DIE LEICHE MUSS WEG

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Aus der Reihe: Leo Schwartz #29
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2.

30.12. Vormittag, Polizeipräsidium Mühldorf

„Der Urlaub ist für alle gestrichen, es gibt keine Ausnahmen.“ Die Ansage des Mühldorfer Polizeichefs Rudolf Krohmer stieß nicht gerade auf Gegenliebe. Einige Kriminalbeamte hatten bereits Pläne für den bevorstehenden Jahreswechsel, die sie jetzt vergessen konnten. Krohmer hatte gerade verkündet, dass Informationen darüber vorlagen, dass es in der Silvesternacht auf dem Mühldorfer Stadtplatz während einer organisierten Silvesterparty zu Ausschreitungen kommen sollte.

„Sind die Informationen überhaupt sicher?“, maulte der vierundfünfzigjährige Leo Schwartz, der sich ganz besonders auf die freien Tage mit seiner Verlobten Sabine Kofler gefreut hatte. Sie hatten sich seit drei Wochen nicht gesehen und er musste auch die zurückliegenden Weihnachtstage ohne sie verbringen. Sabine arbeitete als freie Journalistin und hatte einen Job in Saudi-Arabien angenommen, der sie sehr interessierte. Leo war sauer gewesen, dass sie ihre Arbeit dem Privatleben vorzog, aber er akzeptierte ihre Entscheidung – auch, weil er als verständnisvoller Partner bei ihr punkten wollte. Wie stünde er denn da, wenn er auf das Privatleben pochte und dabei selbst durch seinen Job immer wieder ausgebremst wurde?

„Auf das, was ich heute vom BND übermittelt bekam, können wir uns absolut verlassen. Der Mühldorfer Stadtplatz steht im Fokus einer Gruppierung, die nicht dafür bekannt ist, dass sie nur Flugblätter verteilt. Die Mitglieder der Blauen Armee treten in letzter Zeit immer aggressiver auf. Diese Gruppe ist erst seit wenigen Jahren bekannt. Anfangs hat man diese Leute belächelt, aber das ist nach den letzten Aktionen vorbei.“

„Blaue Armee? Sind das Polen?“, wollte der achtundfünfzigjährige Hans Hiebler wissen, der auch heute trotz des schlechten Wetters wieder aussah, als würde er sich im Süden aufhalten. Und ihn umgab wieder ein betörender Herrenduft, der neu sein musste und vor allem Leo, der neben ihm saß, die Luft zum Atmen nahm.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte Leo.

„Hast du im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst? Die Blaue Armee hat sich aus polnischen Männern in Frankreich in der Zeit des ersten Weltkriegs gebildet.“

„Man kann ja nicht alles wissen“, maulte Leo, der noch nie etwas von dieser Armee gehört hatte.

„Bitte, meine Herren, kommen wir auf den Punkt zurück. Über die Mitglieder ist nicht viel bekannt, die Kollegen beim BND arbeiten daran“, sagte Krohmer, dem die Nationalität dieser Gruppierung völlig egal war. Es würde Unruhen in seinem geliebten Mühldorf geben, die er keinesfalls duldete – ganz egal von wem auch immer. „Wir werden diese Leute gebührend in Empfang nehmen und dafür sorgen, dass Ruhe und Ordnung herrschen.“ Krohmer schaltete den Projektor ein und gab den Plan bekannt, den er während der Nacht ausgearbeitet hatte. „Insgesamt werden siebzig Polizisten eingesetzt, die sich vor der geplanten Silvesterfeier einfinden und ihre Plätze einnehmen werden. Dadurch werden Gäste abgewiesen werden müssen, was uns sehr entgegen kommt. Vielleicht sind sogar einige Mitglieder der Blauen Armee darunter, was sicher nicht schadet. Die jeweils Ihnen zugewiesenen Kollegen werden von Ihnen an den strategischen Punkten platziert, wobei das Hauptaugenmerk auf die beiden Eingangsbereiche und den damit verbundenen Kontrollen gelegt wird. Der Rest mischt sich unter die Partygäste. Dass keine Uniformen getragen werden, versteht sich von selbst. Alle Polizisten geben sich als normale Feiernde aus.“

„Die Abgewiesenen werden nicht begeistert sein, zumal die Karten schon lange ausverkauft sind.“ Die Leiterin der Mordkommission, Tatjana Struck, meldete sich zu Wort. Der Einsatz zu Silvester war ihr gleichgültig, es war ein Datum wie jedes andere auch.

„Das müssen wir in Kauf nehmen. Sie wissen, was zu tun ist. Sobald Ihnen irgendjemand verdächtig vorkommt, nehmen Sie ihn fest.“

„Ohne ausreichenden Grund? Eine bloße Verdächtigung reicht aus?“, hakte Tatjana nach.

„Unter diesen Umständen ja. Jede einzelne Festnahme wird von mir abgesegnet.“

„Donnerwetter! Hoffentlich nimmt das nicht überhand. Wo sollen wir mit den Leuten hin? In unseren vier Zellen ist nicht allzu viel Platz.“ Tatjana sah in viele ratlose Gesichter, denn alle wussten, dass die Arrestzellen, die sich im Keller des Polizeigebäudes befanden, nur für wenige Personen ausgelegt waren.

„Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit ist. Machen Sie sich an die Arbeit. Instruieren Sie alle Kollegen und sehen Sie zu, dass Sie die Lage im Griff behalten. Ich wünsche Ihnen viel Glück!“ Krohmer fühlte sich hundeelend. Er hatte keine Ahnung, was genau auf ihn zukam und das gefiel ihm überhaupt nicht. Es gab noch nicht viele Informationen über diese Blaue Armee. Auch darüber, was genau diese Leute vorhatten, tappte man völlig im Dunkeln. Seit dem gestrigen Telefonat am späten Abend mit Theo Dinzinger vom BND hatte er Magenschmerzen. Er spürte, dass diese Aufgabe eigentlich zu groß für ihn und seine Polizei war. Er hatte Verstärkung angefordert, die ihm aber aufgrund des besonderen Datums nicht bewilligt wurde. Nur die Altöttinger Kollegen hatten Unterstützung zugesagt. Jede andere Polizeidienststelle wollte im jeweils eigenen Revier für Ordnung sorgen. „Noch Fragen?“, wandte er sich an die Kollegen.

„Ja. Wann kommt endlich der längst versprochene Kollege, der Werner ersetzten soll?“ Leo war nicht scharf auf einen neuen Kollegen, aber Verstärkung würde sehr guttun.

„Habe ich Ihnen das noch nicht mitgeteilt? Die Verstärkung tritt am 1. Januar den Dienst an. Bis dahin müssen Sie noch ohne einen vierten Kollegen auskommen.“

„Um wen handelt es sich? Gibt es nähere Informationen über den Mann?“ Auch Hans war neugierig.

„Ich habe nicht gesagt, dass es sich um einen Mann handelt, ich sprach nur von einer Verstärkung, über die mir noch keine näheren Informationen vorliegen. Wir werden abwarten müssen. In zwei Tagen lernen wir die Kollegin oder den Kollegen kennen.“ Krohmer wusste tatsächlich selbst noch nicht genau, um wen es sich handelte. Nur der Name Nußbaumer war ihm bekannt, mehr nicht. Er hatte einige Quellen angezapft, erfuhr aber trotzdem keine weiteren Details. Das war sehr ungewöhnlich, denn normalerweise hatte er als Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf immer alle Informationen auf dem Tisch. Aber diesmal nicht. Ob das an Weihnachten und der damit verbundenen Urlaubszeit lag? Im Grunde genommen war ihm das Geschlecht und nähere Einzelheiten egal. Ihm war nur wichtig, dass sich der oder die Neue schnell ins Team einfügte.

3.

Zur selben Zeit in München

„Warum Mühldorf? Warum dieses kleine Kaff?“ Der neunzehnjährige Severin Torka hatte all seinen Mut zusammengenommen und war aufgestanden, um diese Frage, die viele der Kameraden beschäftigte, zu stellen. Charly Eckmann mochte keine Widerworte. Und er hasste es, wenn man an seinen Entscheidungen zweifelte.

Charly sah seinen Weggefährten an. Jedem anderen hätte er diese Unverschämtheit nicht durchgehen lassen, aber ihm schon. Er hatte eine Schwäche für Severin Torka, und vor allem für dessen Mutter.

„Denkt doch nach, Männer! In einer Kleinstadt werden wir DIE Schlagzeile werden. Die Zeitungen werden voll von unserem Auftritt sein, die Medien werden sich überschlagen. Ich habe eine Überraschung für euch, die in Mühldorf während unseres Aufenthaltes enthüllt wird. Ihr werdet staunen! Sobald wir zurück sind, wird ein Statement veröffentlicht werden, mit dem wir uns ausführlich äußern werden. Könnt ihr euch vorstellen, wie wir auf einen Schlag bekannt werden? Würden wir in München oder Nürnberg zuschlagen, würde man von uns kaum Notiz nehmen. Noch Fragen?“

Severin Torka fand es trotzdem immer noch dämlich, in diesem kleinen Ort Unruhe zu verbreiten und die geplanten Aktionen durchzuführen. Er zweifelte auch daran, dass man ihre Aktionen überhaupt in dem gewünschten Rahmen zur Kenntnis nehmen würde. Nein, seine Zweifel waren noch nicht ausgeräumt. Er sah seinen Kameraden Wolf Perlinger an. Die beiden hatten sich angefreundet und unternahmen sehr viel gemeinsam auch außerhalb der Gruppe, was niemand wusste und was nicht gerne gesehen war. Wolf nickte ihm aufmunternd zu. Sie hatten im Vorfeld beschlossen, den Vorstand umzustimmen und die Aktion in der Silvesternacht in einer Großstadt durchzuführen. Das konnte nur Severin machen, alle anderen, auch er selbst, trauten sich nicht. Charly Eckmann konnte sehr ungehalten darauf reagieren, wenn man ihn kritisierte. Severin Torka blieb stehen.

„Bitte überdenke deine Entscheidung, Charly. Du hast selbst gesagt, dass seit geraumer Zeit Informationen durchsickern. Ich habe mir den Mühldorfer Stadtplatz online angesehen. Wenn uns die Polizei dort erwartet, wird das kein Zuckerschlecken. Es gibt kaum Fluchtwege. Außerdem befürchte ich, dass alle Aktionen sinnlos verpuffen, dafür steckt zu viel Arbeit dahinter. Lass uns doch…“

„Genug! Ich habe entschieden und dabei bleibt es!“ Charly Eckmann brüllte. Noch während Severin sprach, stieg sein Wutpegel mehr und mehr an.

Severin setzte sich. Viele beobachteten ihn und wussten, dass jetzt das letzte Wort gesprochen war. Schade, denn sie hatten sich von dieser bevorstehenden Aktion sehr viel versprochen. Viele Stunden hatten sie zusammengesessen und alle Vorschläge diskutiert, die von allen Seiten vorgebracht wurden, bis sie sich schließlich geeinigt hatten. Die Mehrzahl der Kameraden war enttäuscht, denn ihr Auftritt würden in dem Kaff sicher untergehen und nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Wer würde sich denn für Informationen aus einem nichtssagenden Dorf interessieren? Und was würde passieren, wenn dort tatsächlich die Polizei auf sie wartete?

 

Charly Eckmann spürte die Unruhe und beruhigte seine Kameraden, wofür er die richtigen Worte fand. Charly war ein äußerst begabter Redner, der seine Zuhörer schnell in den Bann zog. Auch deshalb war er der perfekte Anführer, auch wenn seine Entscheidungen, wie jetzt auch, angezweifelt wurden.

„Ich wollte euch mit dieser Nachricht erst im neuen Jahr überraschen, aber jetzt ist die Zeit gekommen, um euch zu informieren: In einer Woche bekommen wir Zuwachs: zwei weitere Gruppen schließen sich uns an, wodurch unsere Mitgliederzahl sprunghaft ansteigen wird.“ Mit einem breiten Grinsen strahlte er die Kameraden an.

„Wer ist das? Um wen geht es dabei?“, wollten einige wissen.

„Das sind zum einen Mitglieder der aufgelösten Höllenhunde, sowie die Nationalfront, die euch sicher ein Begriff ist.“ Diese Information saß. Charly Eckmann genoss diesen Moment der Bewunderung, die ihm entgegenschlug. Sofort waren alle Feuer und Flamme. Niemand hätte je damit gerechnet, dass die Blaue Armee binnen kürzester Zeit so groß werden würde. Seit Charly zum Vorsitzenden gewählt wurde, wuchs die bis dahin unbedeutende Gruppe mehr und mehr an. Das lag auch an den organisierten Aktivitäten, mit denen man große Aufmerksamkeit erlangte. Längst waren sie nicht mehr die Gruppe durchgeknallter, verwahrloster Männer, sondern waren durchstrukturiert und man begann, in manchen Kreisen sogar mit Achtung von ihnen zu sprechen. Der Aufmarsch und die Übergriffe auf das Asylantenheim in München waren Erfolge gewesen, über die man immer noch sprach.

„Wir treffen uns morgen um elf Uhr hier, dann fahren wir gemeinsam mit einem gemieteten Bus nach Mühldorf. Denkt daran, dass ihr alle sauber und ordentlich ausseht! Das wird ein Spaß werden, das verspreche ich euch. Und jetzt: Freibier für alle!“

Das ließen sich die Kameraden nicht zweimal sagen.

Severin wartete, bis alle den Saal verlassen hatten.

„Entschuldige“, sagte er zu Charly, den er sehr bewunderte. Severin kannte seinen eigenen Vater nicht. Der war abgehauen und hatte seine schwangere Mutter einfach sitzenlassen. Seit Charly vor drei Jahren in sein Leben trat, hatte er endlich die Vaterfigur, nach der er sich immer gesehnt hatte. Auch um ihm zu gefallen mischte er immer ganz vorn mit und wurde immer mutiger. Längst war er nicht mehr der junge, verschüchterte Typ, dem man nichts zutraute – und das hatte er nur Charly zu verdanken.

„Schon gut. Du hattest mit deinem Einwand nicht ganz unrecht. Ich habe die Aktion genau durchdacht und habe mich gezielt für Mühldorf entschieden. Aber es stimmt, dass bezüglich des Verräters ein gewisses Risiko einkalkuliert werden muss. Wir müssen uns um die Ratte kümmern, die uns verpfeift. Hast du einen Verdacht?“

„Nein.“

„Halt die Augen auf und gib mir Bescheid, wenn dir irgendetwas auffällt.“

„Mache ich.“

Charly klopfte dem Jungen auf die Schulter, auch wenn er ihm am liebsten einen Faustschlag verpasst hätte. Diese Unverschämtheit, ihn vor allen anderen zu kritisieren, durfte sich nicht wiederholen.

„Ich brauche die absolute Loyalität der Kameraden. Ohne die kann ich meine Arbeit nicht machen. Das verstehst du doch, oder?“

„Sicher!“

„Habe ich deine Loyalität? Vertraust du mir?“

„Absolut!“

„Warum stellst du mich dann vor allen bloß? Kannst du dir vorstellen, dass du damit meine Autorität untergräbst?“

„Das wollte ich nicht, bitte entschuldige. Ich vertraue dir blind und würde dir überall hin folgen, das weißt du doch!“

„Dann mach das nie wieder!“

Wolf Perlinger beobachtete das Gespräch zwischen den beiden. Er konnte erkennen, dass Charly Severin unter Druck setzte. Verdammt! Er hätte diesen labilen Typen nicht so bearbeiten dürfen! Ob er auch jetzt immer noch so vertrauensvoll alle Informationen weitergeben würde? Wolf spürte, dass er in Zukunft vorsichtiger sein musste. Nicht auszudenken, wenn herauskäme, dass er Informant und Mitarbeiter des BND war. Was dann mit ihm passieren würde, konnte er sich lebhaft vorstellen.

Während alle tranken und immer wieder auf den bevorstehenden Einsatz anstießen, hielt sich Charly Eckmann zurück. Er nippte immer nur an seinem Bier, das das einzige bleiben sollte. Er hatte keinen Schimmer, wer die Ratte war, die Informationen weitergab. Vielleicht hatte er Glück und derjenige würde sich durch hohen Alkoholeinfluss irgendwie verraten.

Wolf Perlinger spürte, was Charly vorhatte und nahm jede Bierflasche an, die ihm angeboten wurde. Er schaffte es, trotzdem nur zwei Bier zu trinken und den Eindruck zu vermitteln, dass er betrunken sei. Charly versuchte, jeden einzelnen auszuhorchen, hatte aber keinen Erfolg. Nach vier Stunden hatte er endlich genug und ging. Zuhause wartete die schöne Helen, die er nicht länger warten lassen wollte. Aber vorher hatte er aber noch ein wichtiges Telefonat zu erledigen.

„Ich habe die Kameraden informiert“, sagte Charly.

„Jetzt schon? War das nicht zu früh? Du weißt, dass es eine undichte Stelle gibt!“ Dominik Baumann, der Anführer der Nationalfront, war nicht begeistert.

„Es ging nicht anders, man hat die Aktion in Mühldorf in Frage gestellt.“

„Mühldorf ist genial, was gibt es daran zu kritisieren? Schwamm drüber. Halt die Augen auf, Charly. Viel Glück!“

„Danke. Wenn ich zurück bin, werden wir die weiteren Schritte besprechen. Hast du deine Leute informiert?“

„Natürlich nicht! Wie besprochen, halten wir Übungen im Gelände ab. Wofür die gut sind, weiß niemand – und dabei soll es auch bleiben.“ Dominik Baumann war kein Freund davon, Untergebene wie Freunde zu behandeln. Als ehemaliger Fremdenlegionär war er es gewohnt, dass einer die Befehle gab und andere diese ungefragt befolgten. Er hatte vor vier Monaten die Nationalfront an sich gerissen und seitdem versucht, diesen bunten Haufen zu ordentlichen Soldaten zu formen. Einige waren abgesprungen, da sie dem Drill nicht standhielten, dafür waren andere dazugekommen, die Baumann aus seiner aktiven Zeit als Fremdenlegionär kannte. Trotzdem waren sie nur wenige, die nichts ausrichten konnten. Gemeinsam mit der Blauen Armee sah das schon ganz anders aus. Die Gespräche mit Charly Eckmann waren sehr vielversprechend gewesen. Als es dann auch noch die Möglichkeit gab, die Höllenhunde zu gewinnen, wurden die Gespräche intensiver. Eckmann und Baumann begannen, Pläne zu schmieden, die sie gedachten, zeitnah in die Tat umzusetzen. Die Aktion auf dem Mühldorfer Stadtplatz war längst geplant und Charly bestand darauf, diese umzusetzen.

„Gut. Wenn ihr zurück seid, wird die Presse vor der Tür stehen, darum werde ich mich kümmern“, sagte Baumann, der gute Kontakte zu den Medien hatte. „Und während alle noch über Mühldorf sprechen, übernehmen wir den Bayerischen Landtag.“

Wolf Perlinger trat hinter dem Haus in der Sendlingerstraße hervor. Drinnen wurde kräftig gefeiert. In dem alten Haus war eine Schreinerwerkstatt untergebracht, der Besitzer Ludwig Wallinger war ein Freund von Charly. Sobald Feierabend war, konnten sie sich in den Kellerräumen der Werkstatt frei bewegen. Dort hatten sie sich einen Raum eingerichtet, in dem sie sich regelmäßig trafen. Niemand wusste davon. Eine geniale Tarnung, die auf Charlys Mist gewachsen war.

Wolf beobachtete, wie der Chef lange telefonierte und dann mit seinem alten Amischlitten davonfuhr. Dann nahm Wolf sein Handy.

„Die Aktion findet wie geplant in Mühldorf statt. Eckmann hat vorhin verkündet, dass die Blaue Armee anwächst. Mitglieder der Höllenhunde und der Nationalfront werden sich anschließen. Sie wissen, was das bedeutet.“

Theo Dinzinger atmete tief durch. Ja, er wusste, was das zu bedeuten hatte. Es trat genau das ein, was er befürchtet hatte: Die Blaue Armee wurde stärker und stärker.

„Noch etwas, Perlinger?“

„Nein. Ich fürchte, dass meine Tarnung demnächst auffliegt. Sie müssen mich hier rausholen.“

„Nein, das ist noch zu früh. Wir haben es geschafft, einen Maulwurf in die Blaue Armee einzuschleusen. Das ist Gold wert! Wir können jetzt nicht einfach aufhören, nicht jetzt. Halten Sie durch, Perlinger! Halten Sie die Augen auf und seien Sie wachsam. Gehen Sie um Gottes Willen kein Risiko ein! Melden Sie sich, wenn sich etwas Neues ergibt.“

Wolf legte auf und ging. Unterwegs warf er die Prepaidkarte seines Handys in irgendeinen Papierkorb. Nichts und niemand durfte ihn mit seinem Kontaktmann in Verbindung bringen. Zuhause hatte er unter den Dielenbrettern noch weitere Prepaidkarten versteckt, die er nach und nach aufbrauchte.

Wolf hatte nicht mitbekommen, dass er belauscht wurde. Severin stand während des Gesprächs in der Nähe und hatte Wortfetzen aufgeschnappt. War das möglich? Hatte er Wolf richtig verstanden? Er winkte ab und pisste gegen die Hauswand. Welchen Grund sollte Wolf haben, die Kameraden zu verraten? Nein, das konnte nicht sein. Er hatte sich sicher verhört, woran das Bier, von dem er viel zu viel trank, sicher schuld war. Severin ging zurück zu den Kameraden, die zu seiner Familie geworden waren. Hier fühlte er sich wohl, er wollte nirgendwo anders sein.

4.

Silvester 31.12., 8.30 Uhr

Diana Nußbaumer war voller Vorfreude. Morgen war es so weit und sie trat ihre neue Stelle in Mühldorf an. Die Stadt selbst war ihr nicht unbekannt. Sie wurde in Burghausen geboren, wuchs dort auf und lebte immer noch dort. In der Schule wurden diverse Ausflüge nach Mühldorf unternommen. Außerdem führte die Bahn direkt über diesen Ort, wo sie manche Stunde wartend auf den nächsten Zug verbrachte. Das alljährliche Stadtfest war neben vielen anderen Veranstaltungen ein Besuchermagnet, das auch sie, ihre Familie und Freunde immer wieder nach Mühldorf führte. Als sie die Zusage für die vom Innenministerium ausgeschriebene Stelle bei der Kriminalpolizei Mühldorf bekam, war sie hin und weg. Niemals hätte sie daran geglaubt, in der Nähe ihres Wohnortes einen geeigneten Job finden zu können. Innerlich hatte sie sich bereits darauf eingestellt, weit weg ziehen zu müssen. Dadurch hätte sie ihre Familie zurücklassen müssen, was ihr als eingefleischtem Familienmenschen nicht gefallen hätte. Sie lebte mit ihren achtundzwanzig Jahren immer noch in ihrem Elternhaus, was ihr im Freundeskreis Hohn und Spott einbrachte. Aber das war ihr gleichgültig. Sie liebte das warmherzige Heim, ihre Eltern und ihren Bruder, der seit zwei Jahren mit seiner Frau das ausgebaute Dachgeschoss bewohnte. Im Haus gleich nebenan lebten ihre Großeltern, die sie über alles liebte. Vor allem ihr Opa Alois hatte es ihr angetan. Weil er Polizist gewesen war, hatte sie diese Laufbahn eingeschlagen. Sie wollte so sein wie er, ihn wollte sie stolz machen, was ihr auch gelang. Es kam nicht selten vor, dass der Opa unter der Woche am Fenster wartete und sie abpasste, wenn sie nach Hause kam. Erst musste sie ausführlich von ihrem Tag erzählen. Dann kramte Opa in seinen Erinnerungen und erzählte dazu passende Geschichten. Wie er das machte, war ihr ein Rätsel. Diana liebte diese Gespräche. Dabei tranken sie Pfefferminztee und aßen Kekse, die Oma extra für diese Gespräche gebacken hatte. Wenn sie dann nach Hause ging, wartete dort die Familie und alle berichteten über die Erlebnisse des Tages. Die Wochenenden wurden gemeinsam verbracht. Man kochte und aß gemeinsam, für alle war das selbstverständlich. Nein, dieses Zuhause, um das sie viele insgeheim sicher beneideten, würde sie nur sehr ungern aufgeben. Für sie war es schön, heimzukommen und zu wissen, dass sie nicht allein war. Hier wartete man auf sie und interessierte sich für jede Kleinigkeit.

Da Mühldorf über die neue Autobahn keine halbe Stunde entfernt war, war allen klar, dass sich an der Wohnsituation nichts ändern würde. Und damit das auch so blieb, bekam sie von ihren Großeltern zu Weihnachten einen neuen Wagen geschenkt. Wäre sie nicht völlig verrückt, wenn sie diese Familie verlassen würde?

Diana wusste natürlich, dass am Mühldorfer Stadtplatz eine riesige Silvesterparty geplant war. Deshalb hatte sie Karten gekauft und wollte dort mit ihrem Bruder und dessen Frau ins neue Jahr feiern. Gäbe es einen geeigneteren Ort? Ganz sicher nicht!