Einmal morden ist nicht genug

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Kapitel 8

Während Max den Hof der Firma zum zweiten Mal fegte, drückte er seine Hand so fest um den Besenstiel, dass die Innenseiten schmerzten. Der geplante Diebstahl war nichts für seine Nerven, auch wenn im Augenblick alles nach Plan lief. Solange er hier den Straßenbesen schwingen konnte, hatte er das Firmengelände gut im Blick. Am Vormittag hatte er eine neue Ladung Teppiche eingeräumt und dabei den Hof nicht einsehen können. Gut, dass er damit rechtzeitig fertiggeworden war und der Chef ihn danach nicht für die Auslieferung eines Teppichs an einen Kunden eingeplant hatte. Er musste unbedingt hierbleiben, um beobachten zu können, wenn der Geldbote eintraf. Er hoffte, nein, er ging davon aus, dass der Chef das Gebäude danach bis zum späten Abend noch einmal verlassen würde.

Plötzlich hörte Max auf zu fegen. Sein Atem beschleunigte sich. Ein teurer Sportwagen, dessen Marke er nicht kannte, hielt auf dem Gelände und erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Mann mittleren Alters stieg aus. Der Typ mit Lederjacke wirkte nicht gerade wie ein normaler Kunde. Das halblange dunkelbraune Haar hatte er nach hinten gegelt und seine ganze Haltung drückte irgendwie Wachsamkeit aus. Für einen Vertreter erschien er Max nicht seriös genug und für einen Kunden war er zu angespannt. Max schielte auf die schwarze Aktentasche in seiner rechten Hand. Da war das Geld drin, garantiert. Er zwang sich, weiterzufegen und den Eindruck zu erwecken, er ginge voll in dieser Aufgabe auf. Dabei ließ er den Ankömmling nicht aus den Augen. Erst als der Mann das Bürogebäude betreten hatte und aus seinem Blickfeld verschwunden war, atmete Max etwas auf. Seufzend sah er auf seine Armbanduhr. Ihm blieb noch etwa eine halbe Stunde bis zum Feierabend. Er hoffte inständig, dass der Mann bis dahin wieder verschwunden war und am besten auch Hachlinger. Ansonsten musste er einen anderen Beobachtungsposten wählen. Wer machte schon freiwillig Überstunden beim Fegen?

Nach etwa zehn Minuten trat der Mann mit dem Aktenkoffer wieder aus dem Gebäude heraus. »Jetzt noch der Chef«, murmelte Max leise vor sich hin, während sein Blick den Mann verfolgte, bis er mit seinem Flitzer vom Firmengelände verschwunden war. Max fegte noch eine Weile in einer anderen Ecke des Hofes.

Erneut erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Die Madame trat aus dem Hauptgebäude. Wenn Hachlinger seine Sekretärin nicht mehr brauchte, würde er mit etwas Glück auch gleich die Segel streichen.

Tatsächlich folgte ihr Hachlinger nach wenigen Minuten. Zunächst beachtete der Chef ihn nicht, aber dann warf er ihm einen erstaunten Blick zu. »Noch keinen Feierabend?«, fragte er misstrauisch, wobei er eine Augenbraue leicht nach oben zog, sofern Max das aus der Entfernung richtig erkannte.

Max wollte etwas erwidern, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Deshalb schüttelte er nur den Kopf. Hachlinger gab sich damit zufrieden und verließ die Firma. Veflixter Mist, jetzt war Hachlinger auf ihn aufmerksam geworden. Wenn die Scheinchen aus dem Tresor plötzlich fehlten und er eins und eins zusammenzählte, wäre das denkbar schlecht. Max wischte sich mehrmals über die feuchte Stirn. Zuerst musste er an das Geld kommen, was schon schwer genug war, dann würde er weitersehen.

Kurz vor Ladenschluss betrat Max das Gebäude. Die Tür quietschte leise und ihm brach der Schweiß aus. Rechts lag der große Verkaufsraum hinter dem Eingang mit großen Glasscheiben in der oberen Hälfte. In gebückter Haltung, um nicht von den Kollegen gesehen zu werden, schlich er weiter zum Bürotrakt.

Er zog einen Dietrich aus seiner Hosentasche. Mit einem Mal hörte er Stimmen. Offensichtlich schickten sich die Verkäufer an, die große Halle zu verlassen. Mit zitternden Fingern hantierte Max am Schloss herum. Die Stimmen wurden lauter. Gleich würden sie ihn sehen. Im letzten Moment gab das Schloss nach. Max schlich ins Vorzimmer und versperrte die Tür hinter sich. Anschließend sank er zu Boden und lehnte sich vor Schweiß triefend gegen das Holz. Das war knapp. Hoffentlich hatten ihn die Verkäufer nicht doch entdeckt. Aber es kam niemand hinter ihm her.

Durch das Fenster fiel genug Licht herein, so dass er sich gut in dem Raum zurechtfinden konnte. Obwohl das jetzt nicht gerade passte, erinnerte er sich plötzlich an sein Vorstellungsgespräch vor gut einem Jahr. Wie abschätzend die Madame ihn gemustert hatte. Hachlingers Sekretärin hatte sich benommen, als gehöre ihr die Firma. Max war sicher, dass er die Stelle nicht bekommen hätte, wenn sie wirklich hätte auswählen dürfen. Seufzend wuschelte er durch seine stattliche Mähne. Er durfte jetzt keinen Erinnerungen nachhängen, musste den Kopf freibekommen.

Die Tür, die vom Vorzimmer zu Hachlingers Büro führte, war abgesperrt, aber auch dieses gewöhnliche Schloss stellte für Max keine besondere Herausforderung dar. Manchmal fragte er sich, warum der Chef nicht mehr Wert auf Sicherheit legte. Selbst der Tresor, den er beim Bewerbungsgespräch hinter Hachlingers Schreibtisch gesehen hatte, entsprach nicht heutigen Standards. Er gehörte zu den uralten Dingern, mit denen er sich noch bestens auskannte. Vorsichtig öffnete Max die Verbindungstür zwischen Vorzimmerdrachen und Chefbüro.

Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, aber in diesem Raum drang das Licht von draußen noch spärlicher herein. Er zog seine Taschenlampe aus der Hose und knipste sie an. Der Lichtkegel wanderte in Richtung Geldschrank und Max erstarrte. »Scheiße, Scheiße«, spie er leise aus. Was für ein elender Mist. Das war nicht der Tresor, den er noch vor einigen Monaten hier gesehen hatte. Das Ding sah ganz neu aus. Mit den moderneren Modellen kannte er sich nicht aus. Sein letzter Einbruch lag schließlich einige Jahre zurück. Seitdem hatte er zunächst im Gefängnis gesessen und sich später nichts mehr zuschulden kommen lassen. Er hatte wirklich vorgehabt, die Bewährungszeit heil zu überstehen und endlich ein unbescholtener Bürger zu werden, bis ... Anfangs war es ihm wie eine gute Fügung erschienen, das Telefonat zwischen Hachlinger und dem Erpresser unfreiwillig belauscht zu haben, doch nun kamen ihm Zweifel.

Max zog ein Stofftaschentuch mit einem aufgedrucktem M aus der Hosentasche und schniefte hinein. Denk nach, ermahnte er sich. Ehe er jedoch einen Plan fassen konnte, erstarrte er. Etwas knarrte. Es kam vom Flur. Sofort knipste Max die Taschenlampe aus. Wahrscheinlich die Kollegen. Leise schlich Max ins Vorzimmer zurück, um die Lage zu sondieren, und darauf hoffend, dass seine Aufregung umsonst wäre. Nein, da machte sich jemand am Schloss zu schaffen.

Kapitel 9

Hanno saß im Palazzo im Duisburger CityPalais. Normalerweise aß er nicht gerne allein in einem Restaurant. Und er war auch kein Fan von gehobener Küche, also alles jenseits von Burger, Döner und Currywurst. Trotzdem mochte er das Palazzo, besonders wenn er einen Tisch hinter der großen Glasfront bekam, die den Blick auf die Einkaufspassage freigab. Hier zogen so viele Leute vorbei, dass es nie langweilig wurde, selbst wenn man in dem Lokal allein an seinem Glas nippte oder sich ein Pastagericht schmecken ließ. Allerdings ging Hanno nur selten allein aus. Er war eher ein geselliger Typ, aber heute hatte eigentlich nur Shopping auf seinem Programm gestanden. Die Idee, hier einzukehren, war ihm ganz spontan gekommen und keiner seiner Bekannten hatte kurzfristig Zeit gehabt.

Max hatte heute Spätdienst und anschließend angeblich etwas Wichtiges vor. Genaues hatte ihm sein Kumpel nicht verraten. Überhaupt benahm sich Max seit Kurzem irgendwie komisch. Ob er vielleicht etwas ahnte? Hanno starrte auf die beiden Einkaufstaschen, die neben ihm auf dem Sessel standen und stellte die mit den sündhaft teuren Schuhen auf den Boden. Quatsch, wie sollte er? Wahrscheinlich war Hanno im Moment nur etwas nervös. Er schaute zu dem großen Bild über der langen Theke. Die Farben gefielen ihm. Vor allem passten sie gut zu der dunkelrot gestrichenen Wand. Das alles hat italienischen Stil, überlegte er, dabei war er noch niemals in Italien gewesen. Nun, das konnte sich ändern, auch wenn er zunächst einmal eine Fernreise ins Auge fasste.

Der Kellner unterbrach seine Gedanken und servierte ihm einen Aperol Spritz. Hanno probierte diesen Drink zum ersten Mal, aber er konnte ihm nichts abgewinnen. Zum Essen bestellte er lieber wie üblich ein Bier. Er stellte das Glas hin und fischte einen Reisekatalog aus der Plastiktüte, die links neben ihm stand. Bevor er darin herumblättern konnte, erregten zwei hübsche junge Passantinnen seine Aufmerksamkeit. Die Jacke der Frau, die kaum einen halben Meter an ihm vorbeilief, stand weit offen und gab den Blick auf eine enorme Oberweite und einen extrem ausgeschnittenen Pullover frei. Als Ausgleich zu der nackten Haut, dem kurzen Rock und den dünnen Seidenstrümpfen trug sie dicke Winterstiefel. Hanno lächelte sie durch die Scheibe an, aber die Tusse reagierte nicht, obwohl sie ihn anscheinend bemerkt hatte. Nun, auf den Bahamas oder einer anderen Insel in der Karibik würde es sicher jede Menge Mädels geben, die sich gerne von ihm einladen ließen.

Mit einer trotzigen Miene nahm er den Prospekt in die Hand und blätterte darin herum. Die meisten Hotels gehörten zu einer Preisklasse, die er sich bisher niemals hatte leisten können. Er hatte nicht einmal gewagt, von einem Aufenthalt in ihnen zu träumen. Als der Kellner das Filetto Mare & Monte servierte, hatte er drei Seiten eingeknickt. Auf ihnen wurde für hochpreisige Unterkünfte geworben, die nun durchaus für ihn infrage kamen.

Kapitel 11

Pielkötter fühlte sich leicht benommen, was sicher nicht nur an zwei Gläsern Bier und dem Whisky nach dem Essen lag. Im Moment strömte einfach zu viel auf ihn ein. Heute Morgen noch war er auf Norderney gewesen und nun saß er in seinem Reihenhaus im Duisburger Norden mit seiner Familie und Jan Hendriks neuem Freund zusammen. Mühsam versuchte er, ein Gähnen zu unterdrücken. Er hatte sich natürlich sehr über die hübsche Collage aus Fotografien mit Motiven vom Hafen, Tiger & Turtle und Landschaftspark seines Sohns gefreut, die ihn an seiner Haustür empfangen hatte, besonders über den Titel »Herzlich willkommen in Duisburg«. Auch hatte ihn sehr gerührt, dass Marianne sein Lieblingsessen, Semmelknödel mit Rotkohl, gekocht hatte. Inzwischen jedoch war er einfach nur müde. Zudem zerrte Thilo Baumgartner, Jan Hendriks neuer Lebenspartner an seinen Nerven. Das lag nicht nur daran, dass er heute Abend einfach lieber nur vertraute Menschen um sich gehabt hätte, sondern an dessen etwas unsensibler Art. Schon nach wenigen Minuten hatte er gut verstanden, warum Marianne sich nach dem ersten Treffen ziemlich schockiert über Thilo geäußert hatte. Sein Sohn hatte bereits mehrere Male signalisiert, dass sie besser aufbrechen sollten, aber Baumgartner hatte überhaupt nicht darauf reagiert.

 

»Ich bin so froh, dass sich alles zum Guten gewendet hat«, erklärte Jan Hendrik zum zweiten Mal an diesem Abend. »Mutter hat die OP prima überstanden, und für dich gibt es hoffnungsvolle Perspektiven, dass du deine Arbeit wieder aufnehmen kannst«, wandte er sich direkt an ihn. »Und jetzt habt ihr etwas Ruhe verdient und ...«

Baumgartner ließ ihn nicht ausreden. »Ja, darauf trinken wir«, posaunte er. Ehe jemand etwas erwidern konnte, ergriff er die Whiskyflasche und schickte sich an, alle Gläser zu füllen.

»Für mich bitte nicht, ich bin jetzt schon etwas hinüber«, protestierte Pielkötter und warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

»Und ich muss noch fahren«, erklärte Jan Hendrik. »Außerdem sollten wir jetzt endlich gehen.«

»Aber Sie geben mir doch wohl keinen Korb?« Thilo fixierte Marianne.

»Ich mag keinen Whisky«, antwortete sie, und Pielkötter glaubte herauszuhören, dass sie Thilos Art nicht mochte.

Wie anders dagegen war Jan Hendriks erster Lebenspartner Sebastian gewesen. Bei ihren gemeinsamen Treffen hatte er sich wohlgefühlt, nachdem er seine anfänglichen Vorurteile endlich abgebaut hatte. Marianne hatte Sebastian ja von Anfang an gemocht. Warum nur hatte er sterben müssen, weil er sich für eine gute Sache eingesetzt hatte, während dieser Fatzke ...?

»Ich habe einen sehr anstrengenden Tag hinter mir und ich muss jetzt ins Bett«, verkündete Pielkötter. »Es tut mir leid, aber ihr müsst den restlichen Abend ohne mich verbringen.« Nachdem er das ausgesprochen hatte, fühlte er sich hin und her gerissen. Einerseits empfand er es als total richtig, diesen aufdringlichen Thilo in die Schranken zu weisen, andererseits hätte er sich einen netteren Abschied von Marianne und Jan Hendrik gewünscht. Vielleicht hätte er seine Frau sogar noch dazu überreden können, diese erste Nacht im eigenen Bett gemeinsam zu verbringen.

»Wir wollten gerade aufbrechen«, erklärte Jan Hendrik, wobei er sich einen wütenden Blick seines Partners einfing.

»Und ich schließe mich an«, sagte Marianne.

Mist, dachte Pielkötter. Den Ausklang dieses Abends hatte er sich wirklich anders vorgestellt. Okay, er konnte gut nachvollziehen, warum sein Sohn sich aus Selbstschutz mit einem Typen abgab, der so gar keine Ähnlichkeit mit seinem ermordeten Lebenspartner hatte. Wahrscheinlich hatte er unbewusst Angst, sich mit jemanden einzulassen, der ihm genauso weh tun konnte wie Sebastian. Pielkötter sah allerdings nicht ein, warum er darunter leiden sollte.

Kapitel 12

Max keuchte. Seine Lungen brannten, seine Beine schmerzten, aber zumindest war sein Kopf plötzlich seltsam klar. Während er nach der brenzligen Situation an dem LKW zunächst nur versucht hatte, aus der Gefahrenzone zu kommen, überlegte er nun, wohin er fliehen sollte. Nein, eigentlich kamen ihm im Moment nur die Orte in den Sinn, die er auf gar keinen Fall aufsuchen konnte. Bei der Polizei eine Anzeige zu erstatten, fiel definitiv aus. Zu schnell würde er sich bei seiner Aussage in Widersprüche verwickeln und seine Bewährung aufs Spiel setzen. Möglicherweise schaffte es der angesehene Hachlinger sogar, ihm den Mord in die Schuhe zu schieben. Max hatte wahrlich nicht die geringste Lust, erneut in den Knast zu wandern. Seine Wohnung war ebenfalls tabu. Schließlich kannte Hachlinger seine Adresse und würde ihn genau dort vermuten. Wahrscheinlich setzte er inzwischen die Suche nach ihm mit dem Auto fort. Für einen kurzen Augenblick zog Max in Erwägung, Hanno um Hilfe zu bitten. Aber konnte er seinem Kumpel wirklich trauen? Was, wenn ihm der mit Scheinen winkende Chef näherstand als ein Freund, mit dem er gelegentlich einen gemütlichen Bierabend verbrachte? Er wusste nicht, ob ihre Freundschaft so tief war, dass Hanno unter allen Umständen loyal zu ihm stehen würde. Vielleicht würde ihm irgendwann nichts übrigbleiben, als ihn um Rat oder sogar Hilfe zu bitten. Zuerst aber musste er ein Versteck finden, in dem er in aller Ruhe nachdenken konnte.

Wohin nur sollte er sich wenden? Verwandte besaß er nicht und ehemaligen Knastkumpanen wollte er lieber nicht trauen. Max schnaufte. Er musste kurz ausruhen. Außer Atem hockte er sich hinter einen Busch, stützte den Kopf auf seine Hände und grübelte eine Weile. Endlich kam ihm eine Idee. Die Jannings, seine Nachbarn, besaßen eine Laube in ihrem Schrebergarten. Zweimal war er dort gewesen. Einmal hatten sie Fraukes fünfzigsten Geburtstag dort gefeiert und vor gut einem Monat hatten sie ihn zum Grillen eingeladen, weil er ihnen beim Umzug ihrer Tochter geholfen hatte. Sie waren gemeinsam dort angekommen und Frauke Janning hatte den Schlüssel zu der Hütte in einem Plastikbeutel unter einem der Blumentöpfe hervorgeholt.

Eigentlich war die Gartenlaube als Versteck ideal. Niemand würde ihn dort vermuten. Außerdem machten die Jannings gerade Urlaub in Spanien. Dass ihre Tochter die Laube nutzte, hielt er für unwahrscheinlich. Und selbst wenn sie ihn dort überraschen würde, konnte er ihr immer noch irgendeine Geschichte auftischen und dann verschwinden. Die Chancen, bei einer Begegnung mit der Nachbarstochter heil davonzukommen, standen allemal besser als bei einem Zusammentreffen mit Hachlinger. Dumm nur, dass die Kleingartenanlage in derselben Richtung lag wie sein Zuhause, wo Hachlinger ihn wahrscheinlich vermutete und vielleicht versuchen würde, ihn abzufangen. Aber eine andere Lösung fiel ihm nicht ein.

Ein Hund im nahen Tierschutzzentrum Duisburg begann zu jaulen. Seufzend erhob er sich. Es wurde höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Am sichersten erschien es ihm, einen Umweg einzulegen und am Rhein entlangzulaufen.

Inzwischen hatte Max ein gutes Stück des Weges in Richtung Rhein zurückgelegt. Er schaute sich immer wieder um, aber er konnte nichts Verdächtiges entdecken. Niemand verfolgte ihn. Plötzlich hörte er ein Motorengeräusch. Ein Wagen schien sich mit hoher Geschwindigkeit zu nähern. Obwohl das Fahrzeug noch weit entfernt war, begannen seine Knie zu zittern. Max hechtete in den nächsten Hauseingang. Zuerst lehnte er sich an die Haustür, dann bückte er sich, als wolle er das Schlüsselloch suchen. Mit einem Mal flammte Licht auf. Offensichtlich reagierte nun der Bewegungsmelder. Scheiße, warum hatte er diesen Hauseingang gewählt? Das Motorengeräusch näherte sich unaufhaltsam. Er wagte nicht, auf die Straße zu sehen. Schweiß stand auf seiner Stirn. Als das Auto nur noch wenige Meter entfernt war, tropfte er ihm ins linke Auge. Es brannte, aber Max verharrte regungslos. Erst als der Wagen sich weit genug entfernt hatte, rieb er sich mit dem Handrücken über das Lid. Dabei stieß er geräuschvoll die Luft aus. Er wartete kurz ab, dann stieg er die zwei Treppenstufen zum Bürgersteig nach unten und spähte die Straße hinunter. Anscheinend war die Luft rein. Seufzend setzte er sich in Bewegung.

Die Rheinwiesen lagen nun vor ihm, und er hatte schnell den Weg erreicht, der unter der A40 herführte. Hier durften und konnten keine Autos fahren. Kurz vor der Unterführung hielt Max inne. Vielleicht hatte Hachlinger auf der anderen Seite Posten bezogen und wartete nur darauf, ihn zu erwischen. Quatsch, redete Max sich ein. Schließlich konnte sein Chef nicht überall auf ihn lauern.

Über ihm donnerte ein LKW über die A40, der offensichtlich die Waage passiert und das zulässige Höchstgewicht nicht überschritten hatte. Der Lärm hallte in Max’ Ohren. Mit jedem Schritt rannen neue Schweißperlen über seinen Rücken. Er hatte noch nicht das Ende des Tunnels erreicht, da war sein Hemd völlig durchnässt. Er bewegte sich vorwärts, erst vorsichtig, dann rannte er so schnell, wie es seine Beine zuließen.

Endlich konnte er wieder den Himmel sehen und niemand hatte sich am Tunnelausgang auf ihn gestürzt. Erleichtert drosselte er das Tempo. Nach einer Weile erkannte er das beleuchtete Rheinorange. Das Denkmal der Industriekultur hatte er im Frühjahr mal mit Hanno besucht.

Kurz bevor die Ruhr in den Rhein mündete, bog der Weg in Richtung der maroden Bürgermeister-Karl-Lehr-Brücke ab, die Max als den höchsten Gefahrenpunkt auf seiner Route einschätzte. Wenn er nicht noch einen großen Umweg machen wollte, musste er über die Brücke und das ahnte sein Chef ganz sicher.

Max hatte die kritische Zone fast erreicht. Er stellte sich die engen Spuren in der Baustelle vor und Hachlinger, der auf der anderen Seite auf ihn wartete. Nein, er riskierte, ihm direkt in die Arme zu laufen. Plötzlich kam Max eine Idee, wie er die Gefahr vermeiden konnte.

Kapitel 13

Barnowski saß seit einer Viertelstunde mit Nadine im Dienstwagen auf dem Parkplatz am Präsidium. Ihr Dienst war längst beendet, aber er verspürte nicht die geringste Lust, nach Hause zu gehen. Dort würde bestimmt dicke Luft herrschen. Wenn Gaby sich erst einmal was in den Kopf gesetzt hatte. Sie wollte den Trauschein unbedingt. Aber bitte nicht so. Er würde ihn sich nicht abtrotzen lassen. Wenn er schon in den Hafen der Ehe einschipperte, dann wollte er wirklich dahinterstehen und sich darauf freuen. Genau davon konnte im Moment keine Rede sein.

Er drehte sich zu Nadine um. »Hast du dich eigentlich ausdrücklich um die Stelle in Duisburg bemüht oder hat man dir keine andere Alternative angeboten?«

Sie lachte leise. »Nee, nee, ich bin freiwillig hier. Es gab noch andere Stellen, aber ich wollte unbedingt hierher.«

Barnowski wartete auf eine Begründung, aber Nadine blieb stumm. »Warum ausgerechnet Duisburg?«, fragte er nach einer Weile des Schweigens.

»Die Stadt ist besser als ihr Ruf«, antwortete sie und schien zu überlegen, wie sie das am besten ausdrücken konnte. »Sie hat einfach was. Oder besser alles auf einen Haufen: Kultur, Industrie und Natur. Dicht an dicht. Neulich habe ich in der Zeitung einen Artikel von unserem Oberbürgermeister gelesen. Duisburg ist überraschend anders, hat er erklärt, und dass der Kontrast von Industrie und Natur megaspannend sei. Damit hat er meiner Meinung nach vollkommen Recht.«

Barnowski trommelte mit den Fingern seiner Rechten auf dem Lenkrad herum. Ihn interessierte nicht im Geringsten, was Sören Link von sich gegeben hatte, er wollte etwas ganz anderes von seiner Kollegin hören.

»Wusstest du, dass die Stadt Zielpunkt der neuen Seidenstraße ist, auf der China mehrmals pro Woche Waren für Europa per Bahn zum Verteilort Duisburg transportiert?«

Barnowski brummte etwas Unverständliches, was normalerweise eher zu Pielkötter passte. Warum fiel Nadine nichts Besseres ein als China? Weiter weg ging es wohl nicht. Er wollte ... ja, was eigentlich? Aufmerksamkeit, zumindest ein paar verbale Streicheleinheiten.

»Aber am besten gefallen mir hier die Menschen«, fuhr sie fort.

Schon besser, dachte Barnowski.

»Diese Offenheit. Man gehört gleich dazu.«

»Auch auf dem Präsidium?«, fragte er, um noch Weiteres aus ihr herauszukitzeln, aber statt einer Antwort lachte sie nur. Warum waren Frauen so kompliziert? Weshalb drückte sie nicht einfach aus, wie sehr sie ihn als Kollegen schätzte und dass sie lieber wieder mit ihm zusammenarbeiten wollte als mit einem anderen.

»Ich muss los«, erklärte Nadine, »sonst bekomme ich diese Nacht wieder so wenig Schlaf wie gestern.«

Was hieß das? Gestern hatten sie doch ganz pünktlich Feierabend gemacht? Hatte sie etwa einen Freund, von dem er nichts wusste? Nachdenklich fuhr er sich durch das Haar. Komm runter von dem Trip, rief er sich zur Ordnung. Im Prinzip ging ihn das überhaupt nichts an. Im Prinzip.

 
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