Die 19 muss weg

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Die 19 muss weg
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Die 19 muss weg





oder



Bis der Tod uns scheidet






von



Isabel Traietta



2019





Inhaltsverzeichnis





Impressum







Teil 1







Teil II







Danksagungen







Eine letzte Anmerkung:







Impressum



Texte:



Copyright by Isabel Traietta





Umschlaggestaltung:



Copyright by Isabel Traietta





Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin






Teil 1



Lieber Pino, mein Schatz,





ich habe dir noch nie einen Brief geschrieben. Keine Sorge, dieses wird auch mein Einziger an dich sein in der Hoffnung, du wirst diese Zeilen irgendwie erhalten, da ich keine Anschrift angeben kann.





Du bist eben nicht der Romantiker, der dieses Stilmittel benutzt hat. Du hast es vorgezogen dich persönlich vor Ort mit den Menschen auszutauschen, ihnen in die Augen schauen zu können und gleichzeitig ihre Mimik zu erleben. Der persönliche Kontakt ist dir stets wichtiger als irgendwelche Telefonate oder Briefwechsel. Außerdem weiß ich, dass du nicht gerne liest und folglich hat es dieses Medium nie bei uns gegeben.



Eigentlich schade, denn so könnte ich nun deine Briefe, die du an mich geschrieben hättest, mit beiden Händen festhalten, deine Worte lesen und auf mich wirken lassen und spüren, wie du mit deinen Händen über das Papier geglitten warst, während du diese wundervollen Zeilen an mich verfasst hättest. Vielleicht wäre noch ein Hauch aus vergangenen Tagen zu erhaschen - im besten Falle dein Duft wahrzunehmen und deine Gedanken an mich, immer und immer wieder aufleben zu lassen.



Eine schöne Vorstellung.





Nun, es ist nicht so und daher bringe ich meine Gedanken einfach zu Papier. Vielleicht findest du jemanden, der dir vorliest. Du kannst dich dabei entspannt zurücklehnen, die Beine überschlagen und dich ein wenig an mich erinnern, wenn du magst.





Du antwortest mir auf deine Weise.





02.Oktober 2019





Noch konnte ich behaupten, dass vor einem Jahr die Welt für uns in Ordnung war.



Die Kinder hatten vor zwei Jahren das Haus verlassen. Erst zog unsere Tochter Céline aus und bei ihrem Freund Pierre ein. Immerhin sind die beiden schon seit einigen Jahren ein tolles Paar, so dass ihre gemeinsame Zeit gekommen war. Unser Sohn Fabio schlug seine Zelte in einer anderen Stadt auf, denn es war ungewiss, wo es ihn beruflich hin verschlagen würde. Aber gerade einmal zwei Monate später hatte auch er endgültig seine Koffer gepackt und startete in sein neues Leben.



Irgendwann ist die Zeit gekommen, da heißt es Flügel strecken und die Schwingen schlagen.



Für die beiden begann ein neuer Lebensabschnitt so wie auch für uns. Das Empty-Nest-Syndrom keimte nicht auf. So sehr man seine Kinder liebt; wir liebten auch unsere Zweisamkeit.





Es war mittlerweile Oktober. Du warst früh morgens zur Arbeit gefahren mit deinem Auto, das für dich einem fahrenden Wohnzimmer gleichkam und kehrtest am Nachmittag zurück. Du machtest dir einen Kaffee mit einem Teelöffel Zucker und hattest dich zu mir gesetzt. Hallo Schatz. Küsschen. Manchmal lagen ein paar Plätzchen bereit. Meggi, unser vierbeiniges Wollknäuel oder weitläufig auch als Hund zu betiteln, warf aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nur noch einen entspannten Blick zu dir herüber, begleitet von einem aufmunternden Gähnen, um sich erneut ihrer schlafenden Tätigkeit zu widmen. Derweil überlegten wir, was am Abend köstliches gekocht werden könnte und stellten entsprechend die Einkaufliste zusammen. Dann machtest du dich frisch, legtest deine Freizeitkleidung an und versprühtest ein wenig von deinem Parfüm. Ich rieche noch heute an dem Zerstäuber.



Eine vertraute Routine, die Rhythmus gab in unserem Leben.





Sicherlich gab es da ein paar störende Elemente in deiner Bauchregion. Etwas Übelkeit und Rückenschmerzen machten dir neuerdings zu schaffen und hin und wieder hattest du Probleme mit Sodbrennen aber manchmal auch einfach zu viel in dich hineingestopft, weil es wieder einmal so gut schmeckte. Du warst ein Genussmensch. Das Leben ist zu kurz, um sich in ewiger Enthaltsamkeit zu üben. Wie oft sollten wir noch daran denken. Doch was die Rückenbeschwerden anging, konnten wir davon ausgehen, dass das noch die Nachwirkungen aus unserem zurückliegenden Baustellenprojekt sein dürften. Die Übelkeit jedoch war neu.





Unser Wohnzimmer hattest du vor etwa zwei Monaten voller Hingabe gefliest und jede einzelne Fliese musste aus der Garage hoch getragen werden. Es waren die größten je von dir verlegten Fliesen. Auch ich hatte die ehrenvolle Aufgabe diese extra aus Italien georderten sechzig mal sechzig Teile mühselig hoch zu schleppen. Keine leichte Sache, denn diese Keramikteile waren einfach schwer und unhandlich. Du musstest sie manchmal wieder runter tragen, Trepp` auf, Trepp` ab, mit der Fliesenmaschine zurecht schneiden, dann wieder hoch bringen und sie letztlich verlegen. Stundenlang rutschtest du auf den Knien durch den Raum. Es war eine beschwerliche Arbeit, die dir dennoch Spaß machte. Ich erlebte dich abermals in deinem Element als Bob der Baumeister. Schon als junger Kerl hattest du auf dem Bau gearbeitet. Es hatte dich fasziniert, zu was ein einzelner Mann alles fähig ist. Ein bisschen Sand und Zement, ein paar Steine, das ganze vermengt mit dem Mörtel und schon stand ein fast bezugsfertiges Haus.



Draußen war es ungemein heiß. Du hattest außergewöhnlich viel geschwitzt. Das Wasser rann dir teilweise den Körper entlang, dass man zusehen konnte, wie der Schweiß tröpfchenweise aus den Poren drang. Dennoch bot sich der Sommer an unser letztes eigenes Baustellenprojekt durchzuziehen, denn so konnten wir die paar Möbel draußen auf der Terrasse zwischenzeitlich lagern. Dort ist es überdacht und tagsüber bot der Sonnenschirm zusätzlich Schutz vor der Hitze. Abends waren wir zwar völlig erschöpft und komplett erledigt, sämtliche noch bewegbaren Knochen inklusive müder Muskelmasse schmerzten, aber wir waren unendlich stolz. Du warst wie immer nicht ganz zufrieden mit deiner Leistung und hattest hier und da eine Stelle gefunden, die du hättest besser machen können. Ich hatte die vermeintlichen Fehler nicht gesehen und war - und bin es noch immer - begeistert.





Es sollte deine letzte Baustelle sein. Nicht, dass wir ahnen konnten, was kommt. Wir hatten nur noch einen Kamin in Auftrag gegeben und danach wollten wir nach vier Jahren der Renovierung und Dauerbaustellen mit unserem kleinen Heim endgültig fertig sein. Du hattest dir für das folgende Jahr zusätzliche Urlaubstage eingekauft, so dass wir im Winter planen könnten, wo die vielen Kurzausflüge und Reisen hingehen sollten. Eine schöne Zeit sollte vor uns liegen.



Nichts deutete auf unsere letzten unbeschwerten Tage hin.






Der Besuch bei deiner Hausärztin Frau Doktor Claudius im Oktober ließ zunächst hoffen, dass es sich lediglich um eine Gallenblasenentzündung handeln könnte. Doch das verabreichte Antibiotika schlug nicht an. Das Blutbild blieb eine einzige Katastrophe. Sie konnte nicht anders, als dich ins Krankenhaus zu verweisen. Es ergab sich keine andere Möglichkeit.





Wir hatten dank einer vor vielen Jahren abgeschlossenen Zusatzversicherung die Variante eines Zweibettzimmers mit Chefarztbehandlung. Eine Empfehlung die ich an dieser Stelle nur aussprechen kann.



Wie sich herausstellte, war dieser Chefarzt eine sehr kompetente Persönlichkeit mit einem guten Gefühl der Dosierung dessen, was ein Patient und die Angehörigen verkraften können. Eigentlich ein sympathischer Mann.



Nachdem aber auch im Krankenhaus die erhöhte Dosis Antibiotika nicht zum erhofften Ziel führte, weiterhin das Blutbild einem Albtraum ähnelte, wurden sämtliche derzeit möglichen bildgebenden und diagnostischen Untersuchungen aufgegriffen und vollständig durchgezogen. Innerhalb von zwei Tagen spulte das Team mit einer professionellen Routine das komplette Programm ab. Ständig warst du zu irgendwelchen Untersuchungen unterwegs. Diese sportliche Taktung rechtfertigte deine Trainingshose, die du bequemlicherweise angezogen hattest.



Schließlich gab es ein Ergebnis.





Ein niederschmetterndes Urteil traf uns wie ein Blitzeinschlag. Das Leben war von einer Sekunde zur anderen nicht mehr das, wie wir es kannten. Dieses Leben, das uns so vertraut war, mit all seinem Charme und Wohlgefallen, war wie aus dem Nichts verschwunden und unwiderruflich ausgelöscht.



Urplötzlich waren wir den Abgrund hinab gestürzt - einfach so - aus heiterem Himmel. Tränen flossen leise die Wangen herunter abgewechselt von lautem Schluchzen. Die Worte waren weg und im Hals stecken geblieben - die Stimme versagte vollends. Unsere Blicke kreisten hilfesuchend durch den Raum. Deine Augen starrten die Decke und Wände an und waren so unbeschreiblich leer und glanzlos geworden. Das Gehirn arbeitete auf Hochtouren und wusste nicht in welche Richtung sich die Gedanken zuerst entwickeln sollten. Ein einzig heilloses Chaos. Wir hatten völlig die Orientierung verloren. Eine Nebelwand türmte sich um uns herum auf. Es wurde dumpf. Wir wollten nichts mehr hören.





Eine andere neue und vor allem fremde Welt öffnete seine Arme. Eine Welt, in die wir nicht wollten, die uns aber immer mehr in ihren Bann zog. Dieser Sog war so unglaublich energiegeladen und stark wie ein schwarzes Loch, das alles rücksichtslos verschlingt. Dieser Dynamik konnten wir nicht entkommen, so sehr wir uns auch dagegen wehrten.

 



Es ist wie in einer Zeitreise - weg gebeamt in eine andere Dimension und verloren im Nichts.



Fassungslosigkeit. Sprachlosigkeit. Unwirklichkeit.



Außergewöhnliche Menschen haben Außergewöhnliches zu erwarten. Du machtest in diesem Fall keine Ausnahme.



Eine recht seltene Form des Krebses hatte dich heimlich befallen und nicht mehr von dir gelassen: Dünndarmkarzinom mit bereits vollständiger Metastasierung der Leber und teilweisem Befall umliegender Lymphe.



Gute Nacht.





Die Nächte waren mal Nächte gewesen. Nachts lagen wir wach, denn an Schlaf war nicht mehr zu denken. Die innere Ruhe hatte für die nächsten Monate Urlaub genommen. Unsere Gehirne aktivierten Areale, die wir bis dato noch gar nicht kannten. Die Hände waren fest miteinander verschlungen, während still und unaufhörlich die Tränen flossen. Die Bettdecken wurden ineinander verschachtelt, um noch die gegenseitige Wärme zu spüren.



Was macht man mit uns? Warum versucht man uns auseinander zu reißen?





Die Nächte wurden zum Tag - die Tage zur dunklen Nacht.



Eine Irrfahrt in das Tal des Todes begann.





Andere lassen sich scheiden oder trennen sich bereitwillig. Wir wollten weder das eine noch das andere, sondern lediglich noch ein wenig Zeit miteinander verbringen dürfen.





Anfänglich hatte ich das alles nicht so recht verstehen wollen und fragte den sympathischen Chefarzt mit Tränen gefüllten Augen:





Was ist mit der Entfernung des Primärtumors?



Die Leber ist vorrangig das Problem.



Ist keine Teilresektion der Leber möglich?



Sind sie vom Fach?



Nein, aber Krebs ist leider keine Unbekannte in unserer Familie.



Nein, in diesem Stadium nicht mehr.



Was bedeutet das?



Wir werden einen Port einsetzen und so schnell wie möglich mit der Chemo beginnen. Jeder Tag zählt.



Übermorgen ist unser Hochzeitstag. Wird das unser Letzter sein?



Na, da werde ich ihren Mann mal nach Hause entlassen. Dann können Sie ihren Hochzeitstag gemeinsam feiern.





Das war Antwort genug. Die Tränen ließen sich nicht mehr unterdrücken.





Ein gebrochener Mann - seiner Kraft und seines Lebenswillen beraubt.



Ich nahm sprachlos deine Krankenhaus-Tasche. Das Auto hatte ich in der Tiefgarage geparkt. Gerne wären wir ins Untergeschoss Abteilung Hölle durchgefahren und nie wieder aufgetaucht, doch diesen Knopf gab es bedauerlicherweise nicht im Fahrstuhl.





Zuhause.





Alles war so fremd und von nun an waren wir Gast im eigenen Heim. Nichts mehr mit Heimspiel oder Heimvorteil. Selbst das gerade renovierte Wohnzimmer mit den wunderschönen Fliesen, die wir lange gesucht hatten, sie waren so matt geworden wie unsere Seelen - die Wände kalt und farblos. Alles um uns herum wurde völlig bedeutungslos und ohne Wert. Dekorative leblose Gegenstände, auf die wir gerne verzichtet hätten, könnte man sie doch eintauschen, gegen etwas das sich Leben nennt.





Der Tod war mit eingezogen - ein Zeitgenosse, den wir nicht hier haben wollten. Leider ist das aber so ein penetranter Typ, der sich nicht an der Tür abwimmeln lässt und einfach seinen Fuß in unser Haus setzte. Ständig schwirrte dieser fortan durch alle Räume. Wir waren nicht mehr zu zweit. Das Trio hatte seine erstklassige Besetzung gefunden mit dem Ziel der Vernichtung all dessen, was wir uns einst mühselig und liebevoll aufgebaut hatten. Wir saßen ab sofort in der ersten Reihe - zu dritt.








Es ging Zug um Zug. Der Port wurde umgehend eingesetzt; ein schneller unkomplizierter Eingriff, der ambulant zu erledigen war - quasi eine Pforte to go für die ganz Eiligen. Die erste Chemo wurde angekündigt und sollte am folgenden Mittwoch beginnen.





Ich hatte nur noch den Wunsch, dich solange wie möglich festzuhalten und mich an dich zu schmiegen, dich zu riechen, dich zu spüren, deine Wärme aufzunehmen und dich nie wieder loszulassen. Dein Atem, deine Stimme, deine Nähe. WIR. Gemeinsam ins Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und einfach nicht mehr wach werden; das hatten wir uns beide gewünscht.



Der Typ spielte aber nicht mit und hatte sich zwischen uns gelegt und unverkennbar breit gemacht. Er hatte einen Keil zwischen uns treiben wollen und mit unseren Gefühlen auf himmelschreiende Weise gespielt.





Mein Wunsch mich an dich zu kuscheln, lehntest du seltsamerweise ab, mit der Begründung, ich könnte mich doch direkt schon mal daran gewöhnen, wie es ist, wenn du nicht mehr da bist. Dabei drehtest du verstohlen deinen Kopf beiseite, damit ich nicht deinen verschämten und unsagbar traurigen Gesichtsausdruck sehen konnte. Dir standen die Tränen in den Augen; es tat dir so unsagbar weh.



Erschrocken und verletzt wendete ich mich zu dir. Ich wollte mich an dich klammern. Festhalten. Festhalten an diesen Moment. Doch dieser blöde Port störte und stülpte sich unnachgiebig nach außen und war nicht zu übersehen. Ein Fremdkörper in deinem Körper neben dem ohnehin schon vorhandenen Fremdling, der sich unaufhaltsam entwickelte. Doch wehtun wollte ich dir natürlich nicht, wenn ich all zu gerne meinen Kopf auf deine Schulter gelegt hätte.



Deine Umarmungen waren auch nicht mehr die, die ich einst kannte; kraftlos und ohne jegliche Lust - wie ein lascher Händedruck. Du warst auf einmal so weit weg und lagst dennoch so nah neben mir. Eine Szene, die bislang nirgendwo im Film zu sehen war; oder ich hatte bis heute die falschen Filme geguckt. Alles nur noch irrational.





Die Nächte waren getrieben von tausenden Gedanken, die in alle Himmelsrichtungen schlugen. Und das Universum ist endlos.





Was wird passieren?



Wie lange kann er noch etwas tun?



Was für Gedanken hat er?



Wie stark werden die Schmerzen?



Wie brutal muss er leiden?



Wie wird das enden?



Wann wird das enden?



Wo wird das enden?



Wie lange wird dieses Elend andauern?



Warum jetzt und nicht später?



Was passiert mit ihm, was passiert mit mir?



Warum er und warum nicht ich?



Warum muss er gehen und muss ich bleiben?



Warum kann ich nicht mitkommen?



Warum ist unsere Zeit abgelaufen?



Wie werden die Kinder damit umgehen?



Wer unterstützt uns in der finalen Phase?



Was ist noch zu erledigen?



Was muss noch unterschrieben werden beim Notar oder sonst wo?



Was bedeutet das?



Was ist das – dem Tod in die Augen sehen?



Verurteilt für etwas, dessen man sich nicht schuldig fühlt. Werden wir das je verstehen?



Schaffen wir das? Blöde Frage. Wir saßen doch in der ersten Reihe. Da gibt es kein Aufstehen und tschüss, ich bin dann mal weg, weil ich das nicht will.





Fremdbestimmt, etwas was wir nicht kannten. Selbstverwirklichung existiert nur scheinbar. Die Endlichkeit stellte sich vor – Neuland für uns.



Wir mussten erkennen, dass unsere Gemeinsamkeit die Sanduhr bald durchlaufen hat.





Das WIR wird es bald nicht mehr geben und sich in nichts auflösen, wie eine Brausetablette in einem Glas Wasser. Einst ein kompakt zusammen gepresster Körper in Form eines homogenen runden Teilchen, das ins Wasser fällt, um sich dort in unendlich viele Einzelteile aufzulösen, bis nichts mehr übrig bleibt. Ein atomarer Zerfall menschlicher Hülle im Wettlauf mit dem Feind.





Ungerecht?



Nein, ungerecht ist das nicht. Das ist Leben.



Dennoch finde ich den Laden da oben schlecht organisiert. Einfach ein falsches Management. Die Prioritätensetzung sollte unbedingt überdacht und anders aufgestellt werden. Aber wem sage ich das.



Es gibt genügend Leute, die schreien abgeholt zu werden und werden nicht erhört. Dann wiederum gibt es Kandidaten, vor denen selbst der Tod Angst hat und es läuft auch ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken – sofern vorhanden. Diese Wesen haben den unschlagbaren Titel als irdischen Ladenhüter erworben, da sie sogar im Reich der Toten ungern gesehen werden – sie sind so unfassbar narzisstisch und zerstörerisch. Dennoch bekommen ausgerechnet diese Kandidaten immer die Zeit, die andere gerne hätten. Saftladen!





Der Tod weiß, wen er zu nehmen hat. Ob er aber weiß, was er tut? Ist der Typ überhaupt vom Fach und hat seinen Job gelernt? Bachelor oder Master oder gegebenenfalls sogar promoviert? Er antwortete nicht. Seinen Lebenslauf bekam man auch nicht zu Gesicht. Sein polizeiliches Führungszeugnis wäre absolut hilfreich, zumal der jetzt bei uns wohnte – Kost und Logis frei; versteht sich, denn das hatte er einfach mal so bestimmt. Man durfte also unterstellen, dass er den Laden wuppt. Er verhandelte auch nicht und somit war folglich auch nichts mit Bestechung oder Korruption. Vertreten lassen wollte er sich ebenfalls nicht. Nun das kann ich ihm nicht verdenken – wer will denn diesen undankbaren Job auch übernehmen? Allerdings ein saisonal unabhängiges todsicheres Geschäft mit Zukunftsperspektive.



Am Ende glaubt er noch ernsthaft eine Bonuszahlung zu erhalten, weil er überzeugt ist, den Job überdurchschnittlich gut gemacht zu haben. Das kann er vergessen.



Trotz alle dem, dem Typen macht man Nichts vor. Strammes Kerlchen.





Wieder ein Morgen und wieder wurde unser gemeinsamer Wunsch, nicht mehr aufzuwachen, ignoriert. Schade! Alles noch einmal von vorne.



Der anfängliche Nebel hatte sich etwas gelichtet. Die Sicht wurde geringfügig klarer aber dadurch nicht besser.





Mittwoch.



Deine Nervosität war geradezu ansteckend, denn die erste Chemo stand dir bevor. Was wird passieren? Wie läuft das ab? Wie reagiert dein Körper? Wird dir auch so schlecht, wie es bei deiner Schwester war?



Anspannung. Vorsichtshalber nahm ich ein paar Tüten mit - falls du dich übergeben müsstest und auch eine kleine Flasche Wasser passte noch in die Handtasche. Das Taxi war bestellt; der Wagen rollte pünktlich auf die Auffahrt. Wir stiegen ein. Natürlich war ich dabei und ließ dich nicht allein, denn schwierige Dinge hatten wir stets gemeinsam bewältigt. Außerdem waren wir schon immer ein unschlagbar gutes Team, das sich perfekt ergänzte. Jeder brachte seine Qualitäten ein, die zwar sehr unterschiedlich waren, aber dennoch absolut harmonisch ergänzbar und gnadenlos unersetzlich. Dieses Paar war einzigartig. Wir schaffen das.



Der Spruch kommt mir bekannt vor, nur aus einem anderen Zusammenhang.





Es herrschte ein Trubel wie beim Schlussverkauf. Man könnte es wörtlich nehmen, denn hier bekamst du deine letzten Infusionen, bis dass der Tod uns scheidet. Voller Anspannung nahmen wir die Herausforderung an. Was blieb uns auch anderes übrig?



Das Personal war freundlich. Anfänglich wirkte alles etwas unorganisiert auf uns. Hier anmelden, dort sitzen, und wo ist überhaupt das Sprechzimmer? Eine kleine Praxis mit wenig Raum. Bei der offensichtlichen Nachfrage absolut ausbaufähig. Ich hätte schon längst über einen Ausbau der Räumlichkeiten nachgedacht. Aber klar, wir waren ja nicht die einzigen, die versuchten ein wenig mit dem Tod zu plaudern, um wenigstens etwas Zeit durch die Chemo rauszuschlagen und da ist dringend benötigter Platz das letzte woran man denkt.



Leider scheinen sich immer mehr dieser ungewollten Problematik stellen zu müssen, denn es war Hochbetrieb.



Wir nahmen Platz auf den seitlich aufgestellten Korbstühlen. Ein frisches Grün mit einer Wandtapete, Modell junges Blatt im Wald, wirkte einladend. Die ersten saßen schon aufgereiht wie an einer Perlenkette in einem mit Licht durchfluteten Raum und erduldeten die Flüssigkeiten, die ihre Adern durchlaufen werden. Wir warteten bis zu unserem vereinbarten Meet and Greet. Der Arzt war ein komischer Kauz, der zwar sprechen konnte, aber gewillt war nur das Nötigste preiszugeben. Dass Männer meist eher wenig reden ist bekannt, doch das hier hatte ganz eindeutig Methode - bloß nicht zu viel Input an die Betroffenen weitergeben. Es könnten Fragen gestellt werden, deren Antworten man eigentlich gar nicht hören möchte. Also lauschten wir dem, was er uns mitzuteilen hatte. Seine herkömmlichen Wurzeln waren auch nicht von hier – eure Gemeinsamkeit. Darüber ließe sich reden, doch nicht heute.

 



Das Gespräch wurde recht kurz gehalten, denn er hatte bereits konkrete Vorstellungen deiner Therapiemaßnahme. Kleine Lagebesprechung und los ging es.



Schaute man jedoch in die Gesichter der Anwesenden, zeigte sich eine Mischung aus Hoffnung und Endgültigkeit. Manchen hatte der Tod unmissverständlich bereits seinen Stempel aufgedrückt; bei anderen wiederum schaute er noch wohlwollend weg. Dennoch hatte der Wettlauf gegen die Zeit auch für sie begonnen. Ein Entweichen war auszuschließen, dank dieses aufdringlichen und unnachgiebigem Typen von oben, der so unscheinbar wirkte und dennoch auch hier seine Präsenz hatte.





Bei uns hatte der Wettlauf mit der Zeit ebenfalls begonnen, da uns irgendwie klar war, oder zumindest mir, dass ein Jahr – durfte man dem eigentlich so netten Chefarzt Glauben schenken - schnell vorbei sein wird. Du hattest noch ein wenig Hoffnung auf geringfügig mehr Zeit. Ich hatte dir nicht widersprochen – solltest du deinen Glauben an ein wenig mehr Gemeinsamkeit doch behalten dürfen.





Du nahmst in einem bequemen Sessel Platz. Ich setzte mich direkt neben dich; dieser Stuhl war derzeit noch frei. Die Infusionen starteten; der unter der Haut liegende Port fand seinen ersten Einsatz. Ich versuchte unauffällig die Aufkleber der kleinen Ampullen mit dem Handy zu fotografieren, während die Schwestern fortlaufend die Plastikflaschen wechselten. Wörter, die ich bis heute nicht kannte, speicherten sich in meinem Gedächtnis ab: Bevacizumab, Folinsäure, Oxaliplatin, Fluroruracil. Es klang wie Chemie pur aus dem Waschmittelbereich. Sollte es auch, denn es galt den Dreck sauber zu kriegen und rauszuwaschen so gut es ging. In deinem Fall leider nur ein kleines Einweichprogramm, denn reinigen wurde unmöglich. Die entarteten Zellen sollten in ihrem Wachstum lediglich gebremst werden, sich Zeit lassen, bis sie irgendwann geradezu exponentiell explodieren werden.



Geschlagene vier Stunden dauerte die erste Sitzung. Anstrengend. Wir orderten das Taxi für die Rückfahrt und waren froh diese Premiere bestanden zu haben.





Es ging dir soweit gut. Wir waren positiv gestimmt. Der nächste Morgen bereitete dir ein Frühstück aus einem kunterbunten Pillen-Cocktail, den du widerwillig schlucktest. Du kanntest es nicht krank zu sein und hattest immerzu jegliche Art von Tabletten im Bedarfsfall gemieden.



„Was von alleine kommt, geht auch von alleine“ waren stets deine Worte.



Stimmt manchmal, aber leider nicht immer.





Du warst ab sofort durch deine Hausärztin für arbeitsunfähig deklariert worden. In dem speziellen Fall handelte es sich durchgehend um vier Wochen bis auf Weiteres.



Nun warst du dauerhaft zu Hause und hattest deine Einzelhaft angetreten – zu finden warst du im hauseigenen Todestrakt. Ein Luxus blieb der Freigang, den du noch aufgreifen konntest an den Tagen, an denen ich arbeitete. Dann machtest du mittags mit unserer kleinen Gouvernante Meggi, einer Labradormix-Hündin, deine kleinen einträchtigen Runden, die dir anfänglich noch ein wenig das Gefühl von Freiheit und Selbstständigkeit gaben. Die frische Luft berührte sanft deine Haut, die Bäume reihten sich beidseits auf, während du noch aufrecht den Weg entlang schlendern konntest – noch spürtest du das Leben.





Inzwischen war November, der Monat der Toten und du hattest ihn überlebt – den Monat.



Meinen Geburtstag ließen wir eher beiläufig passieren; er war in diesem Jahr ein Tag wie jeder andere auch. Gemischt mit Tränen und sich immer wiederholender Textpassagen, die wir mantraartig rezitierten, entwickelten wir uns zu unseren eigenen Therapeuten. Warst du schlecht drauf, hatte ich vielleicht die Kraft dich zu stützen und umgekehrt. Im schlimmsten Fall hatten wir beide das heulende Elend. Dann musste ich die verwischte Schminke retuschieren, denn für mich ging es allein schon wegen Meggi immer nach draußen. Sie war unser kleines Taschentuch und spürte, wenn die Stimmung mal wieder zu kippen drohte. Schwänzchen wedelnd lud sie uns auffordernd ein, ihre verschiedenen hervorgebrachten Spielzeuge, wie das quietschende Gummischwein oder den Plüschhasen mit abgeknabberten Ohren aber Glöckchen am Hals, zu begutachten und sie zu streicheln. Wie ein Schatten blieb sie ständig in unserer Nähe. Sie wollte einfach nur da sein: In guten sowie in schlechten Zeiten. Einst unser Slogan, bis dass der Tod uns scheidet.





Ich versuchte hingegen den Alltag solange wie möglich aufrecht zu erhalten. Also ging ich weiterhin arbeiten und nahm mir frei, um dich anfänglich bei der Chemo zu begleiten. Zumindest die ersten Male stand ich an deiner Seite, bis du den Mut fandest alleine hinzugehen. Deinen behandelnden Arzt nannten wir von nun an deinen neuen Chef - Jobwechsel. Ab sofort hattest du einen Chauffeur gestellt bekommen. Es klang fast wie eine Beförderung - eine komische Vorstellung. Dein neuer Chef entschied über deinen Behandlungsplan und deine freien Tage und so musstest du einmal wöchentlich zum Dienst. Wir verständigten uns auf den Donnerstag, da ich dich dann gegebenenfalls begleiten konnte, denn donnerstags und freitags musste ich derzeit nicht arbeiten. Ursprünglich wäre das immer ein schönes verlängertes Wochenende geworden.



cambia programma - Programmwechsel





Zum Glück bin ich Teilzeitkraft und konnte somit alles einigermaßen unter Dach und Fach bringen - zumindest zeitlich betrachtet. Emotional durchliefen wir eine toxische Achterbahn der Gefühle.





Meine Kolleginnen und Kollegen auf der Arbeit wussten über die mehr als angespannte und schwierige Situation bei mir zu Hause Bescheid. Meine Chefin versuchte ihr Möglichstes – und schaffte es auch – wann immer ich freigestellt werden wollte, um dich zu unterstützen, mir frei zu geben. Es blieb für alle eine unlösbare Aufgabe.



Ich war verletzlich geworden und ein Spiegel deiner Erkrankung zeigte sich in meiner Verwundbarkeit und meiner Instabilität der Emotionen. Sie waren nicht mehr kontrollierbar; ungewollt traten Tränen hervor und ließen sich nicht verbergen.



Das Kollegium behielt mich stets im Auge. Sie nahmen mich tröstend beiseite, gaben mir Zeit mich wieder zu finden und redeten ganz offen, wenn ich es zuließ. Zu gerne würden sie mir irgendwie helfen. Doch immer stand die Frage des „Wie“ im Raum. Sie waren einfach da und das tat gut.





Oft hatte ich gedacht den heutigen Tag nicht zu schaffen und nach Hause gehen zu wollen zu dir. Doch ich biss die Zähne zusammen, da ich immer im Kopf hatte, dass unsere schlimmste Zeit noch kommen wird; ich dann aber für dich da sein werde. Vierundzwanzig Stunden, rund um die Uhr, Tag und Nacht bis zum bitteren Ende.



Die Kunden waren weit weg. Es war unvorstellbar, mit welch kleinen Zimperleien und Problemchen sie tatsächlich meinten den Alltag durchlaufen zu müssen. Diese Sorgen hätte ich gerne. Oder nein, denn das sind keine Sorgen, sondern war teilweise einfach nur peinlich, wenn man das als Problem bezeichnete, was sie einem so manches Mal vortrugen. Ihr Tag schien gespickt zu sein mit ganz gewöhnlichen Banalitäten, die jedoch zum Desaster umgestaltet wurden.



Es gibt für einige unter uns noch viel zu lernen im Leben.



Gezwungenermaßen war ich da auf einer anderen Stufe, der Stufe im Erdgeschoss, wo grundlegendes Basiswissen, was einem im Leben glücklich macht, vermittelt wurde. Und das ist unsagbar wenig: Kein Luxus, keine Gier, kein Ich.







Sehnsüchtig wartetest du auf mich, wenn ich von der Arbeit zurückkehrte. Du hattest anfangs noch auf dem Sofa gesessen mit Blick zur Eingangstür. Der Fernseher lief und du kanntest die Mittagssendungen schon nahezu auswendig. Ich öffnete die Haustür und war nun zurück auf der Basisstation. Es koexistierten zwei Parallelwelten: Eine draußen - das war die Welt sobald ich die Pforte des Hauses überschritt, wenn ich arbeiten ging, um dort meine Bühne zu betreten, mit dem Hund rausging in die Natur oder einkaufte für die Nahrungsaufnahme. Die andere Welt war die mit dir. WIR waren noch da. Noch gab es UNS. Unsere kleine Höhle, in die wir uns Schutz suchend zurückziehen konnten war zur Enklave geworden - unser Island mitten im Leben.



Sämtliche sozialen Kontakte hatte ich komplett auf Eis gelegt. Keine Spielabende, keine Partys, kein Kaffeetrinken, keine sonstigen Belustigungen.



Ich habe es nie bereut und würde es jederzeit genau so machen. Die Gedanken waren doch ohnehin immer bei dir. Wie kann man fröhlich in geselliger Runde mit anderen über den Alltag und das Nichts reden? Es ging einfach nicht. Natürlich war ich immer wieder aufgemuntert worden ihren Einladungen zu folgen, doch vorbei zu schauen auf ein Tässchen Kaffee. Aber