Die Jagd nach dem Serum

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Aus der Reihe: Leo Schwartz #19
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„Zwei Pakete sind aus Deutschland unterwegs. Eins geht nach Großbritannien, eins nach Amerika. Die Pakete wurden in Pfarrkirchen und in Simbach aufgegeben.“

„Wo zum Teufel sind diese Orte? Ich habe noch nie davon gehört.“

„In Süddeutschland, in Bayern. Genauer gesagt in Niederbayern.“

„Sie fahren nach Deutschland und überzeugen sich vom Inhalt beider Pakete.“

„Ich?“

„Sie sprechen doch Deutsch?“

„Ja, aber…“

„Perfekt. Ich habe Kontakte zum deutschen Zoll und werde den Versand der Pakete aufhalten. Ihr Flug geht in zwei Stunden, beeilen Sie sich.“

Patrick Lynch war stinksauer. Er mochte keine Außendienstarbeiten, deshalb hatte er sich für den Innendienst anwerben lassen. Warum bestand Barnes darauf, dass er die Arbeit übernahm? Sollte das so eine Art Anerkennung und Belohnung sein? Darauf konnte er gerne verzichten. Wütend nahm er seine Aktentasche und fuhr mit dem Taxi zum Flughafen Heathrow.

Der Flug nach München war holprig. Patrick war übel. Er mochte keine Flugreisen und hasste seinen Chef regelrecht für diese Aufgabe. Wo war der Zoll in München? Wie liefen die Paketlieferungen ab? Seine Abreise aus London ging so schnell vonstatten, dass er sich vorher nicht mehr informieren konnte. Und hier im Flugzeug durfte er das Internet nicht nutzen. Shit!

In München angekommen, las er zu seiner Überraschung seinen Namen auf einem Schild, das ein Mann hochhielt.

„Ich bin Patrick Lynch.“

„Bitte folgen Sie mir.“

„Auf keinen Fall. Erst möchte ich wissen, wer Sie sind und was Sie von mir wollen.“

„Entschuldigen Sie. Mein Name ist Krummwinkler, ich bin im Auftrag von Mr Barnes hier. Es geht um zwei Pakete, für deren Inhalt Sie sich interessieren.“

„Sie haben die Pakete?“

„Ja.“

„Wo?“

„Wie Sie sehen, habe ich sie nicht bei mir. Sie sind in meinem Wagen. Bitte folgen Sie mir.“

Patrick hasste diese Geheimhaltungsscheiße, von der er auch in Kinofilmen angewidert war. Warum hatte er sich damals nur von Barnes anheuern lassen?

Er folgte Krummwinkler und war auf der Hut. Warum hatte er sich auf diesen Blödsinn eingelassen? Er war noch nie ein mutiger, risikofreudiger Mensch gewesen. Er wollte seine Ruhe haben und fühlte sich hinter seinem Schreibtisch sehr wohl. Patrick war erschrocken, als Krummwinkler in ein Parkhaus ging. Hier lauerte überall Gefahr. War das eine Falle? Dann blieb Krummwinkler vor einem dunklen Wagen stehen und öffnete die Heckklappe. In der Hand hielt er ein Messer. Patrick erschrak und trat einen Schritt zurück.

„Sie gehören nicht zu den Mutigsten, wenn ich das bemerken darf,“ lachte Krummwinkler, der eine völlig andere Vorstellung von Mitarbeitern des Britischen Geheimdienstes hatte. Der sehr schlanke, unscheinbare und in seinen Augen viel zu junge Mann vor ihm passte irgendwie nicht. Außerdem war dieser Lynch misstrauisch und hatte viel zu viel Angst. „Nur die Ruhe! Das Messer ist für Sie. Sie wollen doch die Pakete öffnen? Ich nehme an, dass es Ihnen nicht erlaubt war, im Flugzeug ein Messer mitzuführen?“

Patrick nickte nur und nahm das Messer. Dann zog er Handschuhe an, die er aus seiner Tasche zog.

Beide Pakete waren völlig unscheinbar und hatten augenscheinlich nichts miteinander zu tun. Die Verpackung war selbstgebastelt, sogar das Paketklebeband war nicht identisch. Auch die Schriften auf den Paketen glichen sich nicht. Alles sah so aus, als würden diese Pakete nichts gemein haben; bis auf den kleinen, gelben Sticker neben dem Adressaufkleber, auf dem eine Eule abgebildet war. Vorsichtig öffnete Patrick das Paket und wickelte den Inhalt aus. Zum Vorschein kam eine alte, geschnitzte Holzfigur.

„Sieh an, die Heilige Barbara,“ sagte Patrick.

„Wertvoll?“

„Keine Ahnung. Ich denke nicht, dass es um die Figur geht.“ Patrick untersuchte die Figur genau. Das Siegel gefiel ihm nicht. Er bemerkte die Kante am Fußteil der Figur und war für einen Moment versucht, daran zu drehen, unterließ es aber. Zuerst musste er das Siegel vorsichtig entfernen. Krummwinkler stöhnte auf. Das, was der Brite machte, dauerte ihm viel zu Lange. Einen Gang weiter liefen Passanten, die aber keine Notiz von ihnen nahmen. Wenn sich der Typ nicht endlich beeilte, würden sie hier noch auffliegen. Endlich war das Siegel entfernt und Patrick öffnete die Figur.

„Die Figur ist hohl?“

„Eine Reliquienfigur,“ sagte Patrick überrascht, als er den Inhalt vorsichtig herauszog. Haare und winzige Stoffteile legte er fein säuberlich auf das nächste Paket. Er hatte zwar schon von Reliquienfiguren gehört, aber noch nie eine echte gesehen. Das Stück war authentisch und sicher weit über 100 Jahre alt.

Patrick legte die Figur zur Seite. Dann öffnete er das zweite Paket. Auch hier kam eine Reliquienfigur zum Vorschein und wieder musste er das Siegel entfernen, was ebenfalls eine gefühlte Ewigkeit dauerte. Krummwinkler stöhnte auf. Der Brite war viel zu genau und ließ sich viel zu viel Zeit. In der ersten Figur war nur altes Zeug verstaut, dasselbe in der zweiten.

„Der ganze Aufwand nur wegen diesen alten Figuren und deren wertlosem Inhalt?“ Krummwinkler war enttäuscht. „Ich hatte mir mehr versprochen. Was soll der Scheiß?“

Patrick erwiderte nichts darauf, sondern besah sich beide Figuren genauer.

„Der Hohlraum wurde mit Blei ausgekleidet. Warum der Aufwand? Wegen den Reliquien?“

„Keine Ahnung. Die Sache stinkt.“

Patrick dachte ähnlich. Was sollte das? Warum machte sich jemand solche Mühe? Von beiden Figuren machte er jede Menge Fotos.

„Wir müssen die Siegel wieder so anbringen, dass niemand etwas bemerkt.“

„Das ist das kleinste Problem, das krieg ich hin.“

„Sehr gut. Danach können die Pakete zugemacht und dem Postweg zugeführt werden.“

„Das war alles?“ Krummwinkler schüttelte den Kopf. Er verstand den ganzen Aufwand nicht. „Seien Sie mir nicht böse Mr. Lynch, aber ich denke, dass die Kosten Ihres Fluges den Wert dieser Pakete bei Weitem übersteigt.“

„Ich weiß. Ich verstehe auch nicht, was das soll. Noch nicht. Ich nehme an, dass Sie die Pakete mit diesem Aufkleber im Auge behalten?“

„Sie können versichert sein, dass ich das weiterleite.“

„Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Krummwinkler sah dem Briten hinterher. Da die Anfrage des Kollegen Barnes offiziell lief, blieb ihm nichts Anderes übrig, als einen entsprechenden Bericht zu verfassen. Ob die Informationen allerdings ausreichten, um Pakete mit diesem Aufkleber im Auge zu behalten, war fraglich. Hier ging es nicht um Schmuggel im eigentlichen Sinne. Wenn es um Drogen, Geld, Edelsteine oder sonst etwas Wertvolles ginge, wäre das kein Problem. Aber der Aufwand wegen der ollen Figuren und deren wertlosem Inhalt? Nein, das rechtfertigte nicht die Kontrolle Tausender Pakete. Sie hatten jetzt schon Personalmangel und er konnte dafür keinen Kollegen entbehren. Der Bericht darüber musste ausreichen, damit waren die Briten hoffentlich zufrieden. Er packte die Figuren wieder ein und wusste jetzt schon, dass er in den nächsten beiden Stunden damit beschäftigt sein würde.

Patrick nahm den nächsten Flug nach London, der kein bisschen besser war als der vorherige. Sofort nach seiner Rückkehr erstattete er Barnes Bericht, nachdem er sich mit einem Gutachter besprochen hatte. Der hatte bestätigt, dass diese Reliquienfiguren zwar begehrt waren, aber keinen hohen Wert darstellten. Er schätzte beide Figuren anhand der Fotos auf jeweils maximal circa 100 Pfund.

Barnes hörte überrascht zu und besah sich alle Fotos. Auch er hatte mit etwas ganz anderem gerechnet.

„Dann ist das Sache der deutschen Behörden und für uns erledigt. Trotz allem: Gute Arbeit, Lynch!“

„Eine Frage habe ich noch: Warum haben Sie mich nach Deutschland geschickt? Warum der Aufwand? Diese Pakete fallen nicht in unseren Zuständigkeitsbereich, das ist Sache der Deutschen.“

„Wollen Sie die Wahrheit hören?“

„Sicher.“

„Man will uns den Etat kürzen, da wir in den letzten Monaten keine Erfolge nachweisen konnten. Die Deutschen sind durch uns auf den Schmuggel aufmerksam geworden und schulden uns nicht nur Dank, sondern auch Anerkennung. Die ist es, die wir brauchen. Wir können uns keine Etatkürzungen leisten, wir müssen sowieso schon an allen Ecken sparen.“

Barnes war enttäuscht. Ja, das war ein Erfolg gewesen, wenn auch ein kleiner. Hätte es sich um Diamanten, Rauschgift oder Ähnliches gehandelt, hätte er weit bessere Karten gehabt. Aber alte Reliquienfiguren? Er nahm seine Jacke und ging wie jeden Abend in den Club. Was sollte er auch sonst tun? Vor über zehn Jahren hatte ihn seine Frau verlassen. Er hasste die einsamen Abende zuhause und zog es vor, im Club zu Abend zu essen, ein Porter zu trinken und eine gute Zigarre zu rauchen. Mit Glück fand sich ein interessantes Gespräch mit einem der anderen Clubmitglieder, denen es ähnlich ging wie ihm.

Dass Krummwinkler lediglich einen Bericht verfasste, nachdem er die Pakete wiederhergestellt und dem Postweg zugeführt hatte, ahnten weder Patrick Lynch noch Oliver Barnes. Dieser Bericht ging an Krummwinklers Vorgesetzten, der dem weiter keine Beachtung schenkte, nachdem er eine Kopie davon nach England schickte.

5.

Seit Wochen recherchierten die Mühldorfer Kripobeamten in alle Richtungen, jedoch ohne Erfolg. Krohmer hatte so langsam die Nase voll, dass sich fünf seiner Leute in einen Fall reinknieten, ohne irgendein Ergebnis aufweisen zu können. Standen diese Ermittlungen noch im Verhältnis zu den Diebstählen? Wenigstens hielt sich die Presse inzwischen zurück, die offenbar nicht mehr sonderlich an diesen Diebstählen interessiert war. Vielmehr konzentrierten sie sich auf den bevorstehenden Besuch eines neuen Bischofs, der wie ein Popstar gefeiert wurde. Krohmer interessierte sich nicht für den Mann, war aber sehr glücklich darüber, dass es ihn und die Hysterie um ihn herum gab. Trotzdem setzte Krohmer eine Frist, denn die Überarbeitung der alten Fälle stand immer noch im Raum.

 

„Ich gebe Ihnen noch eine Woche. Danach übernehmen die Herren Asanger und Stumpf den Fall wieder alleine. Sie arbeiten dann ohne Widerworte und ohne Murren die alten Fälle durch.“ Die Ansage Krohmers wurde ohne Begeisterung, aber auch mit Verständnis aufgenommen.

„Wie sollen wir die Bande aufspüren? Die Aussagen sind widersprüchlich, niemand hat sie je gesehen. Auch die Recherchen bezüglich des Lieferwagens laufen ins Leere. Mal ist der Wagen weiß, dann gelb, manchmal sogar blau. Einer behauptet, der Wagen hätte eine Aufschrift, ein anderer sagt, dass nur eine Figur auf der linken Seite abgebildet wäre. Es ist zum Verrücktwerden!“ Asanger hatte sich mit mehreren Zeugen angelegt, da dessen Nerven inzwischen am Boden waren.

„Die Diebe gehen sehr geschickt vor und hinterlassen außer diesen Bonbons keine Spuren,“ sagte Leo. Er war enttäuscht, dass es in diesem Fall nicht einen Schritt weiterging.

„Trotzdem bleibt es dabei: Ende nächster Woche sind Sie, Hiebler und Grössert raus aus dem Fall.“

Derweil klauten die Kurowski-Brüder alles, was nicht niet- und nagelfest war. Ihre Diebestouren wurden ausgedehnter, was beiden nichts ausmachte. Jeden Abend kamen sie mit mindestens zwei alten Heiligenfiguren zurück, die Gerhard Kurowski gierig entgegennahm. Er hatte inzwischen mehrere Figuren an Arsai verkauft, der immer prompt und großzügig bezahlte. Gerhard hatte das Interesse an dessen Reliquienfiguren verloren. Er hatte sich informiert, dass es mit diesen Figuren nicht mehr Geld zu verdienen gab, als diese an Arsai zu verkaufen. Gerhard hatte in den letzten Wochen mit dem angenehmen Nebengeschäft sehr viel Geld verdient, von dem seine Neffen nichts ahnten. Sie waren zufrieden mit dem, was er ihnen bezahlte und legte ab und zu eine Sonderprämie drauf, um die beiden ruhig zu halten. Das klappte hervorragend.

Auch Arsai war zufrieden. Er hatte Gerhard Kurowski angesehen, dass er nicht mehr an dem interessiert war, was er mit den Reliquienfiguren machte. An Kunst war Kurowski nicht interessiert. Beide Empfänger der Erstlieferungen hatten bestätigt, dass die Siegel noch dran waren. Keiner hatte die kleinen Kratzer bemerkt, die Gerhard Kurowski und Patrick Lynch verursacht hatten. Konnte es sein, dass Kurowski sich nicht von dem Inhalt überzeugt hatte? Die Fingerabdrücke wurden abgenommen und an Arsai übermittelt. Der verglich sie mit denen, die er von Kurowski hatte: Sie stimmten überein. Nur er hatte die Figuren angefasst. Nach einer weiteren Probelieferung ging er rasch zu seinem eigentlichen Schmuggel über und machte sehr viel Geld damit. Und das alles ohne Risiko. Sollte er auffliegen, würde er niemals mit den Figuren in Verbindung gebracht werden.

Gerhard Kurowski hatte viel zu tun. Die Fahrten zu den Postämtern dehnten sich aus und er musste zusehen, dass er bis zur Rückkehr seiner Neffen wieder zurück war. Er konnte es nicht erwarten, die Figuren zu überprüfen, schließlich ging es um sein Geld, das sich erfreulicherweise sehr schnell vermehrte.

6.

Die Verhandlungen um den Etat des Britischen Geheimdienstes waren sehr zäh verlaufen. Obwohl Oliver Barnes mit Engelszungen sprach, den Bericht der Deutschen präsentierte und jede Menge Argumente anführte, wurde der Etat gekürzt. Zwar nicht um den ursprünglichen, viel zu großen Betrag, aber trotzdem empfand Barnes das als persönliche Niederlage. Er war enttäuscht und müde, als er gegen 20.30 Uhr seinen Mantel nahm. Sein Weg führte ihn durch das verregnete London auch heute wieder in den Club. Er hoffte darauf, dort Ablenkung zu finden.

Er betrat den Club und entdeckte seinen Onkel Carl, der allein an einem der Tische saß. Barnes freute sich, seinen Onkel zu sehen. Wie lange war es her, dass er ihn gesprochen hatte? Das musste sicher schon zwei Monate her sein.

„Ein Tisch für Sie allein, Mr. Barnes?“

„Danke Sam. Ich setze mich zu Mr. Johnson.“

„Wie Sie wünschen. Das Übliche?“

Barnes nickte nur. Er aß seit Jahren an jedem Wochentag dasselbe Gericht. Heute war Mittwoch, also gab es Lamm mit Kartoffeln und Bohnen. Dazu gab es ein frisch gezapftes Porter; ein obergäriges, sehr dunkles Bier mit malzigem Geschmack, auf das sich Barnes jeden Tag freute.

„Guten Abend Onkel Carl. Ich hoffe es stört dich nicht, wenn ich mich zu dir setze?“

„Oliver! Setz dich.“ Carl Johnson erzählte ausführlich, was er den ganzen Tag über getan hatte, wobei er sich maßlos über Gleichaltrige ausließ, die ihm auf die Nerven gingen. „Immer nur Krankheiten, wohin man auch hört. Ich ertrage das nur schwer. Wie war dein Tag?“

Sam brachte das Essen und das Porter, von dem Barnes einen kräftigen Schluck nahm. Dann berichtete er ausführlich von den Etatverhandlungen.

„Und das, obwohl wir die Sache mit den Reliquienfiguren aufgespürt haben,“ fügte er kopfschüttelnd hinzu.

„Reliquienfiguren? Ich habe nie davon gehört. Ich höre.“ Carl Johnson war sein ganzes Leben lang neugierig gewesen. Er war erstaunt, dass er trotz seines sehr hohen Alters immer noch Neues erfuhr.

„Wir haben herausgefunden, dass aus dem süddeutschen Raum Heiligenfiguren ins Ausland geschickt werden. Ich kenne mich damit nicht aus, Kunst ist nicht mein Ding. Soweit ich weiß, sind diese Stücke nicht wertvoll, sondern reine Volkskunst. Wir konnten durch einen sehr aufmerksamen Mitarbeiter herausfinden, dass es sich bei dem Geschäft wohl um den Handel mit Reliquienfiguren handelt. Das sind Holzfiguren, die innen hohl sind und mit Andenken an Verstorbene gefüllt werden. Nichts Wertvolles. Haare, Stoffe und sonstiges Zeugs. Wir haben die Deutschen informiert. Wenn du mich fragst, ist das eine beachtenswerte Entdeckung gewesen…“ Carl Johnson hörte nicht mehr zu. Sein Neffe redete und redete, aber er dachte an etwas Anderes.

„Onkel Carl? Was ist mir dir? Geht es dir nicht gut? Trink einen Schluck Porter, du bist ja total blass um die Nase.“

„Hohlkörper in Holzfiguren? Das gibt es tatsächlich?“

„Ja. Das war im süddeutschen Raum und im heutigen Österreich im 18. und 19. Jahrhundert nicht unüblich. Wie gesagt, wurden Erinnerungen an Verstorbene aufbewahrt, man nennt sie Reliquienfiguren. Ich habe auch vorher nie davon gehört. - Du gefällst mir nicht, Onkel Carl. Was ist los mit dir?“

„Wir fahren,“ sagte Carl, stand auf und nahm seinen Stock.

„Wohin?“

„Zu mir nach Hause. Ich muss dir etwas zeigen.“

„Ich habe noch nicht aufgegessen. Mein Porter ist noch halbvoll und meine Zigarre hatte ich auch noch nicht.“

„Komm endlich!“

Nur widerwillig folgte Barnes seinem Onkel. Er mochte den kauzigen Kerl und bewunderte ihn, aber er war auch anstrengend und sehr dominant. Carl war bis zu seiner Pensionierung ein hohes Tier beim Militär gewesen und genoss auch heute immer noch einen sehr guten Ruf. Nur wegen seines Onkels war Barnes zum Militär und später zum Geheimdienst gegangen.

Carl Johnson bewohnte ein kleines Haus mit einem winzigen Garten am Rande Londons. Er hielt nicht viel von einem pompösen Lebensstil, das war in seinen Augen pure Verschwendung. Wie viel Quadratmeter konnte ein einzelner Mensch bewohnen? Das Wohnzimmer war kalt und da Barnes fror, behielt er den Mantel an. Onkel Carl schien die Kälte nicht zu spüren. Er zog aus dem riesigen Bücherregal mehrere Fotoalben hervor.

„Erwartest du, dass ich mit dir in Erinnerungen schwelge?“

„Halt den Mund. Wenn du siehst, was ich suche, wirst du verstehen,“ brummte Onkel Carl. Er blätterte hektisch in den dicken Alben. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte.

„Diese Aufnahmen wurden zum Kriegsende 1945 in Bayern aufgenommen. Ich war Captain Monroe unterstellt, wir waren mit einem Spezialauftrag betraut worden, zu dem ich mich mit dem Kameraden Sam Briggs freiwillig gemeldet hatte. Im Frühjahr 1945 wurden Meldungen aufgeschnappt, wonach die Deutschen eine Bombe entwickelten, die riesigen Schaden anrichten konnte. Der Name Sebastian Demmelhuber kam ins Spiel, diesen Namen werde ich nie vergessen. Wir bekamen die Aufgabe, ihn und die Pläne, sowie das Serum, zu eliminieren. In Mühldorf am Inn wurde ein Werk für die Produktion der Messerschmitt Me262 gebaut, ein Flugzeugtyp, der mit der neuen Bombe bestückt werden sollte. Zum Glück kam es nicht mehr dazu. Der Krieg war vorbei, bevor der Plan umgesetzt werden konnte.“

Barnes konnte seinem Onkel kaum folgen.

„Ein Serum?“

„Ja. Die Bombe sollte damit bestückt werden. Genaueres wussten wir nicht, das gaben die Meldungen nicht her. Captain Monroe ging davon aus, dass es sich um Krankheitskeime handelte.“

„Du bist ja verrückt! Wäre man damals wirklich so weit gegangen?“

„Diese Art der Kriegsführung ist kein Novum und das weißt du auch. Damals war die Art und Weise allerdings völlig neu. Mit einer derartigen Bombe hätte man abertausende von Menschen infizieren können. Churchill hatte riesige Angst davor. Und nicht nur er, wir alle hatten Angst. Mit der V1, V2 und A4 hatten die Deutschen bewiesen, was sie technisch draufhatten. So sehr ich die Deutschen auch verabscheue muss ich zugeben, dass sie sehr schlau sind. Und skrupellos. Wir und alle anderen Staaten hinkten damals weit hinterher. Wir mussten diesen Demmelhuber aufhalten. Er hatte die Pläne und das Serum bei sich. Er war bis Peenemünde gekommen. Natürlich wurde Peenemünde massivst bombardiert, aber Demmelhuber entkam. In Mühldorf am Inn konnten wir ihn aufspüren.“

„Gott sei Dank! Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn das Serum und die Pläne in falsche Hände gelangt wären.“

„Wir konnten Demmelhuber eliminieren, haben aber keine Reste des Serums und der Pläne bei ihm gefunden. Er muss es im Wald irgendwo versteckt haben. Wir haben alles umgegraben, haben aber nichts gefunden.“

„Reste? Ich verstehe nicht…“

„Demmelhuber sah fürchterlich aus. Er muss sich mit dem Serum infiziert haben. Monroe hatte schnell reagiert und die Leiche mit Benzin übergossen. Ich habe den Deutschen nicht nur erschossen, sondern die Leiche in Brand gesetzt. - Sieh mich nicht so an! Damals war Krieg und wir befanden uns in einer Ausnahmesituation. Zum Glück hatte Captain Monroe schnell reagiert. Wir hätten uns alle anstecken können. Wer weiß, ob wir das überlebt hätten. Ich war in Panik und habe spontan gehandelt. Ich bin auch heute noch der Meinung, dass es richtig war, die Leiche zu verbrennen.“

„DU hast die Leiche verbrannt?“

„Ich warf meine Zigarette auf die Leiche. Was hätte ich anders tun sollen? Wir wussten nicht um die Wirkung des Serums, geschweige denn um die Ansteckungsgefahr. Wir mussten unsere Leben und das vieler anderer schützen.“

„Ich fasse zusammen: Du hast diesen Demmelhuber erschossen, Monroe hat die Leiche mit Benzin übergossen und du warfst deine Zigarette darauf, woraufhin die Leiche verbrannte. Da ihr von dem Serum und den Plänen keine Reste gefunden habt, gehst du davon aus, dass beides versteckt wurde?“

„Endlich kannst du mir folgen, das wurde auch langsam Zeit. Spezialisten haben Demmelhubers Leiche akribisch untersucht. Wenn er das Serum bei sich gehabt hätte, wären Glassplitter oder irgendetwas Vergleichbares gefunden worden. Aber da war nichts. Wir haben das Gebiet mehrere Wochen abgesperrt und alles wieder und wieder durchsucht. Es wurde nichts gefunden.“

Oliver Barnes verstand immer noch nicht ganz. Onkel Carl verdrehte die Augen und zeigte ihm die Fotos des Albums.

„Hier habe ich Demmelhuber erschossen. Sieh dir die Fotos genau an.“ Carl gab ihm ein Vergrößerungsglas.

Akribisch sah sich Barnes ein Foto nach dem anderen an. Dann erschrak er.

„Was ist das? Ein Schrein? Ist das eine Heiligenfigur?“

„Die Süddeutschen nennen es Marterl. Wir wussten nicht, dass diese Figuren hohl sein können.“

„Du meinst, Demmelhuber könnte das Serum und die Pläne darin versteckt haben?“

„Wenn ja, dann könnte beides immer noch dort sein.“

„Und wenn nicht, dann ist es in den Händen der Diebe.“

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