Tödliche Vetternwirtschaft

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Aus der Reihe: Leo Schwartz #12
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„Wir haben vorerst keine weiteren Fragen.“

„Bevor Sie gehen, stellt Ihnen meine Sekretärin einen Wurstkorb zusammen, eine Spende an die Polizei.“

„Das dürfen wir nicht annehmen, das kann uns als Beamtenbestechung ausgelegt werden.“

„Du meine Güte! Diesen Spruch kenne ich nur aus dem Fernsehen. Gibt es das tatsächlich? Ich wollte nur freundlich sein. Dann eben nicht.“

„Wollen Sie eigentlich nicht wissen, warum die Kripo wegen des Todes von Gerald Haferstock ermittelt?“

„Nein. Warum auch? Sie machen Ihren Job und ich meinen.“

Die Praxis für Augenheilkunde des Dr. Theo Unger war gut besucht. Das Wartezimmer war proppenvoll und es herrschte auf dem Gang und in allen Zimmern ein geschäftiges Treiben. Wastl und Viktoria saßen auf dem Gang, denn im Wartezimmer zwischen all den Augenkranken mit ihren Verbänden und dem muffigen Gestank würde es Viktoria schlecht werden. Wastl war da abgehärtet. Solange es ihn nicht persönlich betraf, waren ihm sämtliche Krankheiten egal. Sie blätterten in verschiedenen Klatschzeitungen und langweilten sich. Endlich kam eine Sprechstundenhilfe auf sie zu.

„Folgen Sie mir bitte, Dr. Unger hat jetzt Zeit für Sie.“

Der grauhaarige, kleine, drahtige Mann Ende 50 saß hinter seinem ordentlichen Schreibtisch, auf dem ein riesiges Modell eines Auges stand, dass sie anzustarren schien.

„Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Aber Sie sehen ja selbst, was hier los ist. Ich habe zu meinen eigenen Patienten auch noch die Vertretung eines Kollegen dazu bekommen. Was kann ich für Sie tun?“

„Gerald Haferstock,“ sagte Viktoria knapp. Sie war durch die Warterei sehr müde geworden.

„Eine tragische Geschichte. Gerald war eigentlich fit und achtete auf sich. Nie im Traum hätte ich daran gedacht, dass es ihn so früh trifft. Aber niemand von uns ist davor gefeit, so spielt das Leben nun mal.“ Dr. Unger stand auf, öffnete ein Fenster und zündete sich eine Zigarette an. „Ein Laster muss man haben. Auch wir Ärzte sind nicht perfekt. Warum ermittelt die Kripo bezüglich Geralds Tod?“

„Laufende Ermittlungen. In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Verstorbenen?“

„Wir waren Freunde. Ab und zu haben wir uns zum Joggen und auf dem Tennisplatz verabredet. Und auch geschäftlich hatten wir zu tun. Gerald hatte als Architekt einen sehr guten Ruf und auch deshalb habe ich ihn mit dem Bau meines Eigenheims betraut. Und ich war und bin sehr zufrieden mit seiner Arbeit.“

„Stichwort Freizeitpark.“ Die frische Luft vermischt mit Zigarettenqualm drang nun bis zu Viktoria durch und sie wurde langsam frischer. Sie sog dieses Gemisch tief bis in ihre Lungen ein, denn vor einigen Tagen hatte sie das Rauchen aufgegeben und war diesbezüglich noch sehr labil.

„Sie wissen davon? Erstaunlich, eigentlich wollten wir das so lange wie möglich unter Verschluss halten. Erstens wegen der Konkurrenz, und zweitens wegen der Grundstückspreise. Und natürlich auch wegen den zu erwartenden Gegnern dieses Projekts, die es immer gibt; je später die davon erfahren, desto besser. Meines Wissenstands nach fehlen nur noch wenige Grundstücke, bis es endlich losgehen kann. Was glauben Sie, wie die Preise in die Höhe gehen, wenn bekannt wird, dass ein Freizeitpark geplant ist? Oder was militante Gegner auf die Beine stellen, um das Projekt zu verhindern?“ Da die Polizisten nichts darauf erwiderten, fuhr Dr. Unger fort. „Ich habe mich an dem Projekt beteiligt, um meinen Lebensabend damit zu finanzieren. Darüber hinaus habe ich drei Kinder, die sehr große Ansprüche haben, meine Frau und ich haben sie leider sehr verwöhnt. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass solch ein Park hier in unserer Gegend funktioniert. Wir müssen jetzt natürlich überlegen, wer das Projekt realisieren soll, da Gerald nicht mehr bei uns ist. Wenn es nach mir ginge, könnte Geralds Partnerin Frau Winter die Arbeit gerne übernehmen, Gerald hielt große Stücke auf sie. Aber noch ist nicht klar, wer die Firmenanteile erbt und was aus dem Architekturbüro wird. Bis dahin hängen wir diesbezüglich völlig in der Luft. Die Testamentseröffnung ist hoffentlich demnächst, damit wir endlich weitermachen können. Können Sie mir sagen, wann die stattfindet?“

„Nein, das liegt nicht in unserem Zuständigkeitsbereich. Fragen Sie doch die Familie des Verstorbenen, die können Ihnen bestimmt Auskunft geben.“

„Das glaube ich kaum. Die alte Frau Haferstock kann mich nicht leiden, sie kann keinen von Geralds Freunden leiden. Seit sie weiß, dass ihr einziger Sohn schwul ist, vermutet sie in jedem Mann einen potentiellen Liebespartner ihres Sohnes und tritt deshalb jedem feindselig und aggressiv gegenüber. Nein danke, mit der Frau spreche ich nicht freiwillig.“

„Kennen Sie einen von Gerald Haferstocks Liebhabern?“

„Sorry, damit kann ich nicht dienen. Über sein Liebesleben haben wir nie gesprochen. Selbst wenn er hetero gewesen wäre, hätte mich das auch nicht interessiert. Privat kenne ich Gerald kaum. Uns verbanden der Sport, die Arbeit und der Freizeitpark, sonst nichts. Und bevor Sie weiterfragen: Ich weiß nichts über irgendwelche Feinde, die Gerald auf dem Gewissen haben könnten. Deshalb sind Sie doch eigentlich hier, oder? Sie vermuten, dass Gerald getötet wurde.“

Die Polizisten hatten keine Lust, darauf zu antworten. Was sollten sie auch sagen? Weitere Fragen erübrigten sich für den Moment, außerdem war das Wartezimmer proppenvoll. Viktoria konnte auch sehen, dass unentwegt ein rotes Licht an der Telefonanlage blinkte, was sie ganz nervös machte. Wastl war das egal, er ließ sich von Haus aus nicht drängeln und machte seine Arbeit so, wie er es für richtig hielt. Sie verabschiedeten sich und waren sich einig: Dr. Unger war ein aalglatter Mensch, der sich nur für seine eigenen Vorteile interessierte. Er war zwar nicht unfreundlich, hatte aber auch keine Ecken und Kanten, die irgendwie interessant gewesen wären.

Viktoria rief Fuchs an.

„Haben Sie in Haferstocks Haus irgendetwas gefunden?“

„Wir sind eben fertig geworden. Einige Auswertungen stehen noch aus. Meinen Bericht bekommen Sie später zur nächsten Besprechung.“

Fuchs hatte aufgelegt. Typisch! Hätte er nichts gefunden, hätte er das auch gesagt. So ahnte Viktoria, dass er doch fündig geworden war und wurde neugierig.

„Ihr kommt spät,“ begrüßte Leo Viktoria und Wastl.

„Das weiß ich auch, bedanke dich bei Wastl. Er hatte mal wieder einen seiner Unterzucker-Anfälle und brauchte einen Snack, was uns viel Zeit gekostet hat.“

„Was soll ich machen?“ verteidigte sich Wastl. „Soll ich wegen dem Arbeitsstress verhungern?“

Sie tranken Kaffee und tauschten sich über die Befragungen aus.

„Dann haben wir nur noch die vier Kinder von der Halbschwester.“

„Und diejenigen, die ihre Grundstücke noch nicht verkauft haben. Damit wir uns ein Bild von dem Ausmaß des Freizeitparks machen können, habe ich eine Karte besorgt. Die markierten Stellen sind die Grundstücke, die bereits von den Investoren des Freizeitparks erworben wurden. Diese drei Grundstücke stehen noch aus. Das sind zum einen der Hintermeier-Hof, der Pfandl-Hof und das kleine Grundstück einer gewissen Frau Kobel. Hintermeiers Grund liegt mittendrin und zieht sich von hier,“ dabei deutete Leo auf die Landkarte, die vor ihnen auf dem Tisch lag, „bis hier. Außer dem Wohngebäude und zwei Stallungen handelt es sich bei dem riesigen Besitz um Äcker und Wiesen mit einem kleinen Baumbestand, den ich nicht als Wald bezeichnen würde. Das kleine Stück hier gehört Frau Kobel. Das dort hinten ist der Pfandl-Hof, der nicht ganz so groß ist wie der Hintermeier-Hof und dessen Grundstücke von hier bis hier gehen. Wenn keine Einwände sind, möchte ich gerne mit den Besitzern sprechen.“

„Ich begleite dich,“ sagte Hans und nahm auch schon seine Jacke.

„Wastl und ich fangen mit den Wagenführ-Kindern an. Wenn ihr fertig seid, meldet ihr euch. Die Besprechung ist für heute Abend 18.00 Uhr angesetzt, dann ist Fuchs auch mit seinem Bericht fertig. Und eins ist sicher: wenn sich dann keine stichhaltigeren Beweise ergeben, dass Gerald Haferstock ermordet wurde, unternehmen wir in der Sache nichts mehr. Ich habe mit Krohmer bereits gesprochen. Nur noch heute und dann ist Schluss.“

5.

Der alte Hofhund bellte zuerst bedrohlich und als Leo und Hans aus dem Wagen stiegen, begrüßte er sie schwanzwedelnd überaus freundlich. Hans mochte Hunde sehr und fürchtete sich nicht vor ihnen. Er kraulte den Hund, woraufhin er sich sofort auf den Rücken warf und weitere Streicheleinheiten forderte.

„Was kann ich für Sie tun?“ rief eine Frau Mitte Dreißig, die durch das Bellen aufmerksam wurde und aus einem Stall kam.

„Kriminalpolizei Mühldorf. Mein Name ist Leo Schwartz, das ist mein Kollege Hans Hiebler. Wir würden gerne den Besitzer des Hofes sprechen.“

„Der Besitzer steht vor Ihnen. Ich bin Alexandra Hintermeier, der Hof gehört mir. Ich habe ihn von meinen Eltern übernommen. Überrascht?“

„Absolut. Aber angenehm überrascht,“ sagte Leo und schämte sich sofort dafür, dass er davon ausgegangen war, dass nur Männer einen Bauernhof führen können.

„Ich bin beeindruckt,“ sagte Hans mit einem strahlenden Lächeln. „Sie schmeißen das alles hier allein?“

„Ach woher. Ich habe einen Knecht und fürs Haus eine Haushälterin, schließlich kann ich mich nicht vierteilen. Kommen Sie ins Haus, Trudi hat bestimmt einen Kaffee für uns.“

Die Wohnküche war sehr gemütlich und vor allem dank des Kachelofens mollig warm. Trudi war eine 70-jährige Frau, die eine Hasenscharte hatte. Alexandra bemerkte, dass Leo die Frau beobachtete.

„Trudi hat schon für meine Eltern gearbeitet und ist eine Seele von Mensch. Bei ihr hatte man damals versäumt, die Hasenscharte zu operieren, solange sie noch jung war. Von klein auf wurde sie von ihren Eltern isoliert. Sie ist auf eine Sonderschule geschickt worden, obwohl sie keine weitere Behinderung hat, man versteht sie nur schlecht und deshalb spricht sie nur mit Menschen, die sie kennt und denen sie vertraut. Eine Ausbildung hat sie nicht. Meine Eltern haben sie gerne eingestellt, weil sie sehr fleißig, zuverlässig und ehrlich ist. Immer wieder haben sie sie dazu animiert, sich operieren zu lassen, aber Trudi ist sehr scheu und hat vor allem und jedem Angst. Sie sagt, sie ist mit ihrem Leben zufrieden, wie es ist. Und ich lasse sie in Ruhe. Ich finde, jeder hat das Recht, so zu leben, wie er will, ob es den anderen nun passt oder nicht. Und nach diesem Motto lebe ich auch, wie Sie sehen.“ Trudi schenkte reihum Kaffee ein und servierte frischen Marmorkuchen. „Da Sie jetzt darüber informiert sind, wie wir hier leben, würde ich gerne den Grund Ihres Besuches erfahren.“

 

„Haben Sie in letzter Zeit Kaufangebote für Ihren Hof bekommen?“

„Allerdings. Ein Herr Haferstock war schon mehrfach hier und hat seinen Preis immer wieder nach oben korrigiert. Aber er ist kürzlich gestorben, habe ich zumindest in der Zeitung gelesen. Stimmt doch, oder? Trudi meint, dass wäre unser Herr Haferstock, der unbedingt das Land mitsamt dem Hof kaufen wollte.“

„Ja, Herr Haferstock ist verstorben. Trotzdem weiß ich aus sicherer Quelle, dass immer noch Interesse am Kauf Ihres Besitzes besteht. Wollen Sie nicht verkaufen?“

Trudi war nach draußen gegangen. Das waren ihr zu viele Menschen und sie fühlte sich nicht wohl. Außerdem wartete die Wäsche auf sie.

„Anfangs hatte ich auf keinen Fall vor, zu verkaufen. Aber ich habe nachgedacht, vor allem, nachdem mir mein Knecht mitgeteilt hat, dass er nur noch zwei Monate hier ist. Die Arbeit ist für mich allein zu viel. Wer weiß, ob und wann ich wieder Hilfe finde. Der Frühling steht vor der Tür und Pavel ist wie gesagt nur noch bis Mitte Juni hier. Was dann? Eigentlich könnte der Zeitpunkt für einen Verkauf nicht besser sein. Aber möchte ich verkaufen? Hier ist meine Heimat, hier bin ich aufgewachsen und fühle mich sehr wohl. Und Trudi? Was soll aus ihr werden? Auch sie ist hier heimisch und gehört inzwischen zum festen Bestandteil des Hofes. Ein Nachbar nach dem anderen hat verkauft. Meines Wissens nach fehlen nur noch mein Besitz und das kleine Stück von Cilly, meiner Nachbarin unten am Bach. Beim Pfandl-Hof bin ich mir nicht ganz sicher. Der alte Pfandl-Bauer ist letztes Jahr gestorben und ich weiß nicht, wer den Hof geerbt hat. Sicher weiß ich nur, dass den Hof niemand mehr bewirtschaftet. Die Äcker und Wiesen sind schon seit Jahren verpachtet, der alte Pfandl-Bauer hat die Arbeit nicht mehr geschafft. Ab und zu treiben sich dort ein paar zwielichtige Gestalten herum und machen nachts ein Feuer, das hat mir zumindest die Cilly erzählt. Von meinem Hof aus kann man den Pfandl-Hof nicht sehen.“

„Verstehe ich das richtig? Auf dem Pfandl-Hof wohnt niemand?“

„Stimmt. Den Weg können Sie sich sparen. Was haben die mit den Bauernhöfen und dem Grund vor? Die planen doch irgendein Großprojekt, wofür die vielen Äcker und Wiesen gebraucht werden?“

„Das sieht so aus,“ sagte Hans und nahm sich ein weiteres Stück von dem Kuchen. Er liebte Süßes! Neben Frauen waren sie sein einziges Laster. Er hatte eigentlich eine Beziehung zu einer italienischen Kollegin aus Florenz, mit Lucrezia, die er während eines Falles kennen- und lieben gelernt hatte. Aber Lucrezia war im Gegensatz zu ihm sehr ehrgeizig und hatte kaum mehr Zeit für ihn. Sie bekam ein interessantes Angebot aus Amerika, das sie tatsächlich annehmen möchte. Eigentlich wollte sie ihn über Ostern besuchen und sie hätten endlich wieder Zeit zusammen verbringen können, stattdessen rief sie nur an und teilte ihm dieses Angebot mit. Zwei Jahre wäre sie weg und dieser Auslandsaufenthalt und Lucrezias Ehrgeiz passten nicht zu seinen eigenen Lebensplänen. Hans war mit seiner Heimat tief verwurzelt und liebte seinen Job und seine Freunde. Um nichts in der Welt wollte er weg von hier und seiner gewohnten Umgebung, zu der auch sein Heim gehörte, in dem er geboren und aufgewachsen war. Lucrezia verstand ihn nicht. Für sie war Heimat zwar auch wichtig, aber die Karriere war ihr wichtiger. In letzter Zeit stritten Sie sich nur noch, und diese Neuigkeit bezüglich des Amerika-Aufenthaltes gepaart mit der Absage ihres Besuches brachte das Fass zum Überlaufen. Hans verlor das Interesse an Lucrezia und einer gemeinsamen Zukunft.

„Wie werden die Kauf-Angebote gemacht? Schriftlich?“ riss ihn Leo aus seinen düsteren Gedanken.

„Nein, ich habe bis jetzt außer einer Visitenkarte noch nichts in die Hand bekommen. Dieser Haferstock kam persönlich auf meinen Hof und hat mir dabei immer etwas mitgebracht. Mal waren es Blumen, dann teure Pralinen, und so weiter. Aber mich kann man nicht so leicht einseifen. Haferstock hat mir dann seinen Preis genannt, bei dem ich mir immer Bedenkzeit ausbat und versprach, mich bei ihm zu melden, falls ich mich dafür entscheide. Natürlich habe ich mich noch nie bei ihm gemeldet, weshalb er immer wieder hier aufgetaucht ist.“

„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Kam Ihnen etwas merkwürdig vor?“ fragte Hans, der von der Art der Frau fasziniert war.

„Nein. Haferstock kam allein und blieb nur auf einen Kaffee. Während seiner Besuche hat er immer sein Handy ausgeschaltet, bevor er ins Haus kam, das hat Trudi beobachtet. Warum wollen Sie das alles wissen? Ist Haferstock umgebracht worden?“

„Das wissen wir noch nicht. Vielen Dank Frau Hintermeier. Wenn Ihnen noch etwas einfällt…“ Weiter kam Leo nicht, denn Hans drängte sich dazwischen. Er wollte der Frau seine Karte geben und hielt sie ihr vor die Nase.

„Wenn ich Ihnen den Rat geben darf: Warten Sie noch mit einer Zusage und lassen Sie die Interessenten zappeln, so lange Sie können. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass die echt scharf auf Ihren Besitz sind. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Und auch sonst können Sie mich jederzeit anrufen,“ zwinkerte er ihr zu. Leo verdrehte die Augen und ging nach draußen. Er wusste, dass es zwischen Hans und Lucrezia nicht gut stand und jetzt befürchtete er, dass Hans mit seinen Frauengeschichten wieder ins alte Muster fiel. Bis er mit Lucrezia zusammenkam, hat er alle möglichen Frauen eingeladen und ihnen den Hof gemacht. Keine war vor ihm sicher. Und jetzt ging das Ganze wieder von vorn los!

„Das dort hinten muss es sein,“ sagte Leo, der mit einer Landkarte den Weg zu Cilly Kobels Haus suchte. Versteckt zwischen Bäumen und hohen Büschen konnten sie ein Dach erkennen. Das kleine Grundstück war komplett eingezäunt, wobei der alte Zaun schon die besten Tage hinter sich hatte. Sie betraten das Grundstück, dessen Garten auf den ersten Blick einen verwilderten Eindruck machte, aber dann doch eine gewisse Struktur erkennbar war. Eine Klingel gab es nicht, deshalb klopfte Hans zaghaft an der uralten Haustür, da er befürchtete, dass er sie mit zu heftigem Klopfen aus den Angeln reißen würde. Mit lautem Quietschen ging die Tür auf und eine kleine, schlanke alte Frau mit flotter Kurzhaarfrisur stand vor ihnen. Sie trug ein geblümtes, langes Kleid, das sehr modern war. Im Licht sah man das rosige, porzellanartige Gesicht, in dem kaum eine Falte zu sehen war. Wie alt mochte die Frau sein? Leo und Hans stellten sich vor und zeigten ihre Ausweise.

„Kommen Sie rein!“ rief sie freundlich und ging voran.

Leo und Hans mussten sich bücken, um sich nicht die Köpfe an den niedrigen Türstöcken anzuschlagen. Überall hingen Kräuterbüsche von der Decke und an den Wänden. Und es roch verführerisch nach den verschiedensten Aromen.

„Nehmen Sie Platz bittschön,“ sagte sie und sie setzten sich an die alte Eckbank, auf der mehrere Körbe und Schüsseln mit verschiedenen Kräutern standen. An den Wänden standen Regale mit Behältern, die mit sauberer, feiner Handschrift etikettiert waren. In einem Regal standen nur Fläschchen verschiedener Größe und Farbe, die mit Flüssigkeiten gefüllt und ebenfalls etikettiert waren. Auch hier verhielt es sich ähnlich wie im Garten: Das Chaos entpuppte sich als geordnete Struktur.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ein Herr Haferstock war bei Ihnen und hat ein Angebot für Ihren Besitz gemacht?“

„Ein Angebot ist gut, ich bekam viele Angebote! Ja, der gute Herr Haferstock ist sehr hartnäckig. Anfangs wollte ich ihn rausschmeißen, aber er war stets höflich und freundlich. Was soll ich sagen? Ich habe ihn, wie Sie eben auch, in mein Haus gebeten. Ich habe gerne Besuch und bin ein gastfreundlicher Mensch. Man konnte sich mit dem Mann sehr gut über Gott und die Welt unterhalten. Herr Haferstock kannte meinen Standpunkt meinen Besitz betreffend. Aber er ist immer wieder hier aufgetaucht und hat nicht aufgegeben. Er wollte partout mein Haus und meinen Grund kaufen. Aber da hat er Pech gehabt, ich werde nie verkaufen, solange ich lebe. Nach dem Krieg musste meine Mutter aus Ostpreußen flüchten, da war ich noch ein kleines Kind. Sie hat dieses Haus damals gekauft und seitdem lebe ich hier. Das hier ist für mich der schönste Platz auf der Welt, hier fühle ich mich wohl und geborgen. Keine zehn Pferde bringen mich von hier weg. Auch wenn Haferstock noch so viel Geld bietet, bin ich nicht interessiert. Ich habe mit der Alex schon gesprochen, wir beiden sind meines Wissens die letzten, die noch nicht verkauft haben. Bei einem der Höfe bin ich mir nicht ganz sicher. Der alte Pfandl-Bauer, Gott hab ihn selig, ist vor über einem Jahr gestorben. Wer den Hof geerbt hat, weiß man nicht. Die meiste Zeit steht der Hof leer, die Äcker und Wiesen sind verpachtet, das weiß ich genau. Aber ab und zu herrscht auf dem Hof vor allem in den Abendstunden reges Treiben, nachts kann ich manchmal den Schein eines Feuers sehen. Aber was erzähle ich Ihnen, das wissen Sie ja alles schon.“ Sie trank einen Schluck Wasser. „Aber die Alex möchte auch nicht verkaufen. Ich habe ihr mehrfach zum Verkauf geraten. Sie ist eine junge Frau und hat ihr Leben noch vor sich. Der Hof ist für sie zu groß und die Arbeit sehr hart. Was wird aus dem Hof, wenn Pavel weg ist und sie keinen Ersatz findet? Vielleicht wartet sie auch noch und schlägt zu, wenn Haferstock das richtige Angebot unterbreitet und die Summe hoch genug ist.“

„Haferstock selbst wird nicht mehr kommen, er ist tot. Wussten Sie das nicht?“

„Tot? Soso, darum kam er die letzten Wochen nicht vorbei. Und woher sollte ich das wissen? Eine Tageszeitung habe ich nicht, dort steht doch nur belangloses Zeug drin. Und bei der Alex war ich seit einigen Wochen nicht mehr. Warum auch? So oft sehen wir uns dann auch wieder nicht. Und deshalb sind Sie hier? Wegen dem Tod von Haferstock?“

„Richtig. Ist Ihnen an Herrn Haferstock bei seinem letzten Besuch irgendetwas aufgefallen? War etwas ungewöhnlich?“

„Nein! Er war wie immer. Hier ist er immer gesessen, hat seinen Tee getrunken und hat mir sein Angebot gemacht. Ich habe ihm wie immer gesagt, dass ich nicht verkaufe. Wir haben uns unterhalten und dann ist er wieder davon. An was ist er denn gestorben?“

„An akutem Herzversagen.“

„Waaas? Nie und nimmer. Haferstocks Herz war kerngesund. Ich kenne mich mit Krankheiten aus, das habe ich von meiner Mutter gelernt und die von ihrer, und so weiter. Der Haferstock war vollkommen gesund, glauben Sie mir.“

Leo lächelte gequält, denn er glaubte kein Wort von dem, was die Alte von sich gab, auch wenn es hier aussah wie in einer Kräuterfabrik.

„Lachen Sie nur! Es ist für alles ein Kraut gewachsen. Man hat verlernt, sich auf die Natur und ihre vielfältigen Gesundheitshilfen zu konzentrieren. Stattdessen nimmt man heute irgendwelche Chemie zu sich, von der man nicht einmal weiß, was da alles drin ist. Wenn man sich mit den Menschen beschäftigt und sich Zeit nimmt, kann man zum Beispiel allein an der Körperhaltung, den Augen, der Farbe der Haut und auch am Körpergeruch schon sehr viele Krankheiten erkennen. Dabei ist es unabdingbar, sich lange und ausführlich mit seinen Patienten auseinanderzusetzen und ihnen zuzuhören. Natürlich bekommt man das nicht in die Wiege gelegt, das muss man lernen. Vor allem muss man die Natur und die Menschen mögen, sonst funktioniert das nicht. Sie haben kleine Wehwehchen Herr Schwartz, aber ich spüre, dass Sie an die Kraft der Natur nicht glauben und meine Hilfe nicht annehmen würden, zumindest noch nicht. Ihr Kollege ist da ganz anders gestrickt, ihn umgibt eine ganz andere Aura, mit der er sich mir öffnet. Herr Hiebler leidet heute unter Kopfschmerzen. Außerdem hat er einen Verlust zu verarbeiten, die Trauer sehe ich in seinen Augen, da kann er noch so viel lächeln. Und vor allem hat er akute Magenprobleme, er isst viel zu viel Süßes und trinkt auch wegen seinem Verlust momentan zu viel Alkohol.“

 

„Donnerwetter! Alles, was Sie sagen, stimmt genau. Woher wissen Sie das?“ fragte Hans verblüfft, der seit dem Aufstehen unter dem heutigen Fönwetter litt. Und nach dem zweiten Stück Kuchen hatte er wirklich Magendrücken. Und wie kam sie auf die Trauer? Sah man es ihm an, dass er unter dem Verlust von Lucrezia litt? Konnte man es ihm wirklich ansehen, dass er die letzten Tage oft ein Glas zu viel trank? Er schämte sich dafür, aber wegen der Sache mit Lucrezia konnte er mit Alkohol besser einschlafen.

„Ich sagte doch, dass ich mich damit auskenne!“ Sie stand auf und griff zielsicher in die vielen Behälter in den Regalen und tat alles in eine Tüte. „Nehmen Sie das. Eine Handvoll mit heißem Wasser aufbrühen und 8 Minuten ziehen lassen. Schluckweise trinken. Sie spüren nach einem Tag eine Besserung. Aber nicht mehr als 3 Tassen am Tag trinken, sonst schlafen Sie ein. Trinken Sie kurz vor dem Schlafengehen einen starken Tee, etwa die doppelte Menge Kräuter, dann schlafen Sie wie ein Baby.“

„Und was genau ist das für Kraut?“

„Enzian, Tausendgüldenkraut, Kamille, Majoran und Wermut. Gegen die Trauer hauptsächlich Johanniskraut. Und für die Kopfschmerzen gebe ich Ihnen ein ätherisches Öl aus Lavendel, Pfefferminze und Wacholder, versetzt mit Wegwarte und Holunder. Ich nenne immer nur die Hauptbestandteile meiner Kräuterzusammensetzungen, natürlich habe ich immer meine Geheimzutaten, die ich niemandem verrate. Gegen Ihre Kopfschmerzen.“ Sie reichte Hans ein kleines Fläschchen, das sie zielsicher aus dem Regal nahm. „Das ist eine meiner Spezialitäten. Das Öl reiben Sie einfach immer wieder auf die Stirn oder geben einige Tropfen in ein Glas und trinken es schluckweise. Das brauchen Sie sich jetzt alles nicht zu merken. Auf dem Fläschchen ist eine genaue Anleitung angebracht, ich hoffe, Sie können meine Handschrift entziffern. Und lassen Sie in nächster Zeit das Bier weg, trinken Sie lieber ein gutes Glas Rotwein. Wegen den Magenbeschwerden verzichten Sie auf weißen Zucker, zumindest für die nächsten drei Tage, nehmen Sie dafür guten Honig.“

„Herzlichen Dank Frau Kobel, Sie sind echt ein diagnostisches Genie, das muss man Ihnen lassen.“

„Erstens bin ich die Cilly, Frau Kobel nennen mich nur Fremde. Sie sind jetzt mein Patient und dürfen mich Cilly nennen. Und zweitens bekomme ich 18 €.“

Hans musste lachen, diese Cilly war ein Original und sehr geschäftstüchtig. Er holte seinen Geldbeutel hervor und legte das Geld auf den Tisch. Leo war baff. Niemals hätte er die Kräuter von dieser zwielichtigen Frau genommen, oder ihr gar Geld dafür bezahlt!

„Hier ist meine Karte. Ich nehme an, dass die Angebote für Ihren Grund und Boden auch durch den Tod von Herrn Haferstock nicht abreißen. Sobald sich jemand bei Ihnen meldet oder wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bei mir. Würden Sie mir Ihre Telefonnummer geben?“

„Ich habe kein Telefon. Weder Telefon, noch Strom, noch bin ich an das Wassernetz angeschlossen. Das war schon immer so und hat sich auch in den vielen Jahren nicht geändert.“

„Wie bitte? Das gibt es wirklich noch?“

„Ich habe fließendes Wasser, der Bach ist gleich hinter dem Haus. Meine Mutter hat damals ein raffiniertes System entwickelt, wodurch das Wasser aus dem Bach in den Anbau geleitet wird, damit wir uns unbeobachtet waschen können. Ich nenne diesen Raum meine Wellness-Oase.“ Sie schmunzelte wie ein kleines Kind. „Hier zentral in der Küche gibt es einen riesigen Holzofen, mit dem ich kochen und Heißwasser machen kann, gleichzeitig sorgt er für behagliche Wärme im Winter. Und fürs Licht habe ich Kerzen und Petroleumlampen. Das Toilettenhäuschen ist gleich hinterm Haus. So eins mit Herzchen in der Tür. Lachen Sie nicht, das ist heute wieder modern! Junge Familien stellen sich solch ein Häuschen als Deko in den Garten, bei mir erfüllt es immer noch seinen angestammten Zweck ohne Probleme. Und warum soll ich telefonieren? Wenn jemand etwas von mir will, weiß er, wo er mich findet. Und wenn ich mit jemandem sprechen möchte, finde ich Mittel und Wege, glauben Sie mir. Ich halte nichts von Elektrosmog und spreche lieber mit Menschen von Angesicht zu Angesicht. Bezüglich des Kanalanschlusses wurde ich zum Glück bis jetzt verschont, vielleicht haben die mich auch einfach nur vergessen. Alle anderen Höfe wurden bereits zwangsweise angeschlossen. Was für ein Irrsinn! Die meisten Höfe haben eigene Brunnen oder liegen wie ich auch an einem fließenden Gewässer, das durchs Grundwasser oder sogar durch eine Quelle gespeist wird. Aber offenbar sind diese Wasserquellen der Stadt nicht gut genug. Ist das zu fassen? Jahrhundertelang haben die Menschen ihr eigenes Brunnenwasser und fließende Gewässer benutzt, und auf einmal stimmt damit etwas nicht mehr.“ Sie schüttelte den Kopf und hatte für die Vorgehensweise kein Verständnis. „Ich weiß, ich lebe hier autark fast wie im Mittelalter. Ich bin jetzt 76 Jahre alt. Warum soll ich jetzt noch mit all dem Schmarrn anfangen? Nein danke, das lohnt sich für mich nicht mehr.“

76 Jahre? Leo und Hans hätten nie damit gerechnet, dass die Frau schon so alt war.

„Sie leben hier tatsächlich völlig unabhängig ohne jede Hilfsmittel?“

„Nicht ganz. Im Schuppen steht mein Mofa, das meinem Vater gehörte. Können Sie sich vorstellen, dass wir dieses alte Ding von Ostpreußen bis hierher geschleppt haben? Das schien meiner Mutter damals sehr wertvoll und sie lag goldrichtig damit. Während andere zu Fuß marschieren mussten, sind wir gefahren. Meine Mutter hat es trotz den ganzen Umständen immer wieder geschafft, Benzin zu ergattern.“ Jetzt lachte sie wieder und freute sich über die Vorausschau ihrer Mutter. „Das Mofa hat uns immer gute Dienste geleistet. Es ist zwar alt und laut, aber nach all den Jahren immer noch sehr zuverlässig. Ansonsten kann ich mich immer an die Alex und an Trudi wenden, auch Alex‘ Eltern waren immer sehr hilfsbereit gewesen.“

Viktoria und Wastl standen vor dem Einfamilienhaus in Winhöring, vor dem kreuz und quer jede Menge Spielgeräte und Fahrräder lagen. Hier wohnte die jüngste Tochter von Angelika Wagenführ, die 31-jährige Chantalle Sautter. Sie mussten mehrfach klingeln, bis endlich geöffnet wurde. Ihnen schlug ein Heidenlärm entgegen. Die Frau in Jeans und T-Shirt hatte ein schreiendes Kleinkind auf dem Arm und ein 4-jähriges Kind hielt einen eingeschalteten Kinder-Kassettenrecorder in der Hand, aus dem ein Kinderchor lautstark herausdröhnte.

Viktoria und Wastl zeigten ihre Ausweise, woraufhin die Frau nickte und die Kinder in das nächste Zimmer schob.

„Kommen Sie rein. Entschuldigen Sie die Unordnung, aber meine große Tochter hat Freundinnen eingeladen und die blockieren das obere Spielzimmer. Deshalb sind die Kleinen unten, um die Großen nicht zu stören. Sie wissen ja, wie 10-jährige sind.“ Sie lachte und holte ungefragt Kaffeebecher aus der Küche und schenkte sehr starken Kaffee ein.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte sie und hatte dabei die Kleinen im Nachbarzimmer durch die Glastür immer im Auge.

„Sie kennen Ihren Verwandten Gerald Haferstock?“

„Nicht persönlich. Mir ist bekannt, dass meine Mutter eine außereheliche Tochter des alten Haferstocks ist. Das muss damals im erzkatholischen Altötting ein Skandal gewesen sein und irgendwie kann ich verstehen, dass die Familie nichts mit uns zu tun haben möchte. Ist Gerald nicht kürzlich gestorben? Ah – ich verstehe! Sie gehen davon aus, dass jemand den guten Mann um die Ecke gebracht hat und recherchieren nun im weiteren Umfeld des Toten. Entschuldigen Sie bitte einen Moment!“ Sie sprang auf, öffnete die Glastür des nächsten Zimmers. „Du hörst bitte sofort auf, deine Schwester zu schlagen. Nein, wir schlagen nicht!“

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