America´s next Magician

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Aus der Reihe: Magician-Dilogie #2
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Das Grauen ruht auch in der Gegenwart nicht


In der Luft über Li erschien ein Lichtkegel.

Ein grauhaariger Mann mit dicker Hornbrille und grauem Dreireiher war darin zu sehen. Seine goldene Uhrenkette bewahrte die zugehörige Taschenuhr gerade so vor dem Absturz, indes er mir enthusiastisch zur Begrüßung zunickte.

Ich nickte respektvoll zurück.

»Wenn er klug ist, geht er nach der Abweisung nicht in Berufung!«, sagte Richter Homayer ohne irgendwelche Vorworte.

Ich hatte ihm eine Nachricht geschickt, in der ich ihn um eine private Konferenzschaltung unserer Nanobots gebeten hatte.

»Es ist keine Pflichtverletzung des Landes California festzustellen«, bekräftigte der Richter bereits, was er mir schon einmal gesagt hatte. »Wodurch sollte diese begründet sein?«, fuhr er fort. »Die Zivilisten sind aufgrund unglücklicher Umstände zum tragischen Opfer geworden.«

»Und wenn er doch in Berufung geht?«, wollte ich ängstlich wissen. Mir war klar, dass man sich bei dieser Klage nur zum Feind des Volkes machen konnte.

»Nun, dann ist das Land California dafür nicht zur Verantwortung zu ziehen. Die interessante Frage wird dann eher sein: Von welcher Waffenart sprechen wir bei diesem Drohnenangriff – mit oder ohne KI? Haben sie autonom oder auf Befehl gehandelt? Deshalb hält sich der Kaiser schließlich noch immer bedeckt, nicht wahr? Oder anders gefragt: Wer hatte Schuld, dass es Opfer gab? Die Maschinen? Jemand, der sie steuerte, ihnen den Befehl gab, einen Knopf drückte? Und sind programmierte Algorithmen einer KI auch ein Befehl eines Menschen, der Schuld hat, wenn die Maschine danach handelt? Äußerst komplexe Fragen, die alle von unserer Gesetzgebung nicht geklärt sind, weil der Kaiser sowie die Gildenoberhäupter eine Weiterentwicklung der Waffengesetze seit Beginn der neuen Weltordnung unterbinden.«

Das brachte mich zum Nachdenken. Insbesondere, weil ich tief in mir hoffte, dass Ivan als Kardinal der Blauen Garde nicht dafür belangt werden konnte. Schließlich hatte er nichts damit zu tun gehabt. Es gab so viel zu beachten. So viel stand auf dem Spiel. Die Technologie hatte sich seit der Umbrüche weiterentwickelt, die Gesetze aber nicht. Wie konnte das sein? Was hatte der Kaiser all die Jahre gemacht? Sich zurückgelehnt? Alles verschlafen?

Anscheinend, gab ich mir selbst die wenig befriedigende Antwort, hatte jedoch auch immer mehr das Gefühl, dass es durch die klaffenden Lücken in der Rechtsprechung schwierig werden würde, California erfolgreich zu verklagen. Ruhiger lehnte mich ebenfalls zurück. »Besten Dank. Für den schnellen Anruf und Ihre Zeit. Das weiß ich sehr zu schätzen«, ließ ich Richter Homayer wissen. »Das Thema nochmal durchzusprechen hat mich beruhigt.«

»Immer gern. Wenn Sie Fragen haben, zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren. In ein paar Minuten muss ich in eine Sitzung. Wir hören voneinander.«

Der Lichtkegel von Lis Projektion erlosch.

Das Gespräch war zu Ende.

Alles, was Richter Homayer bereits zur Vereitlung der Klage an Formulierungen im Vorfeld an mich weitergereicht hatte, war längst präventiv in meine Regierungserklärung eingeflossen und veröffentlicht. Hoffentlich beruhigte sich die Lage bald.

Nach einem weiteren Blick auf den ausführlicheren Untersuchungsbericht war ich damit zufrieden und unterzeichnete auf der letzten Seite mit blauer Tinte. Geschwind zog ich eine Schublade des Sekretärs auf und holte meinen Regentenstempel hervor. Ich packte schwungvoll Stempel und Stempelkissen auf das gewienerte Holz der Platte. Ein letztes Aufklappen, die leichte Drehbewegung des Stempels auf dem Stempelkissen, um die blaue Farbe aufzunehmen und schon setzte ich meinen persönlichen Stempel neben meine Unterschrift.

Offizieller konnte ich es nicht machen – wünschte mir, dass das und die geplante Trauerfeier Ende der Woche ausreichten, um einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen. Um die Schrecken dieses Tages langsam zu vergessen, denn das Grauen ruhte auch in der Gegenwart nicht.

Es hatte Anschläge gegeben. Ein Toter hier, ein Toter da. Scheinbar willkürlich und doch nicht willkürlich genug, um reiner Zufall zu sein. Immerhin willkürlich genug, um kein allzu großes Aufsehen zu erregen.

Noch.

Rayn beschäftigte sich in meinem Namen näher mit der Angelegenheit. Ein toter Magician wäre als Kollateralschaden irgendwelcher Machtkämpfe möglich. Das, was sich in California unter den magisch begabten Bürgern abspielte, schienen allerdings gezielte Attentate zu sein, oder vielmehr das Werk von Rebellen, die im Untergrund agierten – so vermutete Rayn.

Doch wozu brachten sie wahllos Magicians um? Weil sie sie hassten? Ganz allgemein magisch Begabte hassten? Wie konnte dann die größte Rebellin von allen eine durch und durch magisch begabte Frau sein? Das ergab keinen Sinn.

Ich weigerte mich just, von ihr jemals wieder als meine Mutter zu denken. Meine Mutter und mein Vater waren für mich gestorben. Nur so konnte ich all die schmerzhaften Erinnerungen zum Thema Familie ganz hinten, in eine Ecke meines Gedächtnisses packen. Dass sie mich irgendwann wieder heimsuchen würden, wusste ich. Ich hoffte nur, dass es nicht allzu bald sein würde und die Zeiten dann ruhiger wären. Sodass ich mir Zeit nehmen konnte, mich damit auseinanderzusetzen. Zeit, die ich jetzt nicht hatte.

Die Anschläge häuften sich.

Noch hofften wir, eine Verbindung zwischen den Opfern zu finden, abgesehen davon, dass sie Magicians waren. Noch hatte ich keine öffentliche Warnung herausgegeben. Bald würde ich es tun müssen.

Stirnrunzelnd verstaute ich meine Stempelutensilien wieder im Sekretär und raffte die Pergamentbögen zusammen, die Yasemine für mich einscannen und an alle Medien weiterleiten würde.

Gerade als ich mich erhob, öffnete sich die Tür.

Zwischen den Attentaten


Alte Scharniere quietschten leise, als Rayns braune Locken im Türrahmen auftauchten. Sie umgaben seinen Kopf so ungezähmt wie eh und je. Der heutige schwarze Anzug saß perfekt, betonte die breiten Schultern. Neben seinen schwarzen Halbschuhen drückte sich jedoch das Ende eines ebenso glänzenden schwarzen Stocks in den Boden, da er sich schwer darauf stützte.

Seine Vorfahren hatten vor über fünfzig Jahren auf der falschen Seite gekämpft. Und seine Eltern hatten gar gegen den Rat der Magicians mit den Politikern der alten Welt paktiert. Das hatten sie bitter bezahlt – mit ihrem Leben. Und er – damals noch ein kleiner Junge – war später vom Kaiser gezwungen worden zuzusehen, wie das Leben aus ihren Körpern entwich. Wie Magie es aus ihnen herausgepresst hatte.

Im Verlauf der Regentschaftswahl und der Zeit danach war Rayn mehrmals bereit gewesen, sein Leben zu geben – für mich, für eine bessere Welt und alles, was dafür nötig war. Er war einer der wenigen, denen ich absolut vertraute.

Als mein Blick nun auf seinen angespannten Gesichtsausdruck fiel, entwich mir geräuschvoll die Luft, die noch in meiner Lunge gewesen war. Er brachte anscheinend keine guten Nachrichten. »Wie gefährlich ist die Lage?« Ich verharrte in der Bewegung und wartete ab. »Wer ist nun tot?«, zu fragen, fühlte sich zu plump an.

Sein Kinn hob sich, Stolz sprach aus seiner Haltung, trotz des Stocks. »Es gab kein weiteres Attentat, aber wir haben neue Erkenntnisse aus den bisherigen Spuren gewonnen. Sie haben handelsübliche Spielzeugdrohnen benutzt und diese mit allem Möglichen bestückt. Hauptsache, es zerstört einen gewissen Umkreis.« Er trat mehrere Schritte in den Raum hinein, kam auf mich zu.

Erst jetzt bemerkte ich den Pergamentbogen, den er in der freien Hand hielt und nun vor mich auf dem Sekretär ablegte.

Ich ließ mich wieder auf den Stuhl dahinter sinken. Wusste genau, dass er es nicht schätzen würde, wenn ich ihm die Sitzgelegenheit angeboten hätte.

Dann tippte Rayn mit dem Zeigefinger darauf. »Sie wurden auch zum Ausspähen verwendet.«

Das Foto zeigte eine unscharfe Aufnahme, die eine kleine Drohne in der Luft über dem Haus des letzten Opfers abbildete. Nach dem Zeitstempel am Rand war sie nur fünf Minuten vor dem Attentat entstanden. Sicherlich kein Zufall.

»Woher hast du das? Wer hat es gemacht?« Das Beunruhigendste an den Anschlägen war bisher nämlich die Tatsache, dass es keine brauchbaren Überwachungsbilder davon gab. Das konnte ein Zufall sein. Eigentlich glaubte ich aber nicht daran. Jeder Bürger Californias wuchs in dem Wissen auf, dass jede Tat, jede Handlung aufgezeichnet und überwacht wurde – doch von den Anschlägen gab es keine Aufnahme, die die Täter oder auch nur den Tatzeitraum zeigte. Es war fast, als wären sie aus den Aufzeichnungen getilgt worden oder besaßen Informationen über die toten Winkel der Überwachungstechnik. Ich hatte sofort Lanahaa im Verdacht gehabt, doch saß sie in einer Zelle im kaiserlichen Palast, umgeben von weißer Magie, die sie ruhigstellte. Also praktisch in einem magischen Käfig ohne jegliche Verbindung nach außen. Von dort sowie in ihrer Verfassung konnte sie keine Angriffe koordinieren. Und die Flugbahnen der Aufklärer inklusive toter Winkel änderten sich ständig.

Rayn schüttelte unwillig den Kopf. »Es ist ein Ausschnitt aus den Aufnahmen von einer der Überwachungsdrohnen, die Tekre Industries über California fliegen lässt. Sie haben es uns, auf unsere Standard­anfrage nach ›verdächtigen Aktivitäten‹ zum Standort und Zeitpunkt des letzten Attentats hin, geschickt. Und mir versichert, dass sie den Luftraum im Auge behalten.«

 

Soso. Tekre Industries zeigte also guten Willen. »War noch etwas Hilfreiches zu sehen?«, fragte ich hoffnungsvoll und dachte im gleichen Moment, dass Rayn dann vermutlich noch mehr Fotos mitgebracht hätte.

»Nein.« Er schüttelte wie vorhergesehen noch einmal den Kopf. »Die Drohne ist auf eine bestimmte Umlaufbahn programmiert, sie war zum Zeitpunkt der Explosion längst wieder weg.«

»Verdammt!« Vor ihm gestattete ich es mir zu fluchen. »Wäre auch zu schön gewesen.«

»Das kannst du laut sagen.« Seine Augen verdunkelten sich. »Immerhin haben wir zusätzlich das Ergebnis der Analyse der Überbleibsel des neuesten Attentats. Es ist wie bei den letzten: An der Drohne, die den Schaden angerichtet hat, waren kleine Granaten – wahrscheinlich mit den Stiften nach unten – angebracht worden, bevor man sie zum Abstürzen gebracht hat.«

»Mhm«, machte ich nur. »Um durch den Aufprall am Boden genug Druck für die Detonation auf die Zünder auszuüben.«

»Genau.«

Die Attentäter bastelten sich also das, was sie brauchten, selbst zusammen. Das machte es schwieriger, ihnen auf die Spur zu kommen. Es bedeutete keine oder verschiedenste Seriennummern von Einzel­teilen. Keine Trackingmöglichkeit wie bei hochwertigen Waffen und damit fast keine Möglichkeit, die Herkunft des Materials zurückzuverfolgen und den Käufer beziehungsweise Täter zu finden. Trotzdem würden wir nicht aufgeben. Nicht, wenn Menschenleben auf dem Spiel standen. Wir würden sie fassen! Hoffentlich früher als später.

»Such weiter nach Zusammenhängen zwischen den Attentaten. Es muss welche geben! Und mach mir einen Termin bei Tekre Industries. Ich will mit eigenen Augen sehen, an was sie dort aktuell basteln!« Obwohl ich nicht glaubte, irgendwelchen Beweisen auf die Spur zu kommen und mir sicher war, dass längst alles vernichtet oder versteckt worden war, was das Unternehmen mit Lanahaas Machenschaften oder den jetzigen Anschlägen der Rebellen in Verbindung bringen könnte, wollte ich es mir nicht nehmen lassen, ein bisschen im Wespennest herumzustochern.

Rayn räusperte sich überrascht. »Natürlich. Solange ich bei deinem Herumgeschnüffel außen vor bleibe.« Dann spekulierte er: »Die Art der Attentate, also die Technik und die nichtmagischen Waffen lassen vielleicht auf magisch unbegabte Menschen als Täter schließen.«

Darüber dachte ich kurz nach.

»Könnte sein«, gab ich zu. »Die Mehrheit der Menschen ohne unsere Begabung ist mit der Herrschaft der magischen Elite einverstanden. Sie kümmern sich nicht um Politik. Ich würde so weit gehen, ihnen zu unterstellen, dass sie froh sind, dass bei den Regentschaftswahlen Magicians antreten müssen – dass die Pflicht des silbernen Briefs nie auf sie oder ihre Kinder fallen wird. Sie freuen sich womöglich sogar deshalb umso mehr über das Leid der Kandidaten«, sprach ich leise aus, was ich dachte. »Der Kaiser benachteiligt sie sozusagen zu ihrem eigenen Vorteil. Aber dass sie sich der Gefahren der Aufgaben nicht aussetzen müssen, bedeutet auch, dass sie nie regieren werden – in keinem der fünfundzwanzig Länder des Kaiserreiches. Und genau das kreidet eine Minderheit der Nichtmagischen uns schon immer an.«

»Ja, wir benachteiligen sie. Aber wir waren seit jeher in der Minderheit.« Rayn wirkte erzürnt. Er klopfte unbewusst mit seinem Stock gegen den Sekretär, als er sich bewegte. »Wir haben uns ewig versteckt, haben unsere Begabungen für uns behalten. Konnten diese nur heimlich und in Furcht zum Guten einsetzen, weil wir als Hexer und Hexen verschrien wurden. Weil wir von den Nichtmagischen in manchen Zeitaltern gar gefoltert, verstoßen und ausgegrenzt wurden – weil wir anders waren«, hielt er dagegen. »Wäre das nicht so gewesen, hätte sich der Rat nie erheben müssen. Alle Menschen hätten seit jeher in vollem Bewusstsein ihres jeweiligen Wesens friedlich zusammen gelebt!«

Und seine Eltern würden noch leben, vervöllständigte ich stumm, was er nicht aussprach. »Du hast ja recht«, beschwichtigte ich ihn. »Das Mittelalter ist längst vergangen. Sie werden uns nie wieder ungestraft wegen unserer Natur an den Pranger stellen. Vor etwa fünfzig Jahren kam vieles anders, als die meisten erwartet haben.« Sinnend blickte ich auf meine Hände.

Rayn nickte zustimmend. »Die Magicians erkannten die Notwendigkeit, aus den Schatten zu treten. Mit gutem Grund! Naturkatastrophen und sinnlose Politik hatten unsere Welt an den Abgrund geführt – das bestreite ich nicht. Die Aussicht, kämpfend zu sterben, war allemal besser als die, tatenlos zu sterben. Es war an der Zeit, etwas zu verändern. Die Frage ist nur, ob die Weltordnung zum besseren verändert wurde.«

Stille trat ein.

»Wie sich gezeigt hat, sind wir wenigen gar nicht so wenige und vor allem viel stärker. Es ist eine Schande, dass wir uns so lange versteckt haben«, setzte Rayn schließlich hinzu. »… nicht früher zusammengeschlossen haben. Ich meine nicht zu den Geheimbünden, die existierten, sondern zu etwas Mächtigem wie dem Rat. Und dass selbst dieser nicht wusste, wie viele ihr wahres Ich versteckt hielten und sich dadurch erst so spät erhob. Wenn ich daran denke, was heute alles anders sein könnte, wenn es mehr Verständnis für Magie gegeben hätte.«

»Mhm.« Meine Gedanken machten sich selbstständig. »Glaubst du, das ist einer der Gründe für das Prozedere der Regentschafts­wahlen? Ich meine abgesehen von der Suche nach dem stärksten Magician – Blablabla –, was des Kaisers Propaganda eben von den Häuserdächern schreit«, überlegte ich laut. »Dass die Nichtmagischen alle fünfundzwanzig Jahre daran erinnert werden sollen, dass sie niemals mit einem Magischen mithalten können. Daran erinnert werden, was passiert, wenn wieder Krieg herrscht. Wie viele wir töten könnten, bevor sie auch nur zucken. Dass Magie die mächtigste Gewalt des Universums ist«, erklärte ich weiter. »Dass sie froh sein sollten, wenn sie in Ruhe ihr Leben leben können – weil wir die Naturkatastrophen mit unserer Magie eindämmen.«

»Du meinst, da steckt ein tieferer Sinn hinter der Art und Weise der Regentschaftswahlen?« Ein seltsamer Ausdruck erschien plötzlich auf Rayns Gesicht. »Führt man die Überlegung fort, drängt sich mir die Vermutung auf, dass die Grausamkeit des Prozederes vielleicht gleichzeitig den Unmut der Nichtmagischen uns gegenüber abmildern soll. Eine Art verquere Wiedergutmachung für ihre Entmachtung.« Rayn sah völlig schockiert aus.

»Na ja«, murmelte ich, nun von meinem eigenen Gedankengang abgestoßen. »Es lässt sie auf jeden Fall hinterfragen, was Magicians erklärten Feinden antun, wenn wir uns Abscheulichkeiten wie die Regentschaftswahlen – aus ihrer Perspektive – selbst antun.«

»Du meinst, der Kaiser uns antut. Warum auch immer er das tut?«, korrigierte Rayn mich stirnrunzelnd. »Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass der Rat dieses Prozedere so erdacht hatte. Ich glaube längst nicht alles, was die kaiserliche Kommunikation verbreitet. Aber ja, vielleicht hat das Konzept eine Weile funktioniert. Und jetzt … war alles zu viel. Die Grausamkeit der Wahl, Lanahaas Aufbegehren, all die Magie, die Toten. Womöglich sehen die Attentäter derart bösartige Kreaturen in uns Magicians, dass gerade die Angst vor uns sie zu ihren Taten antreibt.«

»Man kann es ihnen nicht einmal verübeln«, murmelte ich und dachte daran, wie der Kaiser Rayns Eltern mit Magie zu Tode gequält hatte; wie Lanahaa mich mit der Wolkenschlange getäuscht und gefoltert hatte.

Im Headquarter von Tekre Industries


Bereits am Mittag des nächsten Tages kletterte ich, auf einem abgesetzten Teil des Daches des Hauptgebäudes von Tekre Industries, behände aus einer der Verkehrsdrohnen von California, die ich nun als Regentin zur Verfügung hatte. Die Sonne stand hoch am Himmel. Ein Hauch kühler, angenehm salziger Meeresluft wehte mir um die Nase.

Ich atmete tief ein.

Die Zentrale von Tekre Industries war ein beeindruckender Bau. Über dem viereckigen mehrstöckigen Bauch des Hauptgebäudes ragten an den Seiten vier Metalltürme in die Höhe, die Schatten auf unsere Köpfe warfen. Einer wurde von einer Kuppel gekrönt, zwei hatten oben Querstreben und ahmten die Form großer Waffenläufe nach. Außerdem gab es seitlich von mir, vom Landeplatz aus einen extra Zugang zum Hauptgebäude.

In meinem neuen, für mich geschneiderten Hosenanzug in Blau und mit Yasemine an meiner Seite fühlte ich mich gerüstet, den Machenschaften des ehemaligen Unternehmens meiner Familie auf den Grund zu gehen. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde, war aber äußerst neugierig. Tekre Industries war die größte Firma im Nachrichtentechnik- und – wie ich dank Rayn seit dem letzten Tag der Regentschaftswahl wusste – Hightechwaffengeschäft in Eterny, womöglich sogar des ganzen Planeten.

Dementsprechend pompös sah das Headquarter aus.

Fenster spickten besagte Metalltürme und ließen erahnen, dass dort Büroräume, Labors oder was immer sie bei Tekre Industries vorherrschend hatten, untergebracht waren. Zwischen den beiden Türmen mit Querstreben verlief hoch oben ein Durchgang. Davon ging eine senkrechte Rampe ab, die zuerst nach unten und dann, auf einen großen Pfeiler abgestützt, in einem Winkel bis zur Erde reichte. Die einzelnen Bauabschnitte wurden jeweils von einem gläsernen Dach gekennzeichnet.

Die Rampe erinnerte mich an die von Raffinerien oder an Schächte aus alter Zeit. Was wurde hier transportiert? Material? Menschen? Maschinen? Oder diente sie einem ganz anderen Zweck?

Ich wandte mich zu meiner Begleitung.

Yasemine manövrierte gerade vorsichtig erst den einen Fuß mit hochhackigem Pump, dann den anderen aus der Drohne, bevor ein rosafarbenes Kleid in Wickeloptik folgte, in dem ihr perfekt zurechtgemachter Körper steckte. Das purpurfarbene Haar, die rostroten Fingernägel und die blauen Kontaktlinsen, die ihre Augen übernatürlich strahlen ließen, machten sie zum Hingucker schlechthin.

Sie hatte zu ›PR-Zwecken‹ mitkommen wollen, um ›Connections zu knüpfen‹. Je länger ihr Ausstiegsmanöver aus der Drohne dauerte, desto sicherer war ich mir, dass das hier ein ›sehen‹ und ›gesehen werden‹ für sie war und nichts anderes. Wie konnte sie auf den Absätzen gehen und in dem extrem engen Kleid atmen? Eines der vielen Mysterien, die sie umgaben.

Allerdings konnte ich ihr die Neugier auf Tekre Industries nicht verdenken. Meine war schließlich auch nicht gering und mit ihrer unkomplizierten fröhlichen Art, dem guten Aussehen sowie ihrem Charme würde Yasemine mich vielleicht davor bewahren, an den sicher sehr technisch denkenden Ingenieuren zu verzweifeln.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete ich die urbane Techniklandschaft. Das hier war eine ganz andere Welt als das Regentenschloss. Den Anstrich des Alten, des Historischen suchte ich vergebens. Einzig der blaue Himmel über uns war wohl überall in Tekre gleich. Der Zeitgeist von 2086 war das vorherrschende Element im Headquarter. Reiner Stahl, großflächiges Glas und vereinzelte Pflanzen wetteiferten mit Displays, Rohren und anderen Metallen um den zur Verfügung stehenden Raum.

Von Faszination getrieben, machte ich ein paar Schritte auf die nahe Dachkante zu und blickte schräg vor mir auf den etwas abseitsstehenden größten und damit fünften Turm: Das Vorstandsgebäude. Darin befanden sich die Hochsicherheitslabors und ganz oben, in der Spitze, die Büroräume des Vorstands – das wusste ich von Lanahaa.

Ich schluckte, als ihr Gesicht verschwommen in meiner Wahrnehmung auftauchte. Dort hatte sie gearbeitet. Von dort aus hatte sie ihre Pläne geschmiedet – nahm ich an. Wahrscheinlich auch, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass ich in unserer Wohnung nichts davon mitbekommen hatte.

Der Turm wirkte exponiert, gleichzeitig war ich mir sicher, dass diese Position bewusst gewählt worden war. Das Vorstandsgebäude war eine Festung, ein Kontrolltower. Obwohl es nur ein Gebäude war, hatte ich das Gefühl, dass die Macht und die Machenschaften, die dort gehegt wurden, bis hierher spürbar waren. Der Vorstand bestand aus mehreren Magicians und auch magisch unbegabten Menschen, die mit Sicherheit alle ihre eigenen Ziele verfolgten.

 

Gänsehaut überzog meine Arme. Ich fröstelte schlagartig in der Mittagssonne.

»Miss Streisand, willkommen in der Cityscape von Tekre Indus­tries«, riss mich eine angenehme Stimme aus meiner stummen Beobachtung. »Wir haben Sie schon erwartet.«

Langsam drehte ich mich um und musterte einen Mann mit kurzem braunen Haar, blauem Anzug, blauem Hemd und blauen Schuhen, der auf Yasemine und mich zukam. Sein Gesicht war faltenfrei, der Ausdruck zwischen nett und zu glatt – schwierig einzuschätzen.

Indes ich nur nickte und die kurze Distanz von meiner aktuellen Position zurück zu der Verkehrsdrohne überbrückte, zwitscherte Yasemine: »Wie passend! Die Verschmelzung von Stadt und Landschaft – City und Landscape: Cityscape.«

Der Mann deutete ein Lächeln an. Dann machte er mit der Hand eine ausholende Bewegung. »All das hat sich über die Jahre entwickelt. Forschung und Realität sind verschmolzen und werden es weiterhin tun. Wir erfinden nicht nur Neues, wir leben und erleben es, bevor es zum Kunden geliefert wird.«

Das klang ja sehr nach Verkaufsargumentation. Oder bekamen alle Ingenieure hier eine Schulung für Floskeln? Ich hatte nicht erwartet, von einer ganzen Delegation begrüßt zu werden, schließlich war das ein Besuch, der nicht unbedingt das Augenmerk der Öffentlichkeit erregen sollte. Aktuell machte mich wohl auch mein Nachname zu einer Art Persona non grata, die man hier nicht dulden wollte, aber musste. Kurzum: Ich war aus nachvollziehbaren Gründen nicht die beliebteste Besucherin aller Zeiten des Unternehmens. Trotzdem … Sie schickten einen Mann?

Ich drehte den Kopf von rechts nach links. Da waren die Drohne, Yasemine, ich, der Fremde und unser Pilot, der hier auf unsere Rückkehr warten würde, um uns später wieder zum Schloss zu bringen. Ich hatte bewusst auf zusätzliche Drohnen, meinen Nanobot und jegliche Robobots verzichtet. Wir würden hier bei der ersten Sicherheitsschleuse sowieso alles zurücklassen müssen.

Allerdings hatte ich die Geringschätzung, die man mir entgegenbrachte, unterschätzt. Denn wie sollte ich es sonst deuten, dass hier nicht ein Mitglied des Vorstandes um meine Gunst buhlte? Ich war ihre Regentin – und doch war ich wohl auch für sie das ›Kind‹.

Nimm es dir nicht zu Herzen. Sieh es positiv! Dann musst du dich schon nicht mit den Speichelleckern herumschlagen. Der Zweck, zu dem du da bist, drängt und hat Priorität, insbesondere vor deinem Stolz, erinnerte mich eine rationale Stimme in meinem Innersten.

Ich seufzte tonlos. Dann straffte ich meine Schultern.

»Das klingt ja spannend«, zwang ich mich, die Stille zu durchbrechen, die sich über uns gelegt hatte. Mein Tonfall hörte sich ungeduldig an und keinesfalls, als ob ich meine Worte so meinte. Aber ich war nicht Schauspielerin, sondern Regentin.

Das erkannte wohl auch der Mann, der uns zugeteilt worden war, denn seine makellos glatte Stirn runzelte sich kurz, bevor er kommentarlos wieder die gleiche Miene zur Schau trug wie zuvor.

»Darf ich Ihnen Yasemine vorstellen, meine Beraterin«, fuhr ich fort, um die Begrüßungsformalitäten hinter uns zu bringen. Das ›PR‹ ließ ich lieber weg.

»Sehr angenehm«, erwiderte der Fremde, ohne sich einen weiteren Hauch von Irritation aufgrund ihrer Aufmachung anmerken zu lassen. Er nahm ihre Hand, um ihr einen formvollendeten Handkuss zu geben, der so gar nicht in mein Bild von einer angemessenen Respektbekundung gegenüber mir und ihr sowie zu seiner modernen Aufmachung und der Cityscape passte. Allerdings ließ die romantische Aufmerksamkeit meine Vertraute erröten.

Ich verdrehte innerlich die Augen. Vorgestellt hatte sich der Mann immer noch nicht. »Und Sie sind?«, fragte ich deshalb spitz.

»Henry Meliere, Leiter des Vertriebs von Tekre Industries. Zu Ihren Diensten, Miss Streisand.« Eine leichte Verbeugung folgte.

Aha?! Seine Manieren waren mindestens ein Jahrhundert älter als die Cityscape. Nicht dass ich etwas dagegen hatte, aber das zeichnete ein inkonsistentes Bild seiner Persönlichkeit sowie Position und der Außenwirkung des Unternehmens, das er repräsentierte – das verwirrte mich zunehmend. Für eine solch leitende Führungsposition wirkte er auch sehr jung. Immerhin erklärte seine Funktion meinen ersten Eindruck seiner Verkaufsfertigkeit. Das würde noch ein spannender Aufenthalt werden.

»Und natürlich auch zu Ihren, Miss Yasemine«, fügte er hinzu und setzte dabei ein leichtes Lächeln auf.

»Sie kommen nicht aus Eterny, oder?« Yasemines arglose oder doch nicht so arglose Frage – bei ihr wusste man nie – ließ uns alle kurz erstarren.

Es war keine Schande, Wurzeln außerhalb unseres Kaiserreiches zu haben und sein Nachname deutete stark darauf hin. Trotzdem war es eines der Themen, die nicht unbedingt in Gesellschaft besprochen wurden – einfach weil beispielsweise die Freistaaten, besonders unter Sinessa, als Herkunftsland nicht sehr geachtet worden waren. Sie hatten durch und durch demokratische Ideale und deutlich weniger magisch Begabte innerhalb der Bevölkerung. Europäische Wurzeln waren deshalb oftmals mit einer Verdünnung des magischen Blutes gleichgesetzt worden. Sie hatten in gewisser Weise als Herabsetzung der eigenen Linie gegolten.

Die wenigen Wochen meiner Regentschaft hatten daran vermutlich nichts geändert. Aber wie schon Samentha während der Regentschaftswahl bewiesen hatte, bildeten Vorbehalte nicht immer die Realität ab. Ich wusste noch genau, was ich bei den Interviews während der Regentschaftswahl gedacht hatte: Wenn die Menschen dort – in den Freistaaten Europas – alle so von sich überzeugt, störrisch und absolut beharrlich waren wie Samentha, dann bewunderte ich sie. Von ihrer Magie gar nicht erst zu sprechen.

Henrys Lächeln wirkte gezwungener. »Ich stamme aus den Freistaaten von Europa.« Die Antwort klang gepresst.

Yasemine schien das nicht wahrzunehmen. »Oh, wie schön!«, rief sie aus. Dann: »Woher denn genau? Ich finde das ja so spannend!«

Gequält sah Henry mich an. Ich verzog jedoch nur ironisch einen Mundwinkel. Mit Yasemine musste er selbst fertigwerden. Außerdem wollte ich nun auch wissen, woher er stammte. Irgendetwas in mir witterte verborgene Zusammenhänge.

»Aus der République Française«, antwortete er schließlich kurz angebunden, als wollte er es einfach hinter sich bringen.

Na, wer sagte es denn – wie Samentha, wenn meine Vermutung, die sich auf ihren Nachnamen bezog, stimmte. »Burgeouis«, hatte Pomio sie bei ihrem Interview genannt. Obwohl das nichts bedeuten musste. Der Name konnte auch ohne Vermischung der Blutlinien der aktuellen geografischen Herrschaftsgebiete seit etlichen Jahrzehnten in Eterny beheimatet sein. Andererseits gab es in der noch existenten Welt allgemein wenig reine Blutlinien. 2086 Jahre hatten das ihre dazu getan. »Wie sind Sie hergekommen – und zu dieser Position?«, konnte ich mich trotzdem nicht erwehren, wissen zu wollen.

Er verzog das Gesicht. Ich meinte kurz Furcht in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Konnte das sein? Doch die Maske der makellosen Geschäftstätigkeit war gleich wieder an Ort und Stelle. »Das ist eine lange Geschichte«, wiegelte er ab.

Ich verengte die Augen. Henry Meliere verbarg etwas. Es mochte persönlicher Natur sein und mich nichts angehen – oder aber etwas, was ich als Regentin wissen musste. So oder so. Ich würde diesen Fisch nicht eher von der Angel lassen, bis ich ihn einschätzen konnte. »Nun, wir haben den restlichen Tag Zeit«, erwiderte ich also zuckersüß, ohne eine Miene zu verziehen. Ewig vertrösten ließ ich mich nicht. Ich war nicht mehr das naive Mädchen, das die Menschen aus der Übertragung der Wahl kannten. Vor mir gab es nun kein Entkommen mehr. Ich war die Regentin.

Dass er ein wenig blass um die Nasenspitze wurde, bestätigte mir, dass er das nun auch begriffen hatte.

Yasemine lächelte nur unschuldig – zu unschuldig. Damit war ich mir hundert Prozent sicher, dass sie genau das forciert hatte. Möglicherweise hatte sie irgendwelche Gerüchte über Henry gehört – oder war einfach neugierig. Meine ehemalige Nachbarin lernte noch schneller dazu als ich.

Vielleicht waren wir nur zwei Frauen, die das Leben recht wundersame Wege hatte beschreiten lassen. Und in den Augen des ehemaligen Regenten und vieler Bürger Californias, die sein Regelwerk ein bisschen zu sehr verinnerlicht hatten, gehörten wir nicht an die Spitze des Landes. Doch war ich fest entschlossen, ihnen allen zu beweisen, dass sie falschlagen.

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