Eine Gehhilfe lehnte sie strikt ab.

Die linke Körperhälfte blieb im Ganzen problematisch.

Manchmal flackerte ihr linkes Auge und eine Sehstörung stellte sich ein. Derart, dass sie ein Bild vor sich doppelt und zeitversetzt wahrnahm. Glaskörperablösungen hieß das Phänomen und war angeblich harmlos. An den Fingern der linken Hand brachen ihre Nägel regelmäßig ab und ihr Herz veranstaltete manche Nacht einen Trommelwirbel, als würde es eine Big Band anführen.

Harte Zeiten, seit sie erwacht war.

Ihr Lebensabschnitt nach dem Koma war zu einem Kampf mit ihrem Körper geworden. Ein stetiger Wechsel zwischen Erfolgserlebnissen und deprimierenden Abstürzen. Dankbar war Willa nur für eines: Die Beschwerden lenkten sie von den Geschehnissen ab, die zu dem Schlag auf ihren Kopf, dem Schädelbasisbruch und ihrer Auszeit geführt hatten.

Jeden aufkommenden Gedanken an die Abfolge, die Gründe, die absehbare Katastrophe schob sie mit derselben Verbissenheit in ihren unterbewussten Speicher zurück, wie sie die Übungen absolvierte.

Sie weigerte sich, mit der Polizeipsychologin zu reden, sie unterließ es, den Kollegen ihres Teams einen Bericht zu schreiben. Der Fall, und gleichermaßen ihr Fall, war polizeilich dokumentiert, ihre Aussage nicht unbedingt erforderlich, also gab sie eine vollkommene Gedächtnislücke an.

Keine weitere Erklärung dazu. Basta.

Ihr Verdrängungsmechanismus wurde immer perfekter. Was geschehen war, war geschehen, begraben und mit Erde bedeckt. Namenloses Grab. Irgendwo im Nirgendwo eine Leiche, die sich Monat für Monat mehr zersetzte.

Wegen der körperlichen Probleme und weil sie konsequent die Gespräche beim psychologischen Dienst verweigerte, durfte sie nicht zurück in den aktiven Außendienst und in das Team um Hauptkommissar Peter Kraus. Zwar war sie ihm weiterhin unterstellt, aber es würde in naher Zukunft keine Einsätze geben.

Büroarbeit und Innendienst waren die meistgehassten Wörter, die Willa nun in ihrem Repertoire hatte.

Trotzdem war sie ihrem Chef dankbar. Hatte er doch, während sie an Maschinen angeschlossen im Krankenhaus gelegen hatte, ihre Festanstellung bei der Kölner Kripo durchgesetzt. Ihr größter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Doch der Spruch der Buddhis­ten hatte sich bewahrheitet: Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht, es könnte in Erfüllung gehen.

Das Wasser war Willas neues Element geworden. Schwimmen war eine Möglichkeit, die Gedanken laufen zu lassen und weiter die körperlichen Beschwerden zu verbessern. Brustschwimmen war zwar grausig schmerzhaft, aber, wenn sie sich drehte, wechselte die Anstrengung in reine Freude.

Warum ihr das Rückenschwimmen nichts ausmachte, konnte ihr kein Arzt erklären. Einer hatte ihr geraten, es einfach zu genießen, was sie jedes Mal tat. Dabei konnte sie sich strecken und dehnen, sich wieder wie früher spüren. In der Bewegung im Wasser lag das Versprechen einer möglichen vollkommenen Genesung. Das Eintauchen erschien ihr wie die Verheißung auf eine Rückkehr in ihr früheres Leben.

Inspektorin Willa Stark.

In Graz geboren und aufgewachsen, ihre Ausbildung absolviert, über Europol nach Köln gekommen.

Erfolgreich war sie gewesen, auch beim letzten Fall vor dem Koma, aber über den herrschte ja Stillschwiegen. Ungesund für deine Psyche, sagte auch Harro, der gute Freund an ihrer Seite. Sein verheultes und zugleich so glückliches Gesicht, als er sie das erste Mal im Krankenhaus nach dem Aufwachen besucht hatte, würde sie nie vergessen. Auf allen Ebenen hatte er sie unterstützt, hatte sich die ersten Wochen Urlaub genommen, um ganz für seine Willa da zu sein.

Seine Willa.

War das der Grund gewesen, warum sie ihn noch mehr abgeblockt hatte, als in der Zeit davor? Seine Zuneigung, seine Fürsorge waren ihr zuviel geworden. Sie hatte sich eingeigelt und die Unnahbare gespielt. Obwohl sie es auch genossen hatte, von ihm umsorgt zu werden. Seine Enttäuschung über ihren Rückzug hatte Harro nie offen gezeigt, aber Willa meinte, sie bis heute spüren zu können.

Inzwischen hatte sich der Alltag zwischen ihnen wieder eingespielt. Das Institut nahm Harro voll in Anspruch und seit einigen Monaten war er mit seiner Kollegin Tine Latisch zusammen. Willa hatte es mit einem Seufzen und Lächeln aufgenommen, beides passte. Das Leben ging weiter.

Ihre Mutter war mehrmals nach Köln gereist, immer in der Hoffnung, dass Willa bereit war nach Hause, nach Graz mitzukommen, aber Mamas Wünsche erfüllten sich nicht.

Willa blieb und holte sich ihre Streicheleinheiten von ihrem Kater Jimmy. Ihre gesellschaftlichen Aktivitäten beschränkten sich sonst hauptsächlich auf die Kollegen, die ihr von den neuen Fällen erzählten, an denen Willa keinen Anteil hatte.

So kam es, dass die Inspektorin in Köln ihren festen Platz hinter einem Schreibtisch eingenommen hatte.

Der Tisch war groß und mit vielen Schubläden ausgestattet, in denen sie neben den Unterlagen und Vorlagen allerlei Kram unterbrachte. Dinge, die sie eigentlich entsorgen wollte, die aber nicht ganz verschwinden sollten. Alte Ausschnitte aus Zeitungsartikeln über sie und ihre Fahndungserfolge waren darunter.

Polizeiverwaltungsbeamtin Stark.

Die Arbeit war träge und langweilig. Berichte von Kollegen überprüfen, die sich über Fehler bei Einsätzen beschwerten. Sich um interne Kommunikation kümmern, Dienstmails auffinden, die im allgemeinen Verkehr untergegangen, verschwunden, gelöscht worden waren, aber noch gebraucht wurden. Eine Liste an Aufgaben, die einer bloßen Sekretärin spannend und abwechslungsreich erschienen wären, Willa aber anödeten, bis ihr Hirn einknickte wie ihre Hüfte.

Ein scharfer Schmerz schoss vom linken Knie bis zu ihrer Achsel hoch. Sie schluckte Wasser, schaffte es aber, nicht unterzugehen. Eine Weile blieb sie an Ort und Stelle und trat Wasser. Schließlich gelang es ihr, die Bahn zu beenden, und sie hielt sich keuchend am Beckenrand fest.

Nach dem Schwimmen und dem Frühstück würde sie vom Hotel aus in die Saar-Vital-Klinik fahren.

Zu einem Termin bei Dr. Ira Steiner. Sie galt als eine der vielen Spezialistinnen für Hüftleiden.

Wieder war es Harro gewesen, der sich Willas Sache angenommen hatte. Er hatte sich immer weiter mit ihren Beschwerden beschäftigt. Mit ihm hatte Willa über die Möglichkeit eines neuen Hüftgelenks diskutiert, eine Lösung, die Linderung bringen konnte, vor der sie sich aber fürchtete. Doch am Ende war sie bereit gewesen, sich dieser Alternative zu stellen. Drei renommierte Ärzte hatte Harro ihr empfohlen. Im Klinikum Münster, an der Uniklinik Dresden und im Winterberg-Krankenhaus in Saarbrücken praktizierten diese Koryphäen jeweils. Die einzige Frau unter den Dreien und die Nähe zu Frankreich hatten Willas Entscheidung für das Saarland beeinflusst.

Des Weiteren hatte Harro es geschafft, binnen einer Woche ein erstes Zusammentreffen zwischen Frau Dr. Ira Steiner und Willa festzumachen. Die Ärztin war nicht nur im großen Winterberg-Krankenhaus angestellt, sondern bot auch zweimal die Woche in der noch neuen Privatklinik vor Ort Sprechstunden an.

Was immer dabei herauskommen mochte, die Krankenversicherung der Polizei würde die Kosten nicht übernehmen, soviel stand von vorneherein fest. Harros Angebot, Willa auch dabei finanziell unter die Arme zu greifen, hatte sie erst unter der Vorgabe, ihm nach und nach den Betrag zu erstatten, angenommen.

Um Herrin der Lage zu bleiben, hatte sie sich vorerst im Hotel am Triller einquartiert. Es war nicht ganz billig, aber das Schwimmbad hatte den Ausschlag gegeben. Stationär in die Klinik wechseln konnte sie immer noch, wenn es sich als notwendig herausstellen würde.

Der Schmerz ließ langsam nach. Willa pustete über den Beckenrand gegen das überfließende Wasser. Kleine Wellen kräuselten sich. Sie begann, die Beine zu dehnen und zu strecken.

 

»Schöner Tag heute, nicht? Spätsommer-Traumwetter-Periode. Tolles Wort für Scrabble, wenn es anerkannt würde.«

Neben ihr war ein älterer Herr zum Halten gekommen.

»Geht so«, antwortete Willa knapp.

Eine Anmache am Morgen, bevor sie überhaupt ihren ersten Kaffee getrunken hatte, von einem Herrn, der gut und gerne dreißig Jahre älter als sie war, konnte sie nicht gebrauchen.

»Die nächsten Tage sollen noch heißer werden.« Er ließ nicht locker. »Da tut Erfrischung gut. Mit einem Eis zum Beispiel.«

Er zwinkerte ihr zu und Willa bekam Kopfschmerzen.

»Wenn’s Abkühlung brauchen, gehen Sie in den Saunabereich und springen Sie kopfüber ins Eisbecken. Aber quatschen’s mich nicht an.«

Der ältere Herr zog seine weißen Augenbrauen hoch und seine kahle Stirn kraus.

»Ich wollte nur nett sein am Morgen.«

»Und ich mag so was nicht, verstehn’s mich, kapische?«

»Sie stammen wohl aus dem südlichen Sprachbereich, oder?«, murmelte der Mann, als würde das ihre Reaktion erklären, und stieß sich ab.

Darüber nun musste Willa schmunzeln. Zugleich dachte sie an ihre aktive Ermittlerzeit. Fräulein Ösi, das war ihr Spitzname im Team. Gewesen.

Et es wie et es, sagte eines der Kölschen Grundgesetze. Ein Spruch, den sie nicht mehr hören konnte. Vielleicht hatte das Saarland bessere Weisheiten zu bieten.

Sie beendete die Übungen und begann eine neue Bahn. Auf dem Rücken. Ihre Arme breiteten sich aus, ihre Beine bewegten sich rhythmisch und in einem gleichmäßigen Tempo.

Über ein Jahr. Solange war sie zurück aus dem Koma.

Ich bin nicht mehr ich selbst, dachte sie. Nur als Meerjungfrau, auf dem Rücken treibend, gibt es mich noch.

Sie stellte sich vor, dass das Becken kein Ende haben würde. Sie würde, mit dem Gesicht in den Himmel gerichtet, schwimmen und schwimmen, über den Rand der Welt hinaus.

Dorthin, wo es keine verdrängten Erinnerungen, keine Hüftschmerzen und keine älteren Herrn gab, die nach einer frühmorgendlichen Zweisamkeit suchten.

11

Bevor sich Willa in die Klinik begab, machte sie einen Zwischenstopp in der Innenstadt. Ein nächster Kaffee musste noch vor der Untersuchung sein. Außerdem wollte sie sich im Zentrum umsehen.

Das Taxi setzte sie an der Alten Brücke ab. Sie stieg aus und ihr Blick wurde erst von der Mauer und dem Schloss auf der linken Uferseite, dann vom Bau des Staatstheaters vor ihr angezogen. Sie zückte ihr Smartphone und las über das barocke Schloss mit seinem Gewölbekeller und den Ausstellungsräumen des Historischen Museums Saar nach. Das Theater hatte seine Spielzeiteröffnungspremiere noch vor sich und beeindruckte Willa mit der Vielfalt des Spielplans. Oper und Tanz waren zwar nicht ihre bevorzugten Kulturevents, aber sich einmal ein Stück auf der großen Bühne anzusehen, schien verlockend.

Ein angenehmes Touristengefühl überkam Willa. Wenn sie schon unterwegs war, wollte sie die Schwere der letzten Zeit einmal wenigstens zur Seite schieben.

Nach Überquerung der Straße kam sie in den Innenstadtbereich. Das Kopfsteinpflaster ließ sie vorsichtiger vorangehen. Doch, was sie sah, mochte sie auf Anhieb.

Am St. Johanner Markt waren Marktstände aufgebaut und es herrschte ziemliche Betriebsamkeit. Auf den Stufen des Marktbrunnens saßen ebenso Leute, wie in den Lokalen rund um den Platz. Statt sich sofort für eines zu entscheiden, spazierte Willa weiter. Sie hielt sich links und lief einmal im Kreis. Die schmalen Gassen, die Häuser, die Läden – alles gefiel ihr.

Schließlich entschied sie sich für das Kulturcafé und genoss den Trubel um sie herum. Lange hatte sie sich nicht mehr so entspannt gefühlt.

Kurz wünschte sie sich Harro an ihrer Seite, ein spannendes Gespräch mit ihm, sogar eine seiner langen Ausführungen würde sie sich mit Muse anhören. Sie machte zwei Fotos und schickte sie ihm. Es dauerte keine drei Minuten und er antwortete ihr mit einem Smiley. Ein Hund hechelte an Willa vorbei, ein Kind an der Hand seines Vaters verlangte lautstark nach Eis.

Es war eine gute Idee gewesen, sich für Doktor Ira Steiner und Saarbrücken zu entscheiden.

Der Gedanke an ihre bevorstehende Untersuchung dämpfte ihre gute Laune. Sie sah auf die Uhr. Es war höchste Zeit. Langsam wanderte sie über den Markt zurück bis zum Bühneneingang des Theaters und rief sich erneut ein Taxi. Während sie wartete, sah sie sich die Fotos in den Schaukästen an. Vielleicht war ja die ganze Welt tatsächlich nur eine Bühne, wie Shakespeare es eine seiner Figuren sagen ließ. Darüber musste sie lächeln.

Eine Stunde später war Willa in einer ganz anderen Verfassung.

»… mit einem neuen Hüftgelenk.«

Willa versuchte den Ausführungen der Ärztin zu folgen. Sie war froh, endlich von der Behandlungsliege zu einem der zwei Besuchersessel wechseln zu können. Sie war zuerst stehend und am Ende liegend von Dr. Steiner durchgecheckt worden. Bei den durch die Ärztin durchgeführten Drehbewegungen am Hüftgelenk war der stechende Schmerz erneut aufgeflammt. Willa hatte sich auf die Lippen gebissen, um nicht aufzuschreien.

Der Raum wirkte freundlich und nicht wie ein Krankenzimmer, die Bilder an den Wänden zeigten Landschaftswege im Wechsel der Jahreszeiten. Ira Steiner trug eine beige Stoffhose mit einer gelben Bluse darüber und sah mehr wie eine Frau aus, die sich mit angenehmeren Dingen beschäftigte als mit kaputten Knochen und Gelenken.

Der Kaffee stieß Willa bitter auf. Nun sehnte sie sich doch nach Köln und ihrer Wohnung und vor allem ihrem Kater Jimmy. Selbstverständlich war bei der Frage nach dem Verbleib des Haustiers ebenfalls Harro eingesprungen. Kater und Rechtsmediziner waren durch Willas langen Ausfall ohnehin ein eingespieltes Team.

Plötzlich wurde sie wütend auf Harro, den guten Freund, den Helfer, den Mann, der in scheinbar allen Lebenslagen ihre Stütze geworden war. Ihre Eigenständigkeit war ihr immer wichtig gewesen und nun lief nichts mehr, ohne dass sie Bitte und Danke sagen musste. Sie schüttelte den Kopf, es war ungerecht ihm gegenüber.

Sie sah aus dem Fenster des Behandlungszimmers in den Sonnenschein und wünschte nichts mehr als eine Rückkehr zu ihrem alten Leben, zu Mord und Totschlag und Verbrechensaufklärung. Alles, nur nicht das hier.

Raus- und hinunterspringen wäre vielleicht das Beste, dachte sie. Arme ausbreiten, fliegen und dann wäre alles gut.

Nein – wieder das Kopfschütteln – aufgeben war keine Option für sie. Niemals gewesen.

»Eine Operation wäre für mich nur der allerletzte Ausweg, Frau Doktor.« Willa räusperte sich. »Ich will nicht noch Monate oder Jahre rekonvaleszent sein.«

Ira Steiner sah von ihren Aufzeichnungen hoch.

Die schlanke rothaarige Frau hatte sich Willa gegenüber auf einem Drehstuhl niedergelassen und sich während der Anamnese und des folgenden Gesprächs Notizen gemacht. Wie eine Ermittlerin, die sich während der Vernehmung ihre Anmerkungen aufschrieb.

»Inspektorin Stark. Wer ein künstliches Hüftgelenk bekommt, musste bislang mit einer langen Genesungsphase rechnen, das stimmt. Doch dank der von mir bevorzugten Methode ist das Vergangenheit. Sie können die Hüfte nach der OP in der Regel bald voll und in Ihrem Alter sogar sofort etwas belasten. Diese minimal invasive Hüft-OP könnte Sie schneller fit machen, als weitere Therapien, die nicht anschlagen.«

»Ich hatte früher nie Probleme. Im Einsatz hab’ ich mir einmal die Schulter gebrochen und das Knie verrenkt. Das Koma kam durch einen Schädelbasisbruch. Aber nie die Hüfte. Ich begreif’ es nicht.«

Auf den Lippen der Ärztin zeigte sich ein verständnisvolles Lächeln, aber Willa hatte das Gefühl, dass der Blick trotzdem durch sie hindurchging.

»Während einer Koma-Phase kommt es praktisch zu einer Verringerung der gesamten Skelettmuskulatur, Frau Stark. Je länger, desto intensiver. Es nimmt nicht nur die Kraft der Muskulatur ab, auch ein deutlicher Funktionsverlust der Flexibilität und Koordination setzt ein. Daher kann es in weitere Folge auch später noch zu Fehlstellungen kommen. Die Abnützung beschleunigt sich um ein Vielfaches.«

»Das hätten die anderen Ärzte doch längst diagnostiziert.«

»Wann war Ihre letzte Nachuntersuchung?«

Willa hob ihre Hand und begann am Daumennagel zu knabbern. Zwei Termine hatte sie in Köln bereits verschoben. An den jeweiligen Tagen war sie lieber mit der Straßenbahn zum Stadtwald gefahren und hatte sich dort auf eine Bank gesetzt.

»Die steht noch aus.«

»Ich will Ihre Krankenakte anfordern. Dazu brauche ich Ihr Einverständnis. Dann könnten wir den zeitlichen Plan besprechen. Vor einer Entscheidung wird ohnehin noch ein MRT gemacht. Und, ich würde Sie bitten, sich hier in der Klinik einem Check-up zu unterziehen. Dr. Schmitz ist ein hervorragender Kollege. Ich würde eine Terminanfrage an ihn direkt nach unserem Gespräch weiterleiten. Wann müssen Sie zurück nach Köln?«

»Morgen.«

Eine glatte Lüge. Ihre Krankmeldung hatte Willa vor ihrer Abreise eingereicht, das Hotel war für eine Woche gebucht. Einen geheimen Urlaub sollte sie hier machen, weiter die Stadt, das Umland erkunden, und keine Sekunde mehr an Fehlstellungen und dergleichen denken.

»Und wann ist es Ihnen möglich, wieder nach Saarbrücken zu kommen?«

»Keine Ahnung. Bei meinem Beruf als Polizistin lassen sich schwer genaue Auszeiten fixieren.«

Ira Steiner legte den Notizblock zur Seite. Sie rollte mit dem Drehstuhl ein Stück näher an Willa heran.

»Noch mal: Wie häufig und wie stark sind Ihre Schmerzen?«

Täglich, dachte Willa, sprach es aber nicht aus. Manchmal stündlich. Manchmal wache ich in der Nacht auf und habe das Gefühl, dass sich mein Körper gekrümmt hat und ich nie wieder gerade gehen kann.

Schmerzmittel halfen nur kurz. Meist überhaupt nicht.

Wieder war Willas Kehle trocken und sie stieß ein leises Husten aus. »Beim Schwimmen is’ es besser. Vor allem beim Rückenschwimmen.«

»Zuerst Check-up und MRT, wenn Sie bereit sind.« Dr. Steiner erhob sich. Der Stuhl rollte ein kleines Stück von selbst nach hinten. » Ach, aber Ihre Antwort, Inspektorin Stark, beantwortet nicht meine Frage.«

Wie eine Ermittlerin, dachte Willa wieder. Nachhaken und Tatsachen ansprechen.

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