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6.

Michael Zeitler und Anna Ravelli fuhren zu dem Halter eines cremefarbenen Sportwagens. Das Auto stand nicht vor dem Einfamilienhaus am Rande Ulms, eventuell parkte es in der geschlossenen Garage.

Sie klingelten an der Tür und ein Mann Ende fünfzig öffnete ohne Gruß. Es war offensichtlich, dass er schlecht gelaunt war.

„Kriminalpolizei Ulm. Mein Name ist Zeitler, das ist meine Kollegin Ravelli. Sie sind Ingo Sax?“

„Steht auf meinem Klingelschild. Was wollen Sie? Eine Spende für den Polizeiball? Ich muss Sie enttäuschen, bei mir ist nichts zu holen. Ich bin seit Jahren berufsunfähig und bekomme eine staatliche Zuwendung, mit der ich mir keine Extratouren leisten kann.“ Sax war drauf und dran, einfach die Tür wieder zu schließen.

„Haben Sie nicht verstanden, dass wir von der Kriminalpolizei sind?“, blaffte ihn Zeitler an.

„Und wenn Sie der Kaiser von China wären, wäre mir das auch wurscht. Ich habe mir nichts vorzuwerfen und möchte meine Ruhe haben, das wird mir im Grundgesetz garantiert.“

„Gut, wie Sie wollen. Wir können uns auch auf dem Polizeipräsidium unterhalten, wobei Sie davon ausgehen können, dass das sehr lange dauern wird.“ Zeitler war kurz davor, die Geduld zu verlieren. Wann hatte es eigentlich damit angefangen, dass Bürger jeglichen Respekt vor der Polizei verloren hatten?

„Sie haben gewonnen. Was wollen Sie?“ Sax verschränkte die Arme vor der Brust und machte keine Anstalten, die Beamten ins Haus zu bitten.

„Sie wurden letzte Nacht geblitzt. Sie waren bei erlaubten fünfzig km/h dreiundzwanzig zu schnell. Das ist doch Ihr Fahrzeug?“ Zeitler zeigte ihm das Foto, das zugegebenermaßen bezüglich des Fahrers unscharf war. Aber das Kennzeichen war deutlich zu erkennen.

„Ja, das ist mein Wagen. Deshalb kommt die Kriminalpolizei persönlich zu mir? Haben Sie nichts Besseres zu tun? Warum stellen Sie mir den Strafzettel nicht einfach per Post zu, wie sonst auch? Moment“, sagte Sax und besah sich das Foto genauer, „darauf bin ich ja überhaupt nicht zu erkennen. Der Fahrer bin nicht ich. Wissen Sie was? Schicken Sie mir das alles schriftlich zu, damit ich etwas in der Hand habe. Heutzutage geht nichts ohne Beweise. Alles Weitere wird mein Anwalt klären.“

„Wir möchten den Wagen sehen“, sagte Anna, die kurz davor war, zu explodieren.

„Dürfen Sie das überhaupt? Brauchen Sie dafür nicht irgendetwas Schriftliches? Ich glaube, ich sollte meinen Anwalt anrufen. Man muss sich als unbescholtener Bürger vor jeder Art von Beamtenwillkür schützen.“

„Gerne, wie Sie wollen. Rufen Sie Ihren Anwalt an und wir besorgen uns einen Beschluss, womit wir nicht nur Ihren Wagen, sondern auch Ihre Privaträume durchsuchen dürfen.“

Ingo Sax war erschrocken. Mit dieser heftigen Reaktion der Kriminalbeamten hatte er nicht gerechnet. Was war hier los? Hier ging es sicher nicht nur um die Geschwindigkeitsübertretung. Sax entschied, mit der Polizei zu kooperieren.

„Beruhigen Sie sich. Sie brauchen mir nicht gleich zu drohen, ich füge mich der Gewalt. Kommen Sie mit.“ Sax zog die Tür hinter sich zu und ging in den Garten des kleinen, alten Einfamilienhauses, das nicht Sax gehörte, sondern seiner Mutter, die ebenfalls hier gemeldet war. Der Weg führte nicht zur Garage, sondern ans Ende des Grundstückes, wo sie hinter einer hohen Hecke einen nagelneuen Carport vorfanden, in dem ein blitzsauberer Sportwagen stand. Sax kratzte sich verlegen am Kopf.

„Das ist mein Wagen.“

„Donnerwetter! Dass Sie sich den leisten können, grenzt an ein Wunder.“

„Meine Mutter bezahlt die Unterhaltskosten, sonst könnte ich mir den Spaß nicht leisten. Eine Freude braucht der Mensch, und meine ist mein Wagen.“

„Warum steht der Wagen hier und nicht in der Garage?“

„Wegen der Nachbarn. Was denken Sie, wie schnell das Neider auf den Plan ruft. Die Welt ist schlecht, das können Sie mir glauben.“

„Und Sie sind eine ganz ehrliche Haut“, lachte Anna sarkastisch.

„Natürlich bin ich ehrlich, das bin ich schon immer gewesen.“

„Dann stellen Sie das unter Beweis. Wer hat heute Nacht den Wagen gefahren?“

„Ich kann mich einfach nicht daran erinnern. Ich war mit einem Freund unterwegs und wir fuhren abwechselnd. Wenn einer von uns gemerkt hätte, dass wir geblitzt wurden, hätten wir sicher darüber gesprochen. Aber wir haben es nicht bemerkt. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer von uns gefahren ist, ehrlich.“

„Name und Adresse Ihres Freundes?“

„Da muss ich passen, so gut kennen wir uns nicht.“

„Telefonnummer?“

„Sorry, die weiß ich nicht. Wir haben uns gestern erst kennengelernt und sind gemeinsam durch die Bars gezogen. Dabei haben wir selbstverständlich keinen Alkohol getrunken, ich schwöre.“

„Sie lernen einen Mann kennen und lassen ihn sofort mit Ihrem Wagen fahren? Sie verarschen uns doch!“

„Nein, das würde ich nie im Leben machen. Wenn Sie mich besser kennen würden, wüssten Sie, dass ich immer die Wahrheit sage.“ Ingo Sax lächelte Anna an, aber die ließ sich nicht beirren. Sie war davon überzeugt, dass der Mann log, sobald er den Mund aufmachte.

Zeitler sah sich um. Nicht nur im Garten, sondern auch außerhalb des Grundstücks.

„Sie fahren mit Ihrem Wagen hier raus? Ist das erlaubt?“ Zeitler wusste aus eigener Erfahrung, dass man solche Zufahrten genehmigen lassen musste, was sehr viel Zeit und Geld kostete.

Ingo Sax druckste herum.

„Es könnte sein, dass man das nicht darf. Aber ich störe niemanden und es hat sich bis heute auch keiner darüber beklagt. Bekomme ich jetzt Ärger oder haben Sie ein Einsehen mit einem armen, vom Leben gezeichneten Mann, der sich diesen kleinen Luxus gönnt, da er sonst nichts hat?“

Zeitler zögerte. Was hätte er davon, wenn er den Mann anzeigte? Anna dachte anders. Der Typ war vorhin sehr unhöflich gewesen und machte ihrer Auffassung nach eine falsche Angabe nach der anderen. Und jetzt, da man sein Geheimnis kannte, wurde er charmant und freundlich. Sie mochte solche Charaktere nicht und schmollte, da sie bemerkte, dass Zeitler nicht abgeneigt war, Gnade vor Recht walten zu lassen.

Dann ging ein Fenster im Erdgeschoss des Hauses auf und eine alte Frau streckte den Kopf heraus.

„Ingoooooo“, rief sie laut, „der Richard ist am Telefon. Er fragt, wann du gedenkst, zur Arbeit zu kommen.“

„Arbeit? Sagten Sie nicht, dass Sie keine Arbeit haben?“ Zeitler wurde wütend.

„Ich verdiene mir gelegentlich ein paar Mark dazu. Allerdings nur sehr selten, ich schwöre.“

Anna hatte genug gehört, sie suchte das Gespräch mit der alten Frau, die sich als Mutter von Ingo Sax vorstellte. Sie plauderte munter darauf los und hatte kein Problem damit, von ihrem fleißigen Sohn zu schwärmen, der ihr immer wieder teure Geschenke machte. Sie selbst hatte nur eine kleine Rente und war auf ihren Sohn angewiesen.

„Das gibt eine fette Anzeige“, sagte Anna wütend, als sie wieder zu Sax und Zeitler ging.

Sax wollte sich rechtfertigen, aber darauf hatten die beiden Kriminalbeamten keine Lust. Sollte er sich doch äußern, wenn ihm die betreffende Post ins Haus flatterte.

Die Verabschiedung fiel weniger freundlich aus, denn nun kam sich Zeitler so richtig verarscht vor, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Der nächste Weg führte sie ans andere Ende von Ulm. Der zitronengelbe Sportwagen stach sofort ins Auge, als sie in die Straße einbogen. Er parkte vor einem frisch renovierten, modernen Mehrfamilienhaus, das von einem gepflegten Grundstück umgeben war. Alles war sehr sauber, sogar die verschiedenen Mülltonnen hatten einen eigenen Unterstellplatz und standen ordentlich aufgereiht nebeneinander.

Anna klingelte bei Gerhard Urban.

„Ja bitte?“, tönte es aus der Gegensprechanlage.

„Kriminalpolizei!“, rief Zeitler nur und sofort summte der Türöffner.

Das Treppenhaus war sauber, hell und freundlich. Für Annas Begriffe alles viel zu steril, Zeitler interessierte sich nicht dafür. Ein Mann Anfang vierzig stand vor der Wohnungstür im zweiten Obergeschoss. Er begrüßte die Kriminalbeamten mit Handschlag und bat sie ohne weitere Erklärung in die Wohnung. Anna war überrascht, denn das kam nicht oft vor.

„Bitte setzen Sie sich“, sagte Gerhard Urban freundlich, als er sie ins Wohnzimmer führte.

Anna sah sich in dem riesigen, teuer eingerichteten Raum um. Hier sah es aus wie in einem Möbelhaus. Alles stand auf seinem angestammten Platz und nirgends war ein Staubkörnchen zu sehen. Ton in Ton wurde alles perfekt aufeinander abgestimmt, sogar Gerhard Urban passte in seinem hellen Anzug und dem rosafarbenen Hemd genau dazu. Anna mochte es nicht, wenn alles perfekt war, das war ihr suspekt. Oder war es nur der Ärger darüber, dass sie es nie auch nur annähernd so weit bringen würde? Abgesehen von der fehlenden Kohle sah es in ihrer Wohnung immer chaotisch aus, was auch an Stefan lag, der, wie sie selbst, alles herumliegen ließ.

Zeitler waren die Wohnverhältnisse anderer völlig egal. Er registrierte sie zwar, bewertete sie aber nicht.

„Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches? Darf ich Ihnen einen Cappuccino anbieten, oder einen Espresso?“

„Nein, danke. Sie wurden heute Nacht mit überhöhter Geschwindigkeit geblitzt“, sagte Zeitler und legte Urban das Foto vor. „Das sind doch Sie und das ist Ihr Wagen?“

„Ja sicher. War ich so schnell unterwegs, dass dafür sogar die Kriminalpolizei kommen muss?“ Urban wirkte erschrocken, aber das war nur aufgesetzt. Die Kriminalbeamten spürten, dass sie es mit einem sehr selbstsicheren Menschen zu tun hatten, der sich im Griff hatte.

 

„Was haben Sie heute Nacht gemacht? Wo kamen Sie her und wo wollten Sie hin?“

Es entstand eine längere Pause, für Zeitlers Gefühl zu lange.

„Ich bin einfach nur durch die Gegend gefahren. Ohne Grund und ohne Ziel. Ich liebe die Nacht, in der alles entschleunigt ist. Wenn ich herumfahre, kann ich so richtig abschalten. Die einen gehen zum Wellness, andere machen Sport und ich fahre mit meinem Wagen durch die Nacht.“

„Allein?“

„Leider ja. Mir würde es auch besser gefallen, wenn ich jemanden an meiner Seite hätte, aber das ist mir momentan leider nicht vergönnt. Ich bin unglücklicher Single und stets auf der Suche nach dem großen Glück.“ Urban lächelte Anna an, was bei ihr einen Würgereiz verursachte. Gerhard Urban war einer der Typen, die sie überhaupt nicht leiden konnte.

„Die Wohnung gehört Ihnen?“, wollte Zeitler wissen. Er ahnte, dass die ein Vermögen gekostet hatte.

„Ja, sie gehört mir. Eine Erbschaft hat diese Anschaffung ermöglicht, da bin ich ehrlich. Ich möchte aber betonen, dass ich als Außendienst-Mitarbeiter einer Großhandelsfirma sehr erfolgreich bin. Wir vertreiben Rasentraktoren und Mähroboter der neuesten Generation.“ Urban stand auf und zog mehrere Prospekte aus seiner Aktentasche. „Bitteschön, nehmen Sie. Das sind die zuverlässigsten und wartungsfreundlichsten Geräte, die es momentan auf dem Markt gibt. Ich könnte Ihnen einen guten Preis machen.“

Anna hatte genug gehört und stand auf, wobei sie die Prospekte an sich nahm. Zeitler hatte kein Interesse. Er hatte keinen Garten und machte sich auch keine Gedanken darüber, wie andere ihre Grundstücke pflegten.

„Was meinen Sie, Chef?“, fragte Anna, als sie im Wagen saßen. „Ist Ihnen aufgefallen, dass Urban nicht einmal wissen wollte, mit welcher Geschwindigkeit er geblitzt wurde?“

„Ja, das ist mir aufgefallen. Ich mag beide Männer nicht. Der eine ist ein Betrüger und Sozialschmarotzer, der andere steht dem in meinen Augen in nichts nach. Nehmen wir beide auseinander und zerpflücken sie.“

„Bekommen Sie das genehmigt? Wir haben nur die Geschwindigkeitsüberschreitungen, die eigentlich im normalen Rahmen liegen.“

„Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Sie hören sich schon an wie Schwartz. Ich befürchte, dass seine Anwesenheit einen schlechten Einfluss auf Sie hat.“

7.

Ursula hatte schlecht geschlafen. Sie hatte Angst. Die Enge des Zimmers und die Tatsache, dass sie hier eingesperrt war, wurden immer schlimmer für sie. Sie stand auf und ging unruhig hin und her. Immer wieder lauschte sie an der Tür. Waren die beiden Männer, die nur wenig miteinander sprachen, überhaupt noch hier? Was würde mit ihr geschehen, wenn man sie hier einfach ihrem Schicksal überließ und sie nie wieder rauskäme? Wasser hatte sie genug, aber wie lange noch? Man brauchte nur das Wasser abstellen und sie könnte nichts dagegen unternehmen. Panik stieg in ihr auf und sie begann zu schwitzen. So sehr sie sich auch bemühte, ruhig zu bleiben, gelang ihr das nicht.

„Hallo! Ist da jemand?“, rief sie wiederholt laut, was mehr und mehr in ein hysterisches Schreien überging. Dabei klopfte sie wie verrückt gegen die Tür. Niemand kam und sie hörte nichts. War es so, dass man sie einfach hier eingesperrt ihrem Schicksal überließ? Sie weinte und schrie, wurde immer hysterischer - aber nichts rührte sich.

Gregor Pauschke fuhr auf dem schmalen Feldweg auf das Haus zu. Er hatte Besorgungen gemacht. Noch bevor er sein Ziel erreichte, sah er seinen Schwager weit vom Haus entfernt auf einem Feld, wie der sich mit einer Frau auf einem Traktor unterhielt. Die beiden schienen sich gut zu verstehen. Pauschke war stinksauer. Dieser verdammte Mistkerl vermasselte noch alles.

Als Pauschke ausstieg, hörte er Ursula rufen. Er fluchte und hatte einen unbändigen Hass auf seinen Schwager Waldi. Was sollte Pauschke zuerst machen? Sich um die Frau kümmern oder Waldi zusammenstauchen? Er entschied sich für die Frau, die offenbar den Wagen gehört hatte und immer lauter schrie.

„Gott sei Dank!“, schrie Ursula, als sie den Schlüssel im Schloss hörte und der Mann vor ihr stand. Sie war völlig erschöpft und schlang ihre Arme um ihn.

Pauschke war für einen kurzen Moment irritiert und stieß sie schließlich unsanft von sich. Dann bemerkte er ihren Zustand und begann, sie zu beruhigen.

„Ich dachte, dass ich hier alleingelassen elendig verrecke“, weinte Ursula und sah ihren Peiniger an. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er keine Maske trug. Verdammt!

„Es dauert nicht mehr lange, und alles ist vorbei. Bleiben Sie ruhig. In einer Stunde gibt es etwas zu essen.“ Pauschke ging wieder und versperrte die Tür. Das mit der Maske hätte ihm nicht passieren dürfen. Die Augen von Polizisten waren für Details geschult, sie würde ihn sehr wahrscheinlich beschreiben können. Was jetzt? Konnte er es jetzt noch riskieren, die Kollegin überhaupt jemals frei zu lassen, ohne dabei seinen eigenen Kopf zu riskieren? Er stöhnte auf und fluchte. Das hatte er nur diesem Trottel von Waldi zu verdanken, der sich eben von der Frau auf dem Traktor verabschiedete und gemütlich auf das Haus zu schlenderte.

An der Haustür packte Gregor seinen Schwager am Kragen und schlug ihn windelweich. Das ging so schnell, dass Waldi kaum reagieren konnte. Er lag am Boden und hielt sich den Kopf, während ihm Gregor ein paar Tritte verpasste. Endlich ließ er erschöpft von dem jammernden Mann ab. Ja, er hatte ihn vielleicht zu fest verprügelt, aber Waldi konnte einiges einstecken. Er half seinem Schwager auf, führte ihn in die Küche und gab ihm ein Handtuch, da dessen Lippe aufgesprungen war und er heftig blutete.

„Bist du verrückt geworden?“, herrschte ihn Pauschke an. „Ich habe dir befohlen, im Haus zu bleiben und dich um die Frau zu kümmern.“

„Bleib cool, ist ja nichts passiert. Du hättest mich nicht gleich verprügeln müssen, Mann. Ich musste mal raus und dabei hat mich die Bäuerin gesehen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit ihr zu unterhalten, schließlich musste ich erklären, was ich hier mache. Ich habe ihr eine Story aufs Auge gedrückt, die mir die dumme Kuh sofort abgenommen hat.“

„Was hast du erzählt?“

„Reg dich nicht auf, alles ist gut. Ich sagte, dass wir Brüder sind, die beide vor unseren Frauen und deren Familien abgehauen sind. Wir würden ein paar Tage bleiben, bis die Mischpoche verschwunden ist.“

„Das hat sie dir abgenommen? Wie hast du ihr erklärt, warum wir gerade in diesem Haus sind?“

„Sie hat nicht danach gefragt und somit musste ich mir nichts einfallen lassen.“

„Du machst in Zukunft nur das, was ich dir sage, haben wir uns verstanden? Keine Alleingänge mehr und unter keinen Umständen unterhältst du dich mit irgendjemandem. In zwei bis drei Tagen ist alles vorbei, so lange wirst du dich doch am Riemen reißen können!“

„Was hast du für ein Problem? Es ist doch nichts passiert. Sieh mich an, wie ich ausschaue! Warum hast du mich so zugerichtet? War das nötig?“

„Die Gefangene ist fast ausgerastet. Ich fürchte, dass sie Probleme damit hat, eingesperrt zu sein. Wir sollten sie ruhigstellen. Ich kümmere mich darum.“

„Wann gibt es etwas zu essen?“

„Darum kümmere ich mich, sobald ich telefoniert habe.“

„Wen rufst du an?“

„Das geht dich nichts an. Außerdem sollst du keine Fragen stellen, hast du das schon wieder vergessen? Du spülst solange das Geschirr ab, hier sieht es aus wie im Schweinestall.“

Waldi sah durch das Fenster zu, wie sein Schwager draußen telefonierte. Warum durfte er nicht mithören? Warum war es ein Geheimnis, was sein Schwager zu sagen hatte und vor allem, mit wem er telefonierte? Und warum war Gregor so ausgetickt? Ja, er hatte sich nicht an dessen Anweisungen gehalten. Hatte er dafür wirklich solch eine Abreibung verdient? Nicht nur die aufgesprungene Lippe schmerzte, vor allem der Kopf tat ihm weh, wo ihn Gregor mit seinem Stiefel erwischt hatte. Wäre es nicht besser, zum Arzt zu gehen? Nein, das konnte warten, er wollte keine Schwäche zeigen.

„Warum rufst du mich an? Wir hatten vereinbart, dass du mich nur im Notfall anrufst. Wenn jemand mitbekommt, dass ich damit zu tun habe, ist die Hölle los.“

„Beruhige dich, schließlich habe ich das größte Risiko zu tragen.“

„Pah! Was glaubst du, was ich hier alles riskiere? Ich fälsche Unterschriften und habe das Verschwinden einer Kriminalbeamtin zu verantworten. Außerdem musste ich den Ulmer Kriminalbeamten auf die Finger schauen. Was glaubst du, was los ist, wenn das alles bekannt wird?“

„Entschuldige, ich wollte dich nicht kritisieren. Ich weiß zwar nicht, warum du diese Risiken in Kauf nimmst, aber du wirst deine Gründe dafür haben. Ich vertraue dir blind und das weißt du auch. Ich werde dir niemals irgendwelche Fragen stellen. Und ich würde auch nie anrufen, wenn es nicht wichtig wäre. Wir sollten etwas wegen der Kußmaul unternehmen. Sie tickt langsam aus. Ich fürchte, dass sie nur schwer damit zurecht kommt, eingesperrt zu sein. So, wie ich das sehe, hatte sie vorhin eine Panikattacke.“

„Damit habe ich allerdings nicht gerechnet.“

„Ich fahre in eine Apotheke und sehe zu, dass ich etwas bekomme.“

„Vergiss es, ohne Rezept bekommst du nichts, was wirklich hilft. Ich besorge ein entsprechendes Medikament und gebe es dir heute Abend.“

„Wir sehen uns?“ Pauschke freute sich wie ein kleines Kind, damit hatte er nicht gerechnet. Mit einem Schlag war der Ärger auf seinen Schwager verflogen.

„Heute Abend um zwanzig Uhr auf der Raststätte Höhenrain West, das dürfte in etwa die Hälfte der Strecke sein. Ich warte in meinem Wagen.“

Das war nicht die Hälfte der Strecke, bis zu der Raststätte brauchte er eine gute Stunde, seine Geliebte weit weniger. Woher sollte sie das auch wissen? Er hatte ihr lediglich gesagt, dass er einen Unterschlupf an der österreichischen Grenze wisse, mehr nicht. Und sie wollte auch nicht mehr wissen. Die Fahrtzeit war ihm gleichgültig. Er würde überall hinfahren, um diese wunderschöne Frau nur aus der Ferne sehen zu dürfen. Gregor Pauschke hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt, das war vor sieben Monaten gewesen. Er hatte einen Termin beim Staatsanwalt Doktor Beilinger und sie stand an seiner Seite. Eine strahlende Schönheit, an der alles perfekt war. Sie sah ihn mit diesem strengen, herablassenden Blick an, der ihn sofort faszinierte. Diese Überheblichkeit und Ignoranz ihm gegenüber machte ihn neugierig. Er brauchte mehrere Wochen, bis er sie endlich so weit hatte, dass sie mit ihm essen ging. Sie blieb nicht lange und trotzdem genoss er jede Sekunde. Von da an sahen sie sich zwar nicht oft, aber ihre Beziehung wurde enger und enger, bis sie ein Liebespaar waren. Ja, er war verheiratet, aber das war nicht mehr wichtig für ihn. Für ihn gab es nur noch diese Frau: Natascha Enzinger. Die wenige Zeit, die sie beide gemeinsam verbringen konnten, war dürftig. Pauschke lebte nur für diese Zeit. Als Natascha gestern anrief und ihn um Hilfe bat, war er selbstverständlich sofort zur Stelle. Er wollte nicht einmal wissen, was vorgefallen war, er wollte nur helfen. Und Natascha würde ihn dafür belohnen, das hatte sie ihm versprochen. Ja, das mit der Kollegin war nicht astrein, aber er kannte Natascha als eine integre und professionelle Frau, die sicher ihre Gründe für ihr Handeln hatte. Er hatte sie seit Tagen nicht mehr gesehen und heute Abend war es endlich so weit. Er durfte sie riechen, anfassen und küssen; vielleicht sogar auch mehr.

Natascha hatte längst aufgelegt, als er immer noch lächelnd vor dem Versteck stand. Waldi hatte ihn beobachtet und den Wandel mitbekommen. Was zum Teufel war da los? In was hatte er sich von seinem Schwager reinquatschen lassen?

„Was grinst du so dämlich? Mit wem hast du gesprochen? Und um was geht es hier eigentlich? Ich finde, dass es an der Zeit ist, dass du mir reinen Wein einschenkst, schließlich riskiere ich Kopf und Kragen.“ Waldi hatte all seinen Mut zusammengenommen, denn mit Gregor war nicht gut Kirschen essen.

„Halt einfach den Mund und geh mir nicht auf die Nerven. Du bekommst eine ordentliche Summe für deine Arbeit und mehr brauchst du nicht zu wissen. Spül endlich dieses verdammte Geschirr und lass mich in Ruhe.“ Pauschke machte sich daran, das Essen zuzubereiten. Dafür öffnete er mehrere Dosen Ravioli, dazu gab es einen Apfel.

„Bring das der Frau, nimm eine Flasche Wasser mit.“

„Warum ich?“

„Das wirst du wohl hinbekommen, du wirst schließlich dafür bezahlt.“

 

„Und wie willst du die Frau nun ruhigstellen?“

„Ich sagte doch, dass ich mich darum kümmern werde. Ich muss heute Abend für ein paar Stunden weg. Du kümmerst dich um die Frau und bleibst im Haus. Wenn ich zurück bin, werden wir sie ruhig stellen. Bekommst du das hin?“

„Klar, ich bin doch nicht blöd.“

„Nicht? Wo ist dann deine Maske?“

„Entschuldige“, murmelte Waldi, dem das unangenehm war. Dass sein Schwager vor einer halben Stunde der Gefangenen ohne Maske gegenüberstand, wusste er nicht.

Ursula hatte sich wieder beruhigt. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht verrückt zu werden, schließlich war sie Polizistin und Grenzsituationen waren ihr nicht unbekannt. Die emotionale Seite ihrer Situation musste sie so gut es ging zur Seite schieben. Und sie musste sich dazu zwingen, alles nüchtern zu betrachten. Vielleicht gab es doch irgendwann die Chance für eine Flucht. Ja, das war es, was sie im Fokus behalten musste: ihre mögliche Flucht.

Sie hatte die Waffe des Mannes gespürt, als sie ihn umarmt hatte und wofür sie sich jetzt schämte. Der Mann war etwas größer als Leo, ungefähr eins fünfundneunzig groß und schlank. Er war etwa fünfundvierzig Jahre alt. Er war ganz sicher Polizist, das sagte ihr sein Verhalten und der Ton, mit dem er mit dem anderen Mann sprach. Der Mann vorhin musste der Kopf der beiden sein, oder irrte sie sich? Sie hatte ihn ohne Maske gesehen und das zeugt nicht gerade von großer Professionalität. Außerdem hatte sie nur die Stimmen vom Nebenzimmer durch geschlossene Türen gehört. Sie könnte nicht beschwören, zu wem die Stimmen gehörten. Nein, der Mann war vielleicht doch nicht der Chef. Bevor sie Rückschlüsse zog, brauchte sie mehr Informationen. Und dazu musste sie bei klarem Verstand bleiben. Wie sollte sie den beiden Männern begegnen? Selbstsicher oder ängstlich? Sie wusste es nicht. Und sie hatte keine Zeit mehr dazu, sich eine Strategie zu überlegen, denn einer der Männer drehte den Schlüssel im Schloss.

Wortlos stellte Waldi das Tablett auf den klapprigen Tisch. Er versuchte, jeglichen Blickkontakt mit der Frau zu vermeiden, denn sie sah schrecklich aus. Mitgefühl stieg in ihm auf. Hoffentlich sprach ihn die Frau nicht an und er konnte gleich wieder verschwinden.

„Vielen Dank“, sagte Ursula leise und stand umständlich auf. Sie hatte ihre Schuhe nicht an und ihre deformierten Füße waren jetzt für Waldi zum ersten Mal sichtbar.

„Was ist passiert?“

„Bitte? Was meinst du?“ Ursula wählte die Du-Form, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.

„Die Füße. Was ist passiert?“

„Ein Unfall.“

Übertrieben schwerfällig ging sie die zwei Schritte zum Tisch. Dann tat sie so, als würde sie fallen. Waldi fing sie auf.

„Dankeschön, sehr nett. Ohne meine Schuhe bin ich aufgeschmissen.“

„Sie können damit als Polizistin arbeiten?“ Waldi nahm einen der orthopädischen Schuhe in die Hand und drehte ihn.

„Ja, darin habe ich einen festen Halt. Die sind nicht bequem, man darf nicht zimperlich sein. Aber trotzdem schaffe ich es, irgendwie geht es immer. Ich möchte trotz meines Handicaps als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft am Leben teilnehmen. Und darauf bin ich mächtig stolz, auch wenn es Tage gibt, an denen ich an meine Grenzen stoße.“ Das war völlig übertrieben, schien aber die richtige Wirkung zu haben. Sie spürte das Mitleid, das von dem Mann ausging und das sie sich unter normalen Umständen nicht gefallen lassen hätte. Aber in der jetzigen Situation konnte das von Vorteil sein.

Waldi verabschiedete sich verlegen und schloss die Tür. Ursula lächelte zufrieden. Der Mann hatte keine Waffe gehabt, das war ein wichtiges Detail. Ob er Polizist war? Schwer zu sagen, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass er weit davon entfernt war. Sie löffelte lustlos in den lauwarmen Ravioli und aß lieber den Apfel. Dann setzte sie sich aufs Bett, verdrehte ihre Füße so sehr, dass es fast weh tat, aber so sahen sie noch bemitleidenswerter aus. Sie nahm den Hut ab und legte die Narben frei. Als sie damit fertig war, setzte sie den Hut wieder auf.

Irgendwann ging die Tür wieder auf und derselbe Mann trat ein, wobei er immer wieder verstohlen auf Ursulas Füße sah. Er ging zum Tisch und starrte auf den Teller.

„Sie haben kaum etwas gegessen, das geht nicht. Sie müssen bei Kräften bleiben.“

Ursula nahm ihren Hut vom Kopf. Die Narben ihrer ausgeheilten Krankheit waren jetzt deutlich zu sehen. Der Mann erschrak und das war es, was Ursula bezwecken wollte.

„Was ist mit Ihrem Kopf passiert? Derselbe Unfall?“

„Nein, das sind die Spuren einer Krankheit, die ich glücklicherweise überlebt und hoffentlich für immer überstanden habe.“

Wieder dieser mitleidige Blick, den Ursula nur zu gut kannte. Sehr gut, ihr Plan funktionierte.

„Brauchen Sie etwas? Kann ich Ihnen eine Freude machen?“

„Ich würde gerne gehen.“

„Das ist leider nicht möglich.“

Als er gegangen war, streckte sich Ursula auf dem Bett aus und lächelte. Dieser Mann war nie und nimmer Polizist, davon war sie jetzt überzeugt. Ihn musste sie bearbeiten, er war ihre Chance. Vielleicht schaffte sie es, ihn dazu zu bringen, dass er sie gehen ließ. Oder er machte einen Fehler, den sie nutzen konnte.

Sie versuchte zu schlafen, um fit und wachsam zu bleiben. Denn solange beide gemeinsam hier waren, konnte sie nichts ausrichten. Sie musste den Mann allein erwischen und ihn dann so richtig in die Mangel nehmen. Er wäre nicht der erste Mann, der ihrem Charme erlag.

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