Die Jagd nach dem Serum

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Aus der Reihe: Leo Schwartz #19
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„Das geht nicht,“ sagte Onkel Gerhard sofort. „Wenn ihr euch nicht regelmäßig meldet, fällt das auf. Das dürfen wir nicht riskieren.“

„Wie du meinst,“ maulte Torsten, der darauf zwar keine Lust hatte, aber seinem Onkel Recht gab. Die Geschäfte liefen gut, nichts durfte sie gefährden.

Die Kurowskis packten ihre wenigen Habseligkeiten und brachen auf.

Ihre Drogenlieferanten waren informiert. Sie vereinbarten eine wöchentliche Übergabe, die am Münchener Hauptbahnhof stattfinden sollte. Gerhard erklärte sich bereit, auch das zu übernehmen.

„Dir wird ein Schließfachschlüssel zugesteckt. Du brauchst die Ware nur zu holen,“ erklärte Dominik. „Die Bezahlung läuft weiter wie immer.“ Je weniger Kontakt zwischen den einzelnen Personen stattfanden, desto besser.

Gerhard hatte in Oberbayern für ihre Beutestücke unter falschem Namen eine alte Scheune gepachtet, die außerhalb Neuöttings lag und von wo aus man einen perfekten Blick auf die Umgebung hatte. Niemand würde in der heruntergekommenen Scheune ihr Geschäft vermuten. Sie mieteten sich ebenfalls unter falschem Namen in einer heruntergekommenen Pension in Mühldorf am Inn ein, wo man sie in Ruhe ließ und keine Fragen stellte. Die Wirtin wollte nicht einmal Ausweise sehen, als sie sich ins Gästebuch eintrugen. Ob das an den hundert Euro lag, die Gerhard ihr gab?

Kevin und Torsten klauten alles, was sie in die Finger bekamen, wobei ihnen die meisten Stücke sehr hässlich vorkamen. Hier in der Gegend kamen sie noch viel einfacher an Heiligenfiguren und hatten noch leichteres Spiel.

Alles klappte über viele Monate perfekt, fast zu perfekt. Die Polizei hatte den vermehrten Drogenhandel mitbekommen, aber nichts wies auf die Kurowskis hin. Natürlich mehrten sich die Diebstahl-Meldungen von Heiligenfiguren, aber die Polizei hatte nicht den kleinsten Hinweis auf die Diebe. Es wurde zwar mehrfach ein heller Lieferwagen erwähnt, aber mehr nicht. Von diesen Lieferwagen gab es tausende. Wie sollten sie da den Richtigen finden?

Vor drei Monaten wurde Gerhard Kurowski von einem Mann am Münchner Hauptbahnhof angesprochen, der ihm schon geraume Zeit gefolgt war. Er hatte den Schließfachschlüssel bereits in den Händen, wagte aber nicht, die Ware zu holen. Wer war der Mann? Gerhard setzte sich weit abseits auf eine Bank am Ende eines Gleises, auf dem in der nächsten Stunde kein Zug erwartet wurde. Dann kam der Mann in Begleitung eines Weiteren auf ihn zu und er setzte sich neben ihn. Der andere stand nur wenige Meter entfernt.

„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Achmed Arsai. Bitte sind Sie nachsichtig mit mir, was mein Deutsch anbelangt. Ich bin gebürtiger Iraner und lebe erst seit wenigen Jahren in Deutschland,“ sagte der Mann freundlich. Gerhard spürte sofort, dass das nicht stimmen konnte, denn der Akzent und der Name passten nicht zusammen. Er war auf der Hut und gespannt darauf, was Arsai von ihm wollte.

„Ich habe gehört, dass Sie alte Schnitzkunst mit interessantem Innenleben verkaufen?“

„Wenn es so wäre?“

„Ich bin an sehr alten Stücken interessiert. Sagt Ihnen der Begriff Reliquienkreuze etwas?“ Gerhard schüttelte den Kopf. Er war kein religiöser Mensch. Er konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, wann er das letzte Mal in der Kirche gewesen war.

„Man hatte früher Reliquienkreuze gefertigt, um darin Andenken an Heilige aufzubewahren. Die Verehrung Heiliger ging so weit, dass man sogar winzig kleine Fragmente von Dingen aufbewahrte, die von Gegenständen des Heiligen berührt wurden, die wiederum auch nur berührt wurden.“

Gerhard sah auf die Uhr. Das, was Arsai von sich gab, interessierte ihn nicht die Bohne. Was gingen ihn Verehrungskulte von längst verstorbenen Heiligen an?

„Verstehen Sie mich nicht falsch Herr Arsai, aber wir verschwenden Zeit. Ich handele nicht mit Kreuzen, und schon gar nicht mit Reliquienkreuzen.“

„Bitte schenken Sie mir noch fünf Minuten Ihrer Zeit,“ sagte Arsai freundlich und Gerhard willigte ein. Warum nicht? Fünf Minuten waren schnell vorbei.

„Diese Reliquienkreuze waren eigentlich zur Erinnerung an Heilige gedacht. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde in dieser Form an Familienmitglieder, verdiente Bürger oder normale Geistliche gedacht. Zur Verdeutlichung zeige ich Ihnen ein solches Kreuz.“ Arsai zog ein Bündel aus seiner Tasche und wickelte ein Holzkreuz heraus. „Sehen Sie Herr Kurowski, das ist ein Reliquienkreuz.“ Arsai öffnete auf der Rückseite des Kreuzes ein Fach. „Das sind Haare des Verstorbenen, ein Stück Stoff vielleicht von seiner Kleidung, und das Stück Papier wurde vermutlich vom Verstorbenen beschrieben.“ Arsai behandelte das Kreuz wie einen Schatz.

„Warum sehen Sie nicht einfach nach?“, sagte Gerhard.

„Nein, das geht nicht. Diese Reliquien liegen seit ungefähr 1840 genau so in dem Fach und das soll so bleiben.“ Arsai war erschrocken über die rohe Art des Mannes, der offensichtlich nichts für antike Kunst und Brauchtum übrighatte. Normalerweise mochte er solche Menschen nicht.

„Sehr schön,“ sagte Gerhard und sah erneut auf die Uhr. Die fünf Minuten waren gleich um.

„Es gab damals nicht nur Reliquienkreuze, sondern auch Holzfiguren, die für denselben Zweck verwendet wurden. Ich suche nach solchen Holzfiguren.“

Jetzt verstand Gerhard Kurowski.

„Ich glaube, ich weiß, wovon Sie sprechen. Ich habe solche Figuren schon gesehen. Was wollen Sie damit machen?“

„Ich bin Sammler und habe viele Freunde, die ebenfalls Sammler sind. Wir zahlen sehr gut. Sind Sie an einer Zusammenarbeit interessiert?“

„Wenn ich Geld verdienen kann, bin ich immer dabei.“

„Dann schlage ich vor, wir fahren zu mir und dort besprechen wir alles Weitere. Hier ist nicht der richtige Ort dafür. Wenn Sie erlauben, fahren wir mit meinem Wagen?“

„Von mir aus.“

Die Ware lag sicher im Schließfach, die konnte er auch später noch holen. Gerhard folgte Arsai und seinem Begleiter. Er war beeindruckt, als er vor der imposanten Limousine stand, deren Scheiben dermaßen getönt waren, dass man nicht hineinsehen konnte. Der Begleiter, der bis jetzt kein einziges Wort von sich gab, setzte sich hinters Steuer und fuhr die Trennscheibe nach oben. Gerhard und Arsai saßen im Fond des Wagens.

Nach einer Stunde waren sie endlich angekommen. Arsai hatte Gerhard so geschickt abgelenkt, dass der nicht mehr wusste, wo sie eigentlich waren.

Der Wagen fuhr in eine Tiefgarage und von dort ging es mit dem Aufzug in die sechste Etage, wobei der Fahrer sie wieder begleitete. Gerhard Kurowski war beeindruckt von der pompösen Ausstattung der Wohnung, die einen gigantischen Blick über München erlaubte. Allerdings konnte man von hier aus nicht erkennen, wo sie sich befanden. Der Fahrer stand in der Ecke. Er hatte bis dato kein einziges Wort gesagt. Was sollte der Mist? Das alles nur wegen der Figuren? Er glaubte Arsai nicht.

„Bitte setzen Sie sich. Kaffee?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, schenkte der Fahrer Kaffee aus der Thermoskanne ein, die zusammen mit einem riesigen Teller süßer Leckereien auf dem Tisch stand. Gerhard langte kräftig zu, lehnte sich zurück und wartete auf Arsais Erklärung.

„Ich kenne den wahren Hintergrund ihrer Kunstgeschäfte,“ sagte Arsai. „Ihre Neffen stehlen die Stücke, die sie dann präparieren und weiterveräußern. Ich muss Ihnen für die verschlüsselten Bilder und Angebotsecken im Internet meinen Respekt aussprechen, Sie verstehen Ihr Handwerk. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ihre Geschäfte sind mir völlig gleichgültig. Leben und leben lassen, das war schon immer mein Motto. Was mich interessiert: Wie werden die Stücke versandt?“

Gerhard war überrascht, wie gut Arsai informiert war. Sollte er ihm die Wahrheit sagen? Der Mann schien stinkreich zu sein und der stumme Typ in der Ecke war sehr furchteinflößend. Arsai gab sich bisher sehr freundlich, fast unterwürfig. Mit dieser Art kam man sicher nicht zu Geld. Er musste höllisch aufpassen und entschied sich für die Wahrheit.

„Die Figuren werden ganz normal per Post von verschiedenen Städten aus versendet. Dafür fahre ich gerne mehrere Stunden. Die Pakete werden mit einem geringen Wert angegeben und ich achte darauf, dass die Verpackung nicht perfekt aussieht. Die Absenderadressen sind erfunden. Die Paketaufkleber lasse ich nach einer Ausrede von alten Menschen beschriften. Ich schiebe eine Handverletzung oder einfach nur eine vergessene Brille vor. Ich habe sogar einige Postangestellte überreden können, die Paketaufkleber zu beschriften. Da die Absender alle erfunden sind, kennzeichne ich die Pakete mit einem kleinen, unscheinbaren Aufkleber. So weiß der Empfänger Bescheid, was in dem Paket drin ist. Wir sind noch nie aufgefallen und wurden auch nie kontrolliert,“ sagte Gerhard stolz. „Alle Pakete kamen immer ohne Probleme an.“

„Sehr clever. Kommen wir nun zum Geschäftlichen. Wenn Sie eine Figur mit Reliquien finden, werden Sie mir die verkaufen. Wie gesagt, zahle ich einen guten Preis. Ich schlage vor, dass Sie die dann in gewohnter Weise an die Adresse senden, die ich Ihnen gebe. Selbstverständlich werden auch diese Figuren von Ihrem Neffen mit Blei versehen. Sind Sie damit einverstanden?“

„Warum das Blei? Ich denke, Sie wollen die Reliquien in den Figuren belassen?“

Arsai antwortete nicht, er lächelte nur. Er hatte nicht die Absicht, Kurowski dahingehend zu informieren.

„Gut. Nehmen wir an, dass ich akzeptiere. So wie ich das verstehe, soll ich das ganze Risiko tragen? Ich besorge die Figuren und muss sie auch noch präparieren und versenden? Warum machen Sie das nicht selbst?“

„Weil ich Sie sehr gut dafür bezahle. Sind wir uns einig?“

„Bevor ich zustimme, möchte ich wissen, welche Sauerei Sie vorhaben. Ich glaube ihnen nicht, dass Sie Sammler von solchen Figuren sind. Was wollen Sie darin schmuggeln?“

 

„Ich versichere Ihnen, dass ich Sammler bin. Diese Reliquienfiguren sind sehr wertvoll. Bitte belassen Sie den jeweiligen Inhalt unter allen Umständen in den Figuren. Es wäre eine Katastrophe, wenn Sie da drangehen. Ich persönlich nehme die Reliquien heraus, sodass die Figuren mit Blei ausgekleidet werden können. Danach werde ich sie mit den wertvollsten Reliquien wieder befüllen. Sie haben damit keine Arbeit. Erst dann werden die Figuren von Ihnen verschickt. Die Adressen bekommen Sie zusammen mit der befüllten Reliquie.“

„Gut, wie Sie wollen. Die erste Hälfte des Geldes bekomme ich, wenn Sie die Reliquien herausgenommen haben. Die andere Hälfte ist fällig, wenn sie mir die Figur für den Versandweg übergeben.“

„Einverstanden.“

Arsai sah aus dem Fenster, wie der Wagen mit Kurowski davonfuhr. Der Mann hatte die Wahrheit gesagt, als er vom Versand sprach. Hätte er das nicht gemacht, hätte er ihn töten müssen. Niemand wagte es ungestraft, ihn anzulügen.

Kurowski war perfekt. Er besorgte ihm nicht nur die Reliquienfiguren, sondern übernahm auch noch den Transport. Einen perfekteren Geschäftspartner hätte er nicht finden können.

Arsai lehnte sich zurück und trank einen Kaffee. Dann kam sein treuer Freund Iwan zurück.

„Hast du Kurowski am Bahnhof abgeliefert?“

„Ja.“

„Hat er versucht, mit dir zu sprechen?“

„Ja. Aber ich bin nicht darauf eingegangen. Ich mag den Typen nicht. Warum diese Figuren?“

„Überleg doch, Iwan. Die Figuren sind perfekt. Du weißt, dass ich Reliquienfiguren liebe. Auf diese Weise kann ich mir die schönsten Stücke sichern. Die anderen kann ich ohne Risiko an meine Kunden ausliefern. Ich trage nicht das kleinste Risiko.“

„Wie du meinst. Trotzdem mag ich Kurowski nicht.“

„Ich auch nicht. Aber das spielt keine Rolle, mein Freund.“

Gerhard holte die Ware aus dem Schließfach, stieg in seinen Wagen und dachte darüber nach, was eben geschehen war. Ging es Arsai wirklich nur um Sammlerstücke? Er zweifelte daran. Der Mann hatte eine Sauerei vor und war nicht ehrlich zu ihm. Gut, er würde mit ihm ins Geschäft kommen. Sollte Arsai ihm eine Figur zum Versand übergeben, musste er sich diese genauer ansehen. Sollte er Kevin und Torsten davon erzählen? Nein. Die beiden waren dafür nicht clever genug. Sie hatten nicht einmal gemerkt, dass er sie mit der Bezahlung regelmäßig beschiss. Nein, die Zusammenarbeit mit Arsai lief nur zwischen ihnen beiden ab.

Der englische Geheimdienst verfolgte wie alle anderen Staaten auch die Handelstätigkeiten zwischen Deutschland und dem Ausland. Einem der englischen Kollegen waren die kleinen Aufkleber auf den Paketen aufgefallen, die immer an derselben Stelle angebracht wurden. Allerdings hatten die Absender und Adressaten nichts gemeinsam. Patrick Lynch sprach mit seinen Kollegen darüber, die sich jedoch nicht dafür interessierten.

„Das ist doch völlig verrückt, Patrick. Diese Pakete haben absolut nichts gemeinsam. Abgesehen von den völlig unterschiedlichen Absenderadressen gleichen sich die Handschriften nicht einmal annähernd. Das sind alte Leute, die ihren Verwandten Geschenke schicken, mehr nicht. Sieh dir schon allein die Verpackungen an. Die sind selbstgebastelt und stümperhaft gemacht. Niemand wird in solchen Paketen Wertvolles verschicken.“

„Seht ihr die kleinen Aufkleber nicht? Die sind identisch!“

„Vielleicht ist das nur eine Werbung der deutschen Post und hat mit den Absendern nichts zu tun. Das würde auch die Häufigkeit erklären.“ Auch andere Kollegen argumentierten ähnlich und winkten ab. Trotzdem blieb Lynch dabei und suchte gezielt nach diesen Aufklebern. Nach vier Wochen hatte er viele dieser Pakete sichten können, für seine Begriffe zu viele. Patricks Kollegen waren immer noch nicht überzeugt, deshalb ging er zu seinem Vorgesetzten Barnes.

„Sie haben eine sehr gute Beobachtungsgabe, Lynch. Auch deshalb wollte ich Sie in meinem Team haben,“ sagte Barnes begeistert. Ihm wäre diese Kleinigkeit der Aufkleber wahrscheinlich nie aufgefallen. „Konzentrieren wir uns auf diese Pakete. Melden Sie mir umgehend, wenn wieder eins aufgegeben wurde.“

„Sie wollen ein Paket abfangen?“

„Selbstverständlich. Überzeugen wir uns von dem Inhalt, dann wissen wir mehr.“

Von all dem hatte die Familie Kurowski keine Ahnung. Kevin und Torsten gingen weiter unbehelligt auf Diebestour, während Gerhard ein Paket aus dem bayerischen Cham nach Spanien verschickte, nachdem er eines aus Deggendorf und eines aus Straubing versandte. Auch heute hatte er ältere Damen gefunden, die ihm bereitwillig die Paketaufkleber beschriftet hatten, nachdem er ihnen seine vermeintlich lädierte Hand zeigte.

All das ahnte die Mühldorfer Kriminalpolizei nicht. Für sie ging es um einen umfangreichen Diebstahl von Volkskunst, mehr nicht. Täglich landeten immer mehr Anzeigen auf dem Tisch der Beamten, die kaum hinterherkamen. Die Befragungen der Geschädigten waren immer dieselben: Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Ab und zu wurde ein heller Lieferwagen erwähnt, zu dem es aber keine näheren Angaben gab. Die Diebe gingen dreist vor und nahmen tatsächlich alles mit, was ihnen vor die Augen kam.

4.

Die Mühldorfer Kriminalbeamten arbeiteten auf Hochtouren. Zwischen Asanger, Leo und Hans war ein regelrechter Konkurrenzkampf entbrannt. Jeder war bemüht, als erster Ergebnisse zu liefern, was nicht einfach war, denn jeder Ermittlungsansatz endete in einer Sackgasse. Werner und Stumpf hatten für diese Art Arbeit nichts übrig und hielten sich heraus.

Krohmer war enttäuscht, als auch nach Wochen noch keine Ergebnisse präsentiert wurden. Er drängelte und wies seine Leute an, den Fall so schnell wie möglich zu lösen. Vor allem, nachdem auch Staatsanwalt Eberwein Opfer eines Diebstahls wurde. Eberwein und seine Familie hatten erst vor wenigen Jahren einen alten Bauernhof erworben und ihn mühsam und aufwändig restauriert. Auf dem Grundstück befand sich eine kleine Kapelle, die ebenfalls wieder in neuem Glanz erstrahlte. Eberwein war auf die Kapelle besonders stolz und reagierte sehr ungehalten, als sie rüde aufgebrochen wurde.

„Am helllichten Tag wurden drei alte Statuen entwendet,“ schrie er Krohmer an. „Können Sie sich vorstellen, wie sehr sich meine Frau jetzt fürchtet?“

„Handelt es sich um wertvolle Figuren?“

„Meines Wissens nach stellen sie keinen großen Wert dar. Das ist es ja, was mich besonders ärgert. Wer hat Interesse daran? Es ist Maria mit dem Kinde, Petrus und die Heilige Barbara.“

„Haben Sie Fotos von den Figuren?“

„Ja. Ich maile sie Ihnen zu. Ich bitte Sie, diese Ganoven endlich dingfest zu machen.“

Als Krohmer die Fotos der Figuren bekam, mailte er sie sofort an einen Kunstsachverständigen weiter, der sich bereiterklärt hatte, der Polizei zu helfen.

„Das ist normale Volkskunst,“ lautete die Expertise. „Die Barbara stellt einen Wert von circa 100 € dar, die beiden anderen jeweils die Hälfte.“

Krohmer war erstaunt. Das wären gerade mal 200 €.

„Wie alt sind die Figuren?“

„Schwer zu sagen, schließlich habe ich nur Fotos, auf die ich meine Einschätzung abgeben kann. Alle drei sind mindestens 100 Jahre alt, die Barbara dürfte die älteste sein.“

„So alt? Und dann dieser geringe Schätzwert?“

„Leider ja. Die Figuren sind in einem erbärmlichen Zustand. Sehen Sie sie genauer an, dann werden sie feststellen, dass nicht nur Stellen abgeschlagen sind. Es fehlen Finger, die Maria hat sogar nur eine Hand. Die Figuren wurden nicht pfleglich behandelt und stellen trotz ihres hohen Alters keinen größeren Wert dar.“

Bei genauerer Betrachtung sah Krohmer, was der Mann meinte. Ja, die Figuren sahen wirklich schlecht aus. Aber warum wurden sie dann gestohlen?

Mit dieser Information eröffnete Krohmer die tägliche Besprechung. Alle wussten bereits, dass der Staatsanwalt bestohlen wurde.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich der Handel mit diesen Figuren lohnen kann,“ sagte Krohmer. „Die Figuren von Eberwein sind lediglich 200 € wert. Für wieviel kann man die verhökern? Höchstens für die Hälfte.“

„Es sei denn, sie werden ins Ausland verkauft. Sammler zahlen für die Stücke weit mehr, als sie wert sind. Es wird seit Jahren immer mehr Mode, solch alte Schnitzkunst zu besitzen,“ sagte Stumpf. „Amerikaner, Japaner und Chinesen würden vielleicht sehr viel Geld für diese Holzfiguren ausgeben.“

„Das glaube ich nie und nimmer,“ sagte Leo. „Die sind doch auch nicht blind und haben ihrerseits Gutachter, die den eigentlichen Wert richtig beziffern. Ich glaube nicht, dass es nur um die Figuren geht.“

Es folgte eine heftige Diskussion, die darin endete, dass niemand an den Handel mit den Figuren glaubte. Es musste um mehr gehen.

„Gehen wir davon aus, dass dem so ist. Wie gelangen die Figuren zu den Kunden?“

„Persönlicher Kontakt wäre eine Möglichkeit,“ sagte Stumpf.

„Oder die Figuren werden wie auch immer verschickt. Wir sind alle Möglichkeiten durchgegangen und haben beinahe jeden Einzelnen überprüft, der Waren ins Ausland verkauft.“

„Und? Haben Sie irgendjemand im Visier?“

„Nein.“

„Wenn wir den Vertriebsweg haben, kommen wir so vielleicht auf die Bande. Die werden doch nicht so dumm sein, und die Stücke per Post schicken?“, sagte Krohmer, der die Frage nicht ernst gemeint hatte.

„Warum eigentlich nicht?“, sagte Leo.

„Per Post? Vergiss es!“, lachte Asanger. „Du glaubst wirklich, dass die vielen Figuren einfach so per Post versandt werden? Wie naiv bist du eigentlich?“

„Leck mich…“ sagte Leo verächtlich.

„Ich darf doch sehr bitten,“ unterbrach Krohmer. „Suchen Sie nach dem Vertriebsweg und finden Sie die Diebe, damit das endlich ein Ende hat. Ich könnte wetten, dass morgen die Zeitungen mit Berichten voll sind.“

Krohmer sollte Recht behalten. Am nächsten Tag war nicht nur ein größerer Bericht im Regionalteil der Tageszeitung, sondern sogar im Bayernteil. Krohmer stöhnte auf. Das war sicher auf Eberweins Mist gewachsen. Warum konnte der Mann nicht einfach seinen Mund halten? Sobald eine Kamera oder ein Mikrofon in seiner Nähe war, zog ihn das förmlich an. Jetzt lag es auf der Hand, dass besorgte Bürger den ganzen Tag über anriefen.

Auch die Familie Kurowski war sauer über die viel zu großen Zeitungsartikel.

„Jetzt wird es nicht mehr ganz so leicht werden, die Figuren zu klauen,“ sagte Gerhard zu seinen Neffen. „Ihr müsst höllisch aufpassen. Vielleicht ist es an der Zeit, die Gegend zu wechseln.“

„Mach dir nicht ins Hemd, Onkel Gerhard, uns erwischt schon keiner. Bis die Besitzer Wind von dem Diebstahl bekommen, sind wir längst über alle Berge. Wir haben eine heiße Spur und sind hier noch lange nicht fertig. Die Gegend ist eine Goldgrube. Gestern war unser Glückstag. Wir haben viele schöne Stücke gefunden. Die musst du dir unbedingt ansehen.“

„Das mach ich. Sobald ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, fahren wir los.“

Gerhard Kurowski sah die Menge an Figuren, die achtlos übereinandergeworfen wurden.

„Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr mit den Stücken pfleglicher umgehen sollt?“, sagte er wütend.

„Ist doch eh altes Zeug. Eine Macke mehr oder weniger macht doch nichts aus,“ sagte Kevin. Er und sein Bruder sahen gelangweilt zu, wie ihr Onkel ein Stück nach dem anderen begutachtete. Gerhard ließ sich extra viel Zeit damit, denn seine Neffen waren nicht mit großer Geduld gesegnet.

„Wir ziehen schon mal los, du brauchst uns nicht. Sperr die Scheune zu, wenn du gehst,“ sagte Torsten. Kevin sprang auf und war sofort dabei. Hier herumzusitzen war viel zu langweilig für ihn. Er brauchte Action und frische Luft.

Darauf hatte Gerhard gewartet. Zwei der Figuren waren Reliquienfiguren. Als seine Neffen weg waren, rief er Arsai an.

„Ich habe gefunden, wonach Sie suchen.“

„Wie viele?“

„Zwei.“

„Sehr gut. Wo treffen wir uns?“

„Ich komme zu Ihnen.“

„Nein. Ich fahre zu Ihnen. Kennen Sie das Wasserschloss in Töging?“

„Das finde ich.“

„Um 13.00 Uhr bin ich dort.“

Gerhard Kurowski packte die beiden Figuren in seinen Wagen. Woher wusste Arsai, dass er sich hier in der Gegend aufhielt? Arsai war ihm unheimlich. Wenn er mit ihm weiter zusammenarbeiten wollte, musste er ein ernstes Wort mit ihm sprechen. Gerhard warf noch einen Blick auf den Stapel Heiligenfiguren. Das durfte nicht mehr geschehen, dass seine Neffen mit den Figuren so umgingen. In Zukunft würde er abends hier auf sie warten und darauf achten, dass damit vorsichtiger umgegangen wurde. Dabei könnte er die Figuren auch sofort inspizieren.

 

Gerhard wartete am Wasserschloss Töging auf seinen Geschäftspartner. Was er wohl für die beiden Figuren bezahlte? Sie hatten nicht über einen Betrag gesprochen. Endlich fuhr ein unscheinbarer Kombi auf ihn zu. Arsai und sein Fahrer stiegen aus. Wo war diese Protzkarre vom letzten Mal?

„Guten Tag, Herr Kurowski. Haben Sie die Ware dabei?“

„Selbstverständlich.“ Gerhard öffnete die Klappe seines Kombis, der sehr viel älter und schmutziger war als der seines Geschäftspartners.

Arsai nahm eine Figur nach der anderen vorsichtig in die Hände und drehte sie in alle Richtungen.

„Sehr schöne Figuren, ich bin zufrieden. Wie vereinbart, ist das die Hälfte des Geldes,“ sagte Arsai. Er nickte Iwan zu, der Gerhard einen dicken Umschlag übergab. „Gebrauchte, kleine Scheine. Ich hoffe, das ist Ihnen recht so?“

„Sicher.“ Gerhard zählte sofort nach, was Arsai missfiel. Dieser Kurowski war ein Prolet, wie er im Buche stand.

„Passt,“ sagte Gerhard hocherfreut. Er hatte die beiden Holzfiguren auf vielleicht jeweils 100 € geschätzt. Im Umschlag waren 400 €. Das würde bedeuten, dass der Typ dieselbe Summe nochmals bezahlte. Gerhard lächelte. Das war weit mehr, als er erwartet hatte. Arsai war wirklich sehr versessen auf diese Reliquienfiguren.

„Bitte warten Sie einen Moment,“ sagte Arsai höflich und ging mit seinem Fahrer zum Wagen. Gerhard konnte nicht sehen, was die beiden dort machten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich ein Mann wie Arsai für solch stümperhafte und in seinen Augen wertlose Kunst interessierte. Er und sein dubioser Freund hatten ganz sicher eine Sauerei damit vor.

Schweren Herzens nahm Arsai das Innenleben der beiden Figuren heraus, die aus Haaren, Stoffen und Papierfetzen bestand. Wie gerne hätte er vor allem bei dieser Figur alles so belassen, wie es war. Aber es ging nicht anders, er musste das tun. Dann ging er wieder zu Kurowski.

„Wenn beide Figuren mit Blei versehen wurden, sehen wir uns wieder. Ich werde die Reliquien wieder in die Figur geben und Ihnen dann die Adressen mitteilen. Wann denken Sie, dass die Figuren fertig sind?“

Gerhard glaubte Arsai kein Wort, ging aber darauf ein.

„Morgen früh.“

„Treffen wir uns um 9.00 Uhr wieder hier?“

„Wenn Sie wollen, gerne. Vergessen Sie die Restzahlung nicht.“

„Ich halte immer mein Wort.“

Gerhard sah den beiden Männern hinterher. Dass Arsai mit den Figuren eine Sauerei vorhatte, lag auf der Hand. Eine Bleiverkleidung nur für dieses wertlose, uralte Innenleben? Nie und nimmer! Aber was hatte er tatsächlich vor? Morgen konnte er sich persönlich davon überzeugen.

Pünktlich um neun Uhr des nächsten Tages trafen sich die Männer erneut. Kevin hatte noch am späten Abend ganze Arbeit geleistet und fünf Figuren mit Blei ausgekleidet, zwei davon gehörten Arsai.

Nach einer kurzen Begrüßung übergab Gerhard beide Figuren an Arsai, der daraufhin mit Iwan zum Wagen ging. Dort gaben sie das, was sie gestern aus den Figuren genommen hatten, wieder hinein. Das, was zu viel war, ließen sie beiseite.

„Eine Schande ist das,“ fluchte Arsai. Was hatte er für eine Wahl? Er musste diesen Proleten ruhigstellen, damit er die geplante Ware ohne lästige Rückfragen riskieren konnte. Auf den Fußsockel klebte Iwan ein schmales Siegel.

„Mach das Siegel fest. Kurowski soll es nicht leicht ablösen können.“ Arsai wusste, dass sich dieser Trottel vom Inhalt überzeugen würde. Er an seiner Stelle würde es auch so machen. Iwan nickte nur. Die beiden Männer gingen wieder zu Kurowski, der ungeduldig wartete.

„Vielen Dank für Ihre Geduld. Die größere Figur geht an diese Adresse, und die kleinere an diese. Ich hoffe, Sie können meine Schrift lesen.“

„Kein Problem. Die Pakete gehen ins Ausland?“

„Nach Großbritannien und Amerika. Ich hoffe, das ist kein Problem?“

Gerhard war erschrocken. Bisher gingen die Pakete nur ins benachbarte Ausland. Großbritannien und Amerika waren ziemlich große Brocken. Er hatte keine Erfahrung damit, inwieweit die Pakete durchleuchtet und geprüft wurden. Ihm war jedoch bekannt, dass gerade diese beiden Länder sehr genau kontrollierten. Sollte er vielleicht doch ablehnen? Warum sollte er? Das Risiko war gering, was sollte schon passieren. Wenn alles schieflief, würde der Zoll die Pakete konfiszieren, mehr nicht. Auf ihn und seine Neffen käme man nie im Leben. Schließlich entschied er sich für das Geld und nickte.

„Nein, das ist kein Problem. Sie können sich auf mich verlassen. Bitten Sie darum, dass die Empfänger den Eingang des Paketes melden. Nur so können wir sicher sein, dass alles glattlief.“

„Das werde ich tun. Vielen Dank, Herr Kurowski. Hier ist die vereinbarte Restzahlung.“

Wieder sah Gerhard sofort in den Umschlag. Darin waren fünfhundert Euro.

„Das sind hundert Euro zu viel.“

„Das weiß ich. Sie kennen mich noch nicht, Herr Kurowski. Wenn ich mit einer Arbeit zufrieden bin, kann ich sehr großzügig sein. Die Bleiverkleidung war perfekt, ich habe sehr viele Reliquien unterbringen können. Ich darf mich bei Ihnen verabschieden. Es ist eine Freude, mit Ihnen Geschäfte zu machen.“ Arsai verzichtete auf irgendwelche Anweisungen oder Mahnungen. Wenn Kurowski die Figuren öffnen sollte, würde er es spätestens dann erfahren, wenn er mit den Empfängern der beiden Pakete Kontakt aufnahm.

Die beiden waren weg. Endlich. Seine Neugier war riesig, aber noch musste er sich zurückhalten. Er traute Arsai nicht, der Mann hatte ihm sicher eine Falle gestellt. Er musste vorsichtig vorgehen, um seinen neuen Geschäftspartner nicht zu verärgern. Gerhard fuhr zu seiner Pension. Nachdem er die Tür verschlossen und Handschuhe übergezogen hatte, machte er sich daran, das Siegel an einer Stelle zu entfernen. Er musste vorsichtig vorgehen und durfte keine Spuren hinterlassen. Mit einem scharfen Messer löste er Stück für Stück ab, was winzig kleine Kratzer hinterließ, was Gerhard nicht für schlimm erachtete. Man brauchte eine Lupe, um die Kratzer zu bemerken. Das Siegel hatte er endlich abbekommen. Er drehte den Fußsockel ab und zog das Innere heraus. Das waren tatsächlich nur wertlose Reliquien, sonst nichts. Auch in der zweiten Figur. Arsai hatte also die Wahrheit gesagt. Er an dessen Stelle hätte viel Wertvolleres darin verstaut. Aber gut – das war nicht sein Problem. Er verschloss die Figuren, brachte die Siegel mit Flüssigkleber wieder an und verpackte beide Figuren sorgfältig. Dann machte er sich auf den Weg, beides zu versenden.

Was machte er mit den Zollinhaltserklärungen für Arsais Pakete? Im kleinen Frühstücksraum der Pension saß noch ein Gast bei einer Tasse Kaffee. Gerhard setzte sich zu ihm und die beiden kamen ins Gespräch. Er merkte gleich, dass der Mann sehr leichtgläubig und unsicher war.

„Ich habe zwei Zollinhaltserklärungen, die ich für zwei Freunde ausfüllen müsste. Leider habe ich gestern meine Brille verloren. Hoffentlich finde ich jemand, der mir behilflich damit ist.“

„Geben Sie her, das mache ich gerne.“

Gerhard brauchte dem Mann nur zu diktieren.

Für die Auslandspakete wählte er die Post in Pfarrkirchen und Simbach am Inn, bei beiden Postämtern war er noch nicht gewesen. Die drei anderen verschickte er aus Hebertsfelden, Eggenfelden und Massing. Auch hier fand er ältere Menschen, die ihm bereitwillig beim Ausfüllen der Paketaufkleber behilflich waren.

Patrick Lynch wurden diese Informationen sofort zugespielt. Er reagierte sofort, als er die kleinen Aufkleber auf beiden Auslandspaketen erkannte. Umgehend lief er zu Barnes.