ENDSTATION

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Aus der Reihe: Leo Schwartz #21
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„Danke, Sie können gehen. Halten Sie sich zu unserer Verfügung, falls weitere Fragen auftauchen.“

„Was für ein Kotzbrocken!“, sagte Hans, als die Kriminalbeamten dem Gärtner hinterher sahen, wie der mit seinem Lieferwagen davonfuhr. „Wo bleibt die Haushaltshilfe? Müsste die nicht schon längst hier sein?“

Fuchs und seine Mitarbeiter waren längst weg. Die Kriminalbeamten warteten ungeduldig vor dem Haus.

„Wir müssen doch nicht alle hier blöd rumstehen“, maulte Werner. „Ich fahre ins Büro und fange mit der Durchsicht der Unterlagen an. Ist das in Ordnung?“

„Ich begleite dich!“, rief Hans schnell. Das würde eine der wenigen Gelegenheiten sein, in denen Viktoria und Leo allein sein konnten. Vielleicht hatte er Glück und sie würden ihre Differenzen endlich aus dem Weg räumen. Außerdem ließ ihn diese Eichendorffstraße nicht in Ruhe. Er musste dringend eine Liste mit gleichnamigen Straßen erstellen. Hatte er überhaupt richtig verstanden? Schließlich war heute Morgen alles sehr schnell gegangen. Er nahm sich vor, auch über ähnlich klingende Straßen eine Liste zu erstellen.

Leo war sauer. Er war nicht schnell genug gewesen und musste nun allein mit Viktoria hier warten. Musste das sein?

Auch Viktoria war nicht scharf darauf und stöhnte genervt. Als sie allein waren, ging sie die Straße auf und ab. Die Schaulustigen hatten sich längst verzogen, es gab hier nichts mehr zu sehen. Sollte sie mit Leo sprechen? War das jetzt der richtige Zeitpunkt? Leo war die Situation genauso unangenehm wie ihr, das konnte sie an seinem Gesichtsausdruck erkennen. Er versuchte ununterbrochen, Frau Hofer zu erreichen, bekam aber immer nur die Mailbox. Er fluchte leise.

„Wir müssen miteinander reden.“, fasste sich Viktoria ein Herz. „So kann das nicht weitergehen. Wir sind doch erwachsen. Ich habe mich sehr darauf gefreut, dich wiederzusehen. Deine kalte, abweisende Art schockiert mich. Warum sprichst du nicht mit mir? Können wir das, was zwischen uns steht, nicht endlich aus der Welt schaffen? Du kannst mir doch nicht ewig aus dem Weg gehen. Komm schon, sprich endlich mit mir!“ Ihr Herz klopfte, als sie direkt vor Leo stand, der ihrem Blick auswich.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich verhalte mich ganz normal.“ Während er sprach, merkte er selbst, was er für einen Blödsinn von sich gab. Natürlich war er nicht normal, sondern hatte eine Stinkwut auf seine frühere Lebensgefährtin. Seit sie zurück war, ging es ihm schlecht und natürlich gab er ihr die Schuld. Wem sonst?

Viktoria wollte etwas darauf erwidern, kam aber nicht dazu. Eine junge Radfahrerin hielt direkt neben ihnen.

„Sorry, dass ich so spät komme. Ich hatte einen Arzttermin und konnte nicht früher weg. Können wir?“ Grete Hofer war Anfang dreißig und voller Temperament. Sie stellte ihr Fahrrad ab und strahlte die Kriminalbeamten an. Leo musste schmunzeln, er mochte fröhliche Frauen. Vor allem aber kam die Frau genau zum richtigen Zeitpunkt, sonst hätte er sich noch mit Viktoria privat unterhalten müssen und das wollte er auf keinen Fall.

Grete Hofer wusste bereits, weshalb sie hier war, und sah sich im ganzen Haus um. Das Chaos erschreckte sie zunächst, aber sie gewöhnte sich schnell daran.

„Der Teppich im Gästezimmer fehlt. Er ist dunkelblau mit roten Akzenten. Sehr schwer, sehr wertvoll und potthässlich. Frau Esterbauer hatte ihn vor einem Jahr von einer alten Tante geerbt und brachte es nicht übers Herz, ihn zu verkaufen oder zu verschenken. Also landete er im Gästezimmer.“

„Sie sind sich sicher?“

„Klar. Ich arbeite hier seit zwei Jahren und kenne jedes einzelne Stück. Wenn ich sage, dass der Teppich fehlt, dann ist das so.“

„Was können Sie uns über das Ehepaar Esterbauer sagen? Wie war deren Ehe? Gab es Streit?“

„Es gab sicher Streit, wie überall. Ob die beiden eine glückliche Ehe führten, kann ich nicht beurteilen und das steht mir auch nicht zu. Ich habe meine Arbeit gemacht und wurde anständig und pünktlich bezahlt. Frau Esterbauer war zu mir persönlich immer freundlich, aber distanziert. Zwischen uns gab es nur sehr wenige private Worte. Wenn ich meine Arbeit machte, war sie entweder beim Einkaufen oder hatte sonstige Termine. War sie zuhause, saß sie meist mit einem Buch im Wintergarten. Herrn Esterbauer habe ich nur sehr selten gesehen. Wenn er zuhause war, hat er sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und die Tür geschlossen. Herr Esterbauer und ich haben uns nie unterhalten, das hat sich nicht ergeben. Aber er grüßte immer freundlich, wenn wir uns doch zufällig begegneten.“

„Sie haben verstanden, dass Frau Esterbauer ermordet wurde und dass wir nach Herrn Esterbauer suchen?“

„Sicher. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Das ist alles sehr schrecklich, keine Frage. Aber ich kannte die beiden nicht näher, habe kaum ein persönliches Wort mit ihnen gewechselt. Ich habe meine Arbeit gemacht und die beiden gingen mir aus dem Weg. Außerdem hätte ich meinen Job nach der gewonnenen Wahl sowieso verloren.“

„Warum das denn?“

„Esterbauer wäre als Minister des Bundes beruflich einen riesigen Schritt nach vorn gekommen. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Esterbauers nach der gewonnenen Wahl nach Berlin umgezogen wären. Bei einer verlorenen Wahl wären sie wieder nach München gezogen. Herrn Esterbauers Eltern sind nicht mehr die Jüngsten und er als Sohn wollte in deren Nähe sein, was ich verstehen kann. Ich habe mitbekommen, dass das Haus hier verkauft werden sollte.“

„Wenn die beiden hiergeblieben wären, hätten sie ihren sicheren Job behalten können.“

„Früher oder später wäre ich für einen Mann in Esterbauers Position nicht die Richtige in seinem Umfeld gewesen, das wurde mir schon lange durch die Blume mitgeteilt. Ja, ich bin nicht die Klügste und kann auch nicht behaupten, dass ich von Ehrgeiz zerfressen bin. Als alleinerziehende Mutter eines kleinen Jungen hätte ich mich als Vorzeigeobjekt bestens geeignet. Allerdings gibt es zwei dunkle Flecke in meiner Vergangenheit, die sich für einen Saubermann in der Politik nicht gut machen. Sie finden es sowieso heraus, deshalb beichte ich lieber gleich, dass ich zwei Vorstrafen kassiert habe.“ Grete Hofer blickte in fragende Gesichter. „Drogendelikte in jungen Jahren, auf die ich als Mutter heute nicht stolz bin. Aber was soll ich machen? Ich kann die Vergangenheit nicht mehr ändern.“ Sie lachte. Es war offensichtlich, dass sie sich längst damit abgefunden hatte und nicht mehr darüber nachdachte.

„Der Verlust Ihres Jobs hätte Ihnen also tatsächlich nicht viel ausgemacht?“, fragte Viktoria.

„Nein. Jobs in Haushalten gibt es wie Sand am Meer. Ich bin sauber, ordentlich und zuverlässig. Leute wie ich werden gesucht, glauben Sie mir. Außerdem hätte ich sowieso in naher Zukunft gekündigt, denn ich bin echt nicht scharf darauf, ständig von irgendwelchen Security-Leuten überprüft zu werden oder mein Gesicht in Klatschzeitungen zu finden. Nein, danke, darauf kann ich gerne verzichten. Meine wilden Jahre sind längst vorbei, heute mag ich es eher ruhig.“

„Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen? Gab es Streit, waren Fremde im Haus, verdächtige Post oder dergleichen?“

„Nein, nicht, dass ich wüsste. Aber das heißt nichts. Ich interessiere mich nicht für meine Arbeitgeber, ich habe mit meinem eigenen Leben genug zu tun. Ich will einfach nur arbeiten und meine Kohle pünktlich kassieren, mehr nicht.“ Grete Hofer sah auf die Uhr. „Sind wir fertig? In zwei Stunden kommt mein Sohn nach Hause, und der möchte gerne sein Mittagessen pünktlich auf dem Tisch haben.“

„Eine Frage habe ich noch.“, sagte Leo, der von der herzerfrischenden Art der Frau begeistert war. „Nach den Unterlagen werden Sie fünf Tage die Woche beschäftigt. Warum waren Sie heute nicht hier?“

„Frau Esterbauer hat mir freigegeben.“

„Warum?“

„Ich habe nicht nach dem Grund gefragt, sondern habe den freien Tag gerne genommen.“

„Kam das oft vor?“

„Nein, eigentlich nicht. War es das jetzt? Ich muss los, das Essen macht sich nicht von allein.“

Leo und Viktoria sahen der jungen Frau hinterher.

„Das mit dem freien Tag ist sehr interessant.“, sagte Leo.

„Stimmt. Hast du gesehen, dass sie ein relativ neues E-Bike fährt?“

„Selbstverständlich. Diese Fahrräder kosten ein Vermögen. Wir sollten uns näher mit Grete Hofer beschäftigen, auch wenn ich einen guten Eindruck von ihr habe. Sie geht mit dem Tod ihrer Arbeitgeberin für meine Begriffe zu teilnahmslos um. Und der Gärtner gefällt mir auch nicht. Den scheint das Schicksal seiner Kunden auch wenig zu interessieren. Lass uns ins Präsidium fahren, vielleicht ist der Herr Sekretär schon eingetroffen.“

„Ich befürchte, dass wir zuerst mit Krohmer sprechen müssen. Er hat sicher schon mitbekommen, um wen es sich bei der Toten handelt.“

2.

Rudolf Krohmer war geschockt, als er von Hiebler und Grössert die Identität der Toten erfuhr. Selbstverständlich sagte ihm der Name Uwe Esterbauer etwas, er kannte ihn sogar persönlich. Dessen Frau kannte er zwar nur vom Sehen, trotzdem traf ihn deren Tod. Der ehrgeizige Politiker Esterbauer war nicht sein Favorit bei den bevorstehenden Wahlen, aber er bewunderte dessen Eifer und den Einsatz für die noch recht junge Partei. Esterbauer zog erst vor zwei Jahren von München nach Mühldorf und pendelte davor ein Jahr zwischen den beiden Städten täglich hin und her. Als er im letzten Jahr Spitzenkandidat der Bürgerpartei Bayern wurde, kündigte er seinen Job und setzte für die Partei alles auf eine Karte. Jetzt schien er kurz vor dem Ziel zu sein, denn die Wahlprognosen standen nicht schlecht.

 

Heiderose Esterbauer war also tot, ermordet direkt vor seiner Polizeistation. Das war schrecklich und löste mit Sicherheit einen Skandal aus. Er konnte die Vorwürfe der Presse bereits hören. Aber das war nicht wichtig. Uwe Esterbauer war verschwunden. In seinem Haus wurden Blutspuren gefunden. Was war da los? Krohmer brauchte mehr Informationen, Grössert und Hiebler wussten allerdings auch nichts. Wo blieben Untermaier und Schwartz? Er sah immer wieder nervös aus dem Fenster. Auf das ununterbrochene Klingeln des Telefons reagierte er nicht mehr. Frau Esterbauers Tod hatte sich herumgesprochen, das war klar. Irgendjemand hatte wieder mal nicht den Mund halten können! Krohmer hatte den Bürgermeister und den Parteivorsitzenden der Bürgerpartei Bayern, Kilian Martlmüller, informiert, das musste vorerst reichen. Das ständige Läuten des Telefons machte Krohmer wütend. Warum hatte er gerade in dieser Woche seiner Sekretärin Urlaub gegeben? Er konnte sie nicht zurückbeordern, sie befand sich seit gestern auf einem Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer. Wie sollte er die bevorstehende Arbeit ohne Hilfe bewältigen? Bis er vom Innenministerium eine Hilfe bewilligt und zugewiesen bekäme, würde er unnötig Zeit verlieren. Und wenn er daran dachte, dass diese auch noch eingearbeitet werden musste, war seine Sekretärin längst aus dem Urlaub zurück. Während er wartend am Fenster stand, zermarterte er sich den Kopf, wie er dieses Problem aus der Welt schaffen konnte. Dann hatte er endlich die zündende Idee: Was war mit seiner alten Sekretärin Hilde Gutbrod? Sie kannte sich aus und er vertraute ihr, obwohl sie mit ihrer Neugier oft übers Ziel hinausgeschossen war. Hatte sie trotz ihres Pflegekindes überhaupt Zeit? Er musste diese Möglichkeit zumindest versuchen.

Die vierundsechzigjährige Hilde Gutbrod erkannte die Telefonnummer auf ihrem Display sofort.

„Hallo, Chef. Wo brennt’s?“, begrüßte sie ihn.

„Ich mache es kurz. Wir haben einen Mordfall, der eventuell mit einer Entführung zusammenhängt. Ich habe im Moment keine Sekretärin. Sie ist im Urlaub und kommt erst in zwei Wochen zurück. Sie können sich sicher vorstellen, dass hier die Hölle los ist. Also: Hätten Sie Zeit und Interesse, den Job kurzfristig zu übernehmen?“

„Ich bin gerührt, Chef. Selbstverständlich können Sie auf mich zählen, ich bin quasi unterwegs.“

„Was ist mit Martin?“

„Der ist seit einigen Wochen in einer Ausbildungsstätte untergebracht und kommt nur übers Wochenende nach Hause. Martin macht eine Ausbildung zum Feinmechaniker, er ist sehr geschickt darin und die Arbeit macht ihm Spaß. – Geht es um den Mord an Frau Esterbauer?“

„Woher wissen Sie das denn schon wieder?“, lachte Krohmer. Wie früher auch entging der Frau nichts.

„Ich habe meine Quellen. Bis gleich, Chef.“

Hilde Gutbrod langweilte sich nicht wirklich. Sie hatte ein Pflegekind, um das sie sich rührend kümmerte. Aber Martin war unter der Woche in der Schule, jetzt machte er sogar schon eine Ausbildung. Wie schnell doch die Zeit verging. Nicht mehr lange, und Martin brauchte sie überhaupt nicht mehr, aber daran wollte sie nicht denken. Seit Frau Gutbrod pensioniert war, hatte sie Frauen und Männer unterschiedlichen Alters kennengelernt, mit denen sie Sport machte und sich gelegentlich auf ein Glas Sekt traf. Darüber hinaus hatte sie genug mit ihrer Nichte Karin zu tun, die trotz der vielen Verkupplungsversuche immer noch keinen Mann gefunden hatte. Die Zeit drängte, denn Karin war nicht mehr die Jüngste, die biologische Uhr tickte schon sehr, sehr laut. Heute Nachmittag war sie mit ihrer Nichte verabredet, aber jetzt musste sie ihr leider absagen. Das Telefonat war tränenreich, denn Karin hatte wieder einmal Liebeskummer. Nachdem Frau Gutbrod mehrmals versuchte, ihr zu erklären, warum sie nicht kommen konnte, legte sie einfach auf. Krohmer und die ehemaligen Kollegen warteten bestimmt schon auf sie. Von der toten Frau Esterbauer hatte sie bereits von ihrer Nachbarin erfahren, von der geschwätzigen Else, die stets erstaunlich gut informiert war. Aber von welcher Entführung sprach Krohmer? Davon hatte Else kein einziges Wort erwähnt.

Die Fahrt ins Büro war für Leo und auch für Viktoria ätzend. Niemand wollte mit dem anderen sprechen, also fuhren sie schweigend.

Krohmer kam den beiden entgegen. Er war gespannt darauf, ob es neue Erkenntnisse gab. Als Krohmer noch im Flur der Polizeiinspektion von dem fehlenden Teppich erfuhr, wurde ihm schlecht. Das deutete darauf hin, dass Esterbauer vermutlich nicht mehr am Leben war. Das wäre eine Katastrophe! Im Besprechungszimmer wiederholten Viktoria und Leo das Gespräch mit der Haushälterin.

„Gut, nehmen Sie die Frau und den Gärtner auseinander. Noch etwas?“

„In Esterbauers Unterlagen habe ich bisher nichts Auffälliges gefunden“, sagte Werner mit Blick auf Hans. „Wenn ich Hilfe gehabt hätte, wären wir vielleicht schon zur Hälfte durch.“

„Entschuldige mal!“, protestierte Hans. „Ich habe zwei Listen mit den Straßennamen erstellt. Das sind alle Eichendorffstraßen in unserem Einzugsgebiet“, sagte er und legte die Kürzere der Listen vor. „Und das hier sind Straßennamen, die ähnlich klingen.“

Krohmer ging nicht auf das Geplänkel ein. Ihn interessierten nur Fakten. Für ihn war der Hinweis auf die Straße zwar nicht unwichtig, stand aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht im Fokus der Ermittlungen. Wo hätten sie ansetzen sollen? Sollten sie jede der Straßen und damit jedes einzelne Haus durchsuchen? Mit welcher Begründung? Und mit welchem Personal?

„Wie steht es um die Finanzen des Ehepaars?“ Schon lange interessierte sich Krohmer dafür, wovon der Mann eigentlich lebte. Das Haus war riesig und es war allgemein bekannt, dass das Ehepaar Esterbauer auf großem Fuß lebte.

„Frau Esterbauer hat vor Jahren ein beträchtliches Vermögen geerbt, sie stammte aus sehr gutem Hause. Das Haus der beiden in Mühldorf ist abbezahlt und auf den Konten liegt genug Geld für die nächsten Jahre. Allerdings bezieht Esterbauer auch ein monatliches Gehalt von der Partei, das sehr ordentlich ist.“

„Wie hoch?“

„Achttausendfünfhundert Euro.“

„So viel? Seit wann?“

„Seit April letzten Jahres. Bis dahin arbeitete Esterbauer in einer Münchner Immobilienfirma, in der er auch nicht schlecht verdiente. Die Kontoauszüge weisen Beträge zwischen sechs- und zwölftausend Euro auf; monatlich, versteht sich.“

„Wenn ich mir überlege, dass diese Partei noch recht klein ist, möchte ich nicht wissen, was man dann in etablierten Parteien verdienen kann.“, sagte Hans.

„Nicht zu vergessen sind ein dreizehntes Monatsgehalt und Spesen, die nicht unerheblich sind.“ Selbst Werner war erstaunt über die Höhe dieser Zahlen, die auf Esterbauers Konto auftauchten. Konnte das wirklich sein?

„Achttausendfünfhundert Euro“, wiederholte Krohmer und schüttelte den Kopf. „Ist das normal? Wie kann sich die Partei dieses üppige Gehalt leisten?“

„Um das beurteilen zu können, bräuchte ich Einblick in die Buchhaltung der Partei.“, sagte Werner.

„Vergessen Sie das, das kriegen wir niemals durch.“ Krohmer konnte diese hohe Gehaltszahlung nicht fassen. Die Bürgerpartei Bayern war noch sehr jung und auf ganz Deutschland umgerechnet auch sehr, sehr klein. Er konnte sich nicht erklären, wie das funktionieren sollte. Aber das war nicht sein Problem, das ging ihn eigentlich nichts an. Oder doch?

Friedrich Fuchs sah ständig auf die Uhr. Wann war er endlich mit seinen Ausführungen dran? Er hatte nicht die Zeit, hier sinnlos herumzusitzen. Wer was und wie viel verdiente, interessierte ihn absolut nicht, Geld interessierte ihn grundsätzlich nicht. Außerdem war er auf nichts und niemanden neidisch, das Gefühl war ihm fremd. Wieder sah er auf die Uhr. Auf ihn wartete sehr viel Arbeit. Gerade, als er ansetzen wollte, kam ihm der Kollege Grössert schon wieder dazwischen.

„Augenscheinlich hatten die Esterbauers außer den Parteifreunden keine weiteren Freunde oder Bekannten. Wir müssen uns trotzdem das Privatleben der beiden genauer vornehmen.“

„Die Esterbauers hatten keine Freunde? Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Krohmer. „Die beiden wurden seit Monaten von allen möglichen Leuten eingeladen. Es gab kaum eine Veranstaltung, bei denen ich sie nicht gesehen habe.“

„Der Festnetzanschluss zeigt momentan dieses Bild. Es könnte allerdings möglich sein, dass beide mit Freunden oder Bekannten Kontakt über ihre Handys oder per Email hielten. Die Einzelverbindungsnachweise sind angefordert, der Laptop ist noch nicht ausgewertet.“

„Was ist mit den Handys? Konnten sie geortet werden?“

Endlich war Fuchs dran, denn das persönliche Umfeld des Ehepaars Esterbauer interessierte ihn ebenfalls nicht.

„Die fraglichen Handys können beide nicht geortet werden, kein Signal. Die letzten Funkzellen beider Handys sagen aus, dass sie sich im Stadtbereich Mühldorf aufgehalten haben. Von der Gerichtsmedizin München kam die Information, dass die Waffe, mit der Frau Esterbauer getötet wurde, bisher nicht erfasst wurde. Es handelt sich um das Kaliber 9mm Parabellum. Die Auswertungen des Hauses Esterbauer stehen noch aus.“ Fuchs war mit seinen Ausführungen so weit fertig. Sollte er einfach aufstehen und gehen? Der Chef hatte schlechte Laune, da war es besser, ihn nicht weiter zu reizen.

Hans war über die Aussage Fuchs‘ bezüglich der letzten Funkzellen enttäuscht, er hatte sich mehr davon versprochen, besonders bezüglich der Eichendorffstraße.

„Wann können wir mit der Auswertung des Laptops rechnen?“

„Daran arbeiten meine Kollegen bereits. Wir kommen eben vom Tatort zurück, Sie müssen Geduld haben, Chef.“, beruhigte Werner. Schon seit Tagen sah Krohmer sehr schlecht aus. „Geht es Ihnen nicht gut?“ Krohmer winkte nur ab.

„Ich habe zuhause einen pubertierenden Dreizehnjährigen, der mir tierisch auf die Nerven geht. Bei jeder noch so kleinen Gelegenheit geraten Mason und ich aneinander. Momentan hat er keine Lust auf Schule, letzte Woche hat er den Klavierunterricht geschmissen. Ständig kommt er mit etwas Neuem daher, das macht mich wahnsinnig!“ Es war sonst nicht Krohmers Art, Privates auszuplaudern. Er ließ sich dazu hinreißen und bereute sofort seinen Gefühlsausbruch.

Alle kannten Mason und alle mochten ihn. Die Umstände, wie das Kind zu den Krohmers kam, hatten sie hautnah mitbekommen.

„So schlimm ist Mason bestimmt nicht“, beschwichtigte Hans, der ein ganz besonderes Verhältnis zu dem Jungen hatte und immer wieder etwas mit ihm unternahm, wenn es seine Zeit erlaubte und wenn Mason Lust dazu hatte. „Er ist in einem schwierigen Alter, das wissen wir alle aus eigener Erfahrung. Der beruhigt sich irgendwann schon wieder.“

„Denselben Mist muss ich mir täglich von meiner Frau anhören“, maulte Krohmer und bereute seinen Ausspruch sofort. Er murmelte eine fast unverständliche Entschuldigung, die Hans mit einem Kopfnicken quittierte.

Von Viktoria und Werner folgten kluge Ratschläge, auf die Krohmer gerne verzichtet hätte. Leo hielt sich raus. Er hatte keine Ahnung von Kindern, er kam ja kaum mit Erwachsenen zurecht. Und Fuchs interessierte auch dieses Thema nicht. Warum brachten die Kollegen und auch der Chef, immer ihre privaten Probleme mit zur Arbeit, wo sie nichts zu suchen hatten? Er entschied, jetzt zu gehen. Dann ging die Tür auf und Frau Gutbrod trat ein. Alle Blicke waren sofort auf sie gerichtet. Krohmer war froh über ihren übertriebenen Auftritt, den sie sicher geplant hatte, denn dadurch wurde vom Thema seines längst amtlichen Adoptivsohnes abgelenkt.

Frau Gutbrod wurde von allen Seiten begrüßt, obwohl keinem klar war, was sie hier eigentlich wollte. Fuchs nutzte die Gelegenheit und ging einfach. Erleichtert schloss er die Tür hinter sich. Ob Frau Gutbrod hier war und warum, ging ihn nichts an. Der Chef hatte sie gerufen und er hatte sicher seine Gründe dafür.

„Frau Gutbrod ist so lieb, mir als Sekretärin auszuhelfen.“, erklärte Krohmer den Kriminalbeamten. „Sie können sich sicher vorstellen, was momentan bei mir los ist. Besonders die Pressemeute stürzt sich wie die Aasgeier auf den Mordfall Esterbauer. Alle möchten Informationen dazu haben oder erkundigen sich über den Stand der Ermittlungen. Ohne Hilfe bin ich aufgeschmissen“, erklärte Krohmer. Hoffentlich hielt sich Frau Gutbrod mit ihrer Neugier zurück. Er musste später unbedingt mit ihr sprechen und ihr ins Gewissen reden. Der Fall Esterbauer war sehr speziell, dabei bedurfte es sehr viel Fingerspitzengefühl, das Frau Gutbrod definitiv nicht hatte. Sollte er sie überhaupt über den aktuellen Stand der Ermittlungen informieren? Eigentlich ging sie das nichts an, sie war lediglich hier, um ihm zur Hand zu gehen. Andererseits hatte es in der Vergangenheit, als sie für viele Jahre seine Sekretärin war, immer Probleme gegeben, wenn sie nicht informiert wurde. Überall hatte sie ihre Nase drin und wusste sehr gut, an wen sie sich wenden musste, um an Informationen zu kommen. Es kam sogar vor, dass sie sich an Zeugen gewandt und eigene Ermittlungen angestellt hatte. Nein, es war besser, sie zu informieren und sie dann um Stillschweigen zu bitten.

 

„Das ist der momentane Stand der Ermittlungen.“, sagte er daher und schob ihr die Unterlagen zu. Frau Gutbrod setzte sich und blätterte begeistert darin. Je mehr sie las, desto schockierter war sie. Uwe Esterbauer war verschwunden und man vermutete ein Verbrechen, mehrere Blutspuren deuteten darauf hin. Er war entführt worden? Frau Gutbrod kannte Uwe Esterbauer und dessen Frau. Nicht persönlich, aber aus diversen Zeitungen und Zeitschriften, natürlich auch von den Plakaten. Ihr war der Mann sehr sympathisch, ihre Stimme hätte er bekommen. Der Name Lobmann kam ihr bekannt vor. War das nicht der Gärtner, von dem ihre Nachbarin Else so schwärmte? Der Hinweis darauf, dass er Witwer war, war sehr interessant. Dann las sie das Geburtsdatum: 1985. Schade, der Mann war für ihre Nichte Karin viel zu jung.

Als Krohmer seine Mitarbeiter verabschiedete, redete er Frau Gutbrod ins Gewissen.

„Kein einziges Wort über die Sache, zu niemandem. Haben Sie mich verstanden?“

„Selbstverständlich. Ich bin doch keine Tratschtante!“ Frau Gutbrod war beleidigt. Was dachte der Chef über sie? Ja, sie war interessiert, das gab sie zu. Aber nicht neugierig! Außerdem lag es ihr fern, Insiderwissen auszuplaudern.

Natürlich war die Information über den gewaltsamen Tod Frau Esterbauers und das Verschwinden des vielversprechenden Politikers Uwe Esterbauers in den Reihen der Bürgerpartei Bayern längst verbreitet worden; irgendjemand hatte mal wieder seinen Mund nicht halten können. Krohmer war verärgert, denn er vermutete den Informanten bei der Polizei. Wer sonst hätte darüber Bescheid gewusst?

Bei der Bürgerpartei waren alle sehr betroffen, viele weinten sogar. Esterbauer war ihre große Hoffnung, endlich auch auf Bundesebene ein Wort mitreden zu können und somit die politische Richtung Deutschlands mit zu beeinflussen. Alle beschäftigte die Frage, wie es nun weiterging.

Als Dieter Marbach davon erfuhr, war er erleichtert, auch wenn er öffentlich seine Betroffenheit zum Ausdruck brachte. Endlich war der Schleimbeutel und Querulant Esterbauer weg! Dieter Marbach war bis zum Erscheinen Esterbauers das große Zugpferd der Partei gewesen. Er war zwar kein Gründungsmitglied der Bürgerpartei Bayern, lebte aber fast ausschließlich nur für sie. Rund um die Uhr hatte er sich neben seinem Beruf als Sachbearbeiter einer Importfirma für die Partei aufgeopfert, worunter auch sein Privatleben sehr gelitten hatte. Seine Frau Klara wollte sich mehrmals von ihm trennen, was er zum Glück immer abwenden konnte. Wie würde er denn als geschiedener Mann dastehen? Nein, das ging überhaupt nicht und hätte ihn viele Stimmen gekostet. Er war kurz davor gewesen, als Kandidat aufgestellt zu werden. Und dann wurde von der Parteispitze Esterbauer als Spitzenkandidat nominiert, obwohl der erst seit einem Jahr dabei gewesen war. Dieser ekelhafte, überhebliche Kotzbrocken hatte ihm den Posten vor der Nase weggeschnappt, wobei dieser nicht einmal ein schlechtes Gewissen hatte. Seit Esterbauer bei der Bürgerpartei aufgetaucht war, hatte er sich in den Vordergrund gedrängt und war bei jeder noch so kleinen Gelegenheit wortführend. Ja, er hatte viele Kontakte, die auch der Partei zugutekamen. Esterbauer war auch ein besserer Redner als er, das musste er ihm neidlos zugestehen. Er konnte die Mengen anheizen und fand immer die richtigen Worte, während Marbach selbst seine Reden von einem Profi ausarbeiten ließ und sie meist auswendig lernte, was für ihn sehr viel mehr Arbeit bedeutete und was niemand sah. Ja, er hatte stets die schriftliche Rede auf dem Pult liegen und las viele Passagen davon ab, aber das machten die großen Politiker auch und das war nicht verwerflich. Trotz Esterbauers Vorzügen befand Marbach, dass er selbst der bessere Mann gewesen wäre, besonders hier in der Provinz. Er war hier geboren und aufgewachsen, außerdem liebte er seine Heimat. Esterbauer hingegen war erst vor zwei Jahren aus München gekommen und war keiner von hier, auch wenn er immer den Anschein erweckte und sich große Mühe gab, sich als Landei darzustellen. Alle wussten, dass Esterbauer aus München stammte, trotzdem applaudierten sie, wenn er sich besonders für die Belange der Landbevölkerung stark machte. Widerlich, dieses schleimige Anbiedern.

Marbach konnte sich noch gut an letztes Jahr erinnern, als ihm mitgeteilt wurde, dass man sich für Esterbauer als Kandidat entschieden hatte. Es klang wie Hohn, als man ihm schulterklopfend erklärte, dass die Entscheidung nur im Sinne der Partei gefällt wurde und man nichts gegen ihn persönlich hätte. Man bedankte sich bei ihm für seine aufopfernde Arbeit und überreichte ihm eine teure Flasche Wein, die er aus Trotz in den nächstbesten Mülleimer warf. Niemand wusste, dass er bereits seine Kündigung in der Firma vorgelegt hatte, die er aufgrund der Absage wieder zurücknehmen musste. Das war einer der peinlichsten Momente seines Lebens gewesen, den er nur Esterbauer und der Parteiführung zu verdanken hatte.

Marbach lehnte sich zufrieden zurück, das Blatt hatte sich jetzt augenscheinlich zu seinen Gunsten gewendet. Sein Konkurrent und das strahlende Licht der Partei war verschwunden, dessen Frau wurde ermordet. Hinter vorgehaltener Hand wurde sogar schon mit Esterbauers Tod gerechnet. War der Typ wirklich tot? Ganz sicher. Esterbauer wurde vom Scheinwerferlicht geradezu angezogen, der würde doch niemals freiwillig untertauchen. Nein, Esterbauer war auch tot, wie dessen Frau. Warum und wie interessierte Marbach nicht. Für ihn war nur wichtig, dass Esterbauer weg war. Dadurch war der Platz des Spitzenkandidaten frei geworden, und das so kurz vor der Wahl. Wie lange würde es dauern, bis die Parteiführung bei ihm auf der Matte stand und ihn bat, die Kandidatur zu übernehmen? Das würde nur eine Frage von Stunden sein. Er hatte munkeln hören, dass die Parteiführung bereits eine Krisensitzung einberufen hatte, wozu außer den dreien niemand geladen war. Ein sicheres Zeichen dafür, dass die aktuelle Situation und somit die Zukunft der Partei, neu besprochen wurde. Spitzenkandidat! Das Wort war wunderschön. Nicht mehr lange und Marbach hatte diese Position inne und er würde endlich da sein, wo er hingehörte. Wollte er das überhaupt nach allem noch annehmen? Und ober er das wollte! Es gab für ihn nichts Erstrebenswerteres, als in der ganz großen Politik mitzumischen. Gut, dazu müssten noch einige Hürden geschafft werden, aber das war für Marbach nur eine reine Formalität. Schließlich kannte er die Umfrageergebnisse, die er selbst in Auftrag gegeben hatte und von denen er wusste, dass sie nicht verfälscht worden waren. Für ihn stand außer Frage, dass sein Weg jetzt frei war. Wie gerne würde er vor allen wichtigen Politikern stehen und denen seine Ansichten und deren Fehler und Misswirtschaft um die Ohren hauen. Bald waren das keine Träume mehr, sondern Realität. Wie wohl seine Klara auf die Neuigkeit reagieren würde?

Marbach sah auf die Uhr. Es war zwar erst kurz nach elf, aber mit diesen guten Aussichten machte er Schluss für den Moment. Er rief seine Frau an und verabredete sich mit ihr zum Mittagessen.

Klara Marbach war überrascht über die plötzliche Einladung. Ihr Mann hatte fröhlich geklungen und sie war neugierig, was das zu bedeuten hatte.