Die Jagd nach dem Serum

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Aus der Reihe: Leo Schwartz #19
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Captain Monroe war wütend. Genau die Seite, die wichtig war, wurde herausgerissen. Auch das Serum hatten sie nicht gefunden. An dem Befehl und den Anweisungen zum Bau der Bombe war er nicht interessiert. Sein Interesse galt einzig und allein der Anleitung und dem Serum, von dem er nicht wusste, welche Auswirkungen es hatte. Aufgrund des Lederetuis und der Tücher vermutete er, dass Demmelhuber beides immer noch bei sich trug. Dieser hinterlistige Teufel hatte sie getäuscht. Der verdammte Deutsche war sehr gerissen und hatte sich einen zeitlichen Vorsprung verschafft, den sie so schnell wie möglich aufholen mussten. Noch vermutete er die Pläne und das Serum bei Demmelhuber. Er würde nicht so dumm sein, beides im Wald zu verstecken. Es würde ein Leichtes werden, beides zu finden.

Endlich hatten sie ihn aufgespürt und näherten sich ihm. Seine Kräfte schwanden.

Mehrmals versuchte Monroe, ihn zum Aufgeben zu bewegen und kramte alle deutschen Worte aus seinem Gedächtnis, die ihm einfielen. Aber Demmelhuber reagierte nicht.

Sebastian Demmelhuber konnte nicht mehr. Er blieb völlig entkräftet stehen und drehte sich zu den Verfolgern um. Wie konnte er die Engländer davon abhalten, ihn nicht einfach abzuknallen? Es war Krieg und niemand würde sich für seinen Tod interessieren. Er griff in die linke Jackentasche, wo er das Foto seiner kleinen Tochter immer aufbewahrte. Er wollte es hochhalten und damit die Engländer besänftigen.

Während Monroe das Foto als solches erkannte, verstand Johnson die Geste falsch. Er vermutete, dass der Deutsche nach seiner Waffe griff, zog seine Waffe und schoss auf Demmelhuber. Der brach tot zusammen.

Erst jetzt erkannten die Engländer Demmelhubers Zustand und waren schockiert. Der Mann sah furchterregend aus, das Gesicht war eine einzige Fratze. Alle hielten sich sofort Tücher vors Gesicht.

„Keiner fasst die Leiche an. Zurück!“, befahl er. „Sofort!“

Monroe geriet in Panik. Demmelhuber musste sich infiziert haben. Monroe musste schnell handeln, vielleicht war es für ihn und seine Kameraden noch nicht zu spät. Er holte den Benzinkanister vom Wagen und begoss die Leiche damit. Monroe suchte in seiner Jacke nach einem Feuerzeug. Das dauerte Johnson zu lange. Er warf seine eben angezündete Zigarette auf die Leiche, die sofort in Flammen aufging. Die Gerüchte um das Serum waren also wahr. Aber um was ging es genau? Hatten sie sich bei ihm angesteckt? Sofort nach ihrer Rückkehr mussten sie sich untersuchen lassen, aber das musste warten. Hatte Demmelhuber die Pläne und das Serum bei sich? Wenn ja, wäre jetzt beides vernichtet. Konnten sie sich darauf verlassen?

Mehrmals gingen sie den Weg ab, den Demmelhuber gegangen war. Hier war nichts.

„Verlieren wir keine Zeit, Männer. Ich rufe Verstärkung. Sollen die sich alles nochmals vornehmen und jeden einzelnen Stein umdrehen.“ Monroe war besorgt. Er hatte nicht nur Angst um seine Gesundheit, sondern war auch für die seiner Kameraden verantwortlich. Als die Verstärkung in Schutzanzügen eintraf, machten sich er und seine Männer auf den Weg zum Arzt, der sie lange untersuchte. Alle waren im Moment in blendender Verfassung, niemand hatte sich augenscheinlich angesteckt. Der Arzt bestand darauf, dass Monroe und seine Männer in Quarantäne blieben, bis wirklich ausgeschlossen werden konnte, dass sie erkrankt waren.

Mehrere Tage durchkämmten die Engländer mit Unterstützung der Amerikaner das ganze Gebiet um den Toten. Weder das Serum, noch die Pläne dafür konnten gefunden werden. Alle trösteten sich damit, dass alles in Flammen aufging. War das so? Keiner konnte sich wirklich sicher sein.

2.

Über 70 Jahre später…

Die Mühldorfer Kriminalbeamten diskutierten über die Anweisung von Rudolf Krohmer, dem Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf am Inn. Da kein aktueller Fall vorlag, sollten alte Fälle überarbeitet werden.

„Sie kommen immer wieder mit demselben Mist daher,“ maulte Hans Hiebler. Der 55-Jährige hasste stupide Büroarbeit und hatte keine Lust darauf, staubige Akten zu wälzen, während sich draußen noch die letzten warmen Tage des ansonsten so traurigen Sommers ankündigten. Die Aussicht darauf, die wenigen sonnigen Tage im Büro zu verbringen, demotivierten ihn.

„Hans hat Recht,“ sagte Leo Schwartz. Auch der 51-jährige gebürtige Schwabe hatte keine Lust auf die Arbeit.

„Ich darf doch sehr bitten!“, sagte Krohmer ernst, wobei er einen verächtlichen Blick auf Leos T-Shirt warf. Über die Abbildungen von Rockbands hatte er sich längst gewöhnt, aber diese Freiheitskämpfer in den letzten Wochen, deren Konterfei von knallbunten Symbolen unterstrichen wurden, kränkten seine Augen.

„Ich habe gehört, dass die Kollegen einen interessanten Fall bearbeiten,“ sagte Werner Grössert, der nichts gegen Aktenarbeit einzuwenden hatte. Allerdings interessierte ihn das, was er vorhin auf dem Flur aufgeschnappt hatte, sehr viel mehr. „Es geht um Diebstahl und Schmuggel von Heiligenfiguren, die vermehrt in unserer Gegend auftreten. Wir sollten die Kollegen unterstützen,“ sagte der 40-Jährige voller Überzeugung. Wie immer trug Werner Grössert einen modischen Anzug mit Hemd, Weste und Krawatte und hob sich rein optisch sehr von Leo und Hans ab, die hauptsächlich in bequemer Freizeitkleidung zum Dienst erschienen. Warum auch nicht?

„Um was geht es dabei?“, wandte sich Leo an seinen Vorgesetzten.

„Es stimmt, was Herr Grössert sagte. Eine Diebesbande hat sich offenbar darauf konzentriert, Heiligenfiguren zu klauen, wobei das Material nicht wichtig zu sein scheint. Die Diebstähle betreffen nicht nur unsere Gegend, die Bande agiert im gesamten süddeutschen Raum. Ich habe mit meinen Kollegen gesprochen, die sich seit Monaten damit herumschlagen müssen.“

„Sind die Figuren so wertvoll, dass sich ein Diebstahl lohnt?“

„Nein, eben nicht. Das ist es, was den Fall so kompliziert macht. Es scheint auch völlig gleichgültig zu sein, wer dargestellt wurde. Ich hoffe, dass dieser Unsinn so schnell wie möglich aufhört. Es wird nicht mehr lange dauern und die Presse wird hellhörig. Können Sie sich vorstellen, was dann los ist?“, stöhnte Krohmer.

„Gerade deshalb sollten wir die Kollegen unterstützen,“ wiederholte Werner. Leo und Hans stimmten zu. Dieser Fall war sehr viel verlockender als trockene Aktenarbeit.

„Meinetwegen,“ brummte Krohmer.

„Wer bearbeitet den Fall?“

„Asanger und Stumpf.“

Leo stöhnte auf. Ausgerechnet Asanger! Mit ihm war er mehrfach aneinandergeraten, die beiden waren zu unterschiedlich. Tobias Asanger war 42 Jahre alt und wollte auf der Karriereleiter bis ganz nach oben kommen. Das war nicht verwerflich, wenn er dabei nicht so plump und hinterfotzig vorgehen würde. Er verkaufte Ideen und Erfolge anderer als seine eigenen. Dabei überging er Kollegen, die auch deshalb nicht scharf darauf waren, mit ihm zusammenzuarbeiten. Joachim Stumpf war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Der 48-Jährige war immer höflich und hielt sich gerne zurück. Er war nicht fürs Rampenlicht geschaffen. Außerdem hatte Stumpf eine Vorliebe für warme Leberkäs-Semmeln, von denen sich der Junggeselle fast ausschließlich ernährte. Immer und überall musste man zur Nahrungsaufnahme anhalten. Metzgereien liebten Joachim Stumpf, aber Kollegen konnten irgendwann den Geruch von warmen Leberkäs-Semmeln nicht mehr ertragen. Asanger reagierte gereizt auf die Marotte seines Kollegen, was diesen aber nicht störte. Was blieb den beiden anderes übrig, als sich zusammenzuraufen? Niemand wollte mit ihnen zusammenarbeiten. Also lag es auf der Hand, dass sie irgendwie miteinander auskommen mussten.

Krohmer bat Asanger und Stumpf ins Besprechungszimmer. Auch jetzt hatte Stumpf eine Leberkäs-Semmel in der Hand. Deren Geruch griff schnell um sich und füllte den Raum. Nach wenigen Minuten knurrte Leos Magen. Er hatte heute verschlafen und noch nichts gegessen.

„Wie weit sind die Ermittlungen im Fall der Heiligenfiguren?“

„Bisher gibt es nicht viel,“ sagte Asanger und öffnete die dünne Akte. „Insgesamt wurden in den letzten vier Monaten in unserem Zuständigkeitsbereich 68 Figuren gestohlen.“

„68 Stück?“, rief Leo. „So viele? Alle aus Kirchen?“

„Natürlich nicht. Auch aus kleineren Kapellen, von Marterln und sogar aus Privathaushalten wurden diese Figuren gestohlen. Bevor die Bande bei uns zuschlug, agierte sie in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.“

„Wie viele geklaute Figuren werden den Dieben bisher insgesamt zugerechnet?“

„527 im süddeutschen Raum. Und das sind nur die, die der Polizei gemeldet wurden. Wir gehen von einer sehr viel höheren Stückzahl aus. Vermutungen nach liegt die Zahl bei über siebenhundert Stück.“

„Es steht außer Frage, dass es sich um dieselben Täter handelt?“

„Ja. Die Diebe treiben ein Spielchen mit den Opfern und der Polizei. An jedem Ort, wo eine Figur geklaut wurde, hinterlassen sie ein Guatl, wobei der Geschmack variiert.“

„Ein was?“ Leo verstand kein Wort.

„Lernen Sie endlich bayerisch Herr Schwartz! Ein Guatl ist ein Bonbon. Hier sind einige Fotos.“

Tatsächlich sah man darauf verschiedene Bonbons.

„Konnten Sie die Spur der Bonbons verfolgen?“

„Keine Chance. Das ist Massenware und kann überall gekauft werden.“

„Was geschieht mit dem Diebesgut?“, wollte Werner wissen.

„Wir vermuten, dass sie verhökert werden. Was sollen die Diebe sonst damit machen? Verheizen? Einschmelzen?“ Asanger wollte einen Witz machen, aber er war der Einzige, der lachte.

„Amerikaner sind ganz scharf auf solche Volkskunst,“ sagte Werner unbeeindruckt. „Wir sollten den amerikanischen Markt im Auge behalten. Was ist mit dem Zoll? Paketdiensten? Internet?“

 

„Wir sind nur zu zweit. Wie sollen wir das alles bewerkstelligen?“

„Dann bekommen Sie jetzt Unterstützung von drei Kollegen. An die Arbeit. Sehen Sie zu, dass Sie den Fall so schnell wie möglich lösen.“

3.

Die Brüder Kevin und Torsten Kurowski waren ein eingespieltes Team. Die 30- und 32-jährigen Kleinganoven klauten seit geraumer Zeit alles Heiligenfiguren, die ihnen in die Finger kamen. Torsten hatte im Frühjahr letzten Jahres in seiner Stammkneipe ein Gespräch mit angehört, das ihn aufhorchen ließ. Die Männer am Nebentisch unterhielten sich über Reliquienkreuze, ein Wort, das er bis dato noch nie gehört hatte. Als er verstand, dass es sich dabei um Kreuze handelte, in denen Andenken an Verstorbene aufbewahrt wurden, wurde er euphorisch. Die Idee war genial! Allerdings dachte er nicht an Kreuze, sondern an Figuren. Er zog los und klaute einige dieser für ihn wertlosen Figuren, die fast an jeder Ecke standen. Einige waren hohl, wenige beinhalteten irgendwelchen Kram. Bei anderen war es eine Kleinigkeit, darin einen Hohlkörper zu schaffen. Dazu brauchte es nur jemanden, der handwerkliches Geschick besaß.

Torstens Freund Dominik war ein Genie auf dem Gebiet der Chemie. Im Keller seiner Eltern stellte er Crystal Meth her, das Torsten weiterverkaufte, da Dominik im Verkauf eine Niete war. Das Geschäft lief gut und Torsten konnte sich mit den Einnahmen gut über Wasser halten und sich ab und zu etwas gönnen. Aber Dominik nervte in den letzten Wochen mit seinen ständigen Bitten wegen dem Verkauf zu Kunden, die weit entfernt wohnten, einige davon sogar im Ausland. Von beidem ließ Torsten bisher die Finger und verkaufte nur in einem kleinen Radius um seinen Wohnort. Wie stellte sich Dominik das vor? Torsten hatte kein Auto, somit war er auf Lieferdienste angewiesen. Sollte er die Drogen einfach per Post verschicken? Das würde rasch auffliegen. Und dann noch Lieferungen ins Ausland. Wie sollte das funktionieren? Die Kontrollen an Grenzen waren durch die Flüchtlingsströme verschärft worden, persönlich würde er die heiße Ware nicht schmuggeln wollen. Aber wie sonst würde er die Ware ohne Schwierigkeiten ins Ausland bringen können? Heiligenfiguren waren eine Möglichkeit, die für den Schmuggel geradezu ideal wären. Er spann den Gedanken weiter. Er wusste, dass einige Pakete durchleuchtet wurden. Könnte man das irgendwie umgehen? Torsten konnte in der Nacht kaum schlafen, denn wenn das funktionierte, war er ein gemachter Mann. Er selbst war kein Handwerker, aber sein Bruder Kevin. Der war nicht der Hellste, aber handwerklich sehr geschickt, darin machte ihm so schnell niemand etwas vor. Sollte er den einfachen Charakter wirklich ins Vertrauen ziehen? Warum nicht?

Am nächsten Tag unterbreitete Torsten seinem Bruder die Idee. Der hörte ruhig zu, was sonst nicht seine Art war.

„Ich glaube, dass das funktionieren könnte. Man müsste die Figuren auskleiden. Besorg mir ein paar Heiligenfiguren. Gib mir Geld, ich muss Material besorgen.“

„Was hast du vor?“

„Das erkläre ich später.“ Torsten gab seinem Bruder Geld. Wie immer war Kevin pleite. „Morgen Abend treffen wir uns wieder. Dann werden wir sehen.“

Torsten brauchte nur zuzulangen. Heiligenfiguren standen in Süddeutschland in jedem Haushalt und beinahe an jeder Ecke, er brauchte sich nur bedienen.

Kevin wartete ungeduldig auf seinen Bruder. Als er Torstens Figuren entgegennahm, machte er sich sofort an die Arbeit. Einige Figuren waren nicht hohl, das war aber kein größeres Problem. Mit einem Fräser hatte er Aussparungen geschaffen, die er nun alle mit Blei verkleidete.

„Blei?“

„Das Material ist ideal. Es hat einen niedrigen Schmelzpunkt, ist leicht verformbar und hält jeder Kontrolle stand. Außerdem ist es so dicht, dass kein Geruch durchdringt. Drogenspürhunde haben da keine Chance.“ Kevin grinste stolz. Er wusste, was sein Bruder über ihn dachte: Er war für ihn nicht clever genug. Damit hatte er nicht gerechnet, das konnte er ihm vom Gesicht ablesen.

„Ich bin wirklich beeindruckt. Woher hast du das Blei?“

„Ich habe meine Kontakte,“ grinste Kevin, der vorsorglich einen Schutzanzug trug. Blei war giftig und er war nicht scharf darauf, zu erkranken oder draufzugehen.

„Woher hast du es?“, wiederholte Torsten.

„Ich werde dir meine Quelle nicht nennen, ich habe mein Wort gegeben. Was willst du eigentlich von mir?“

„Ich möchte nicht, dass wir wegen einer Unachtsamkeit auffliegen.“

„Das werden wir nicht. Denkst du, ich habe meinen Namen und meine Adresse angegeben? Ich bin doch nicht blöd.“ Kevin arbeitete sauber und ordentlich, Torsten war auch diesbezüglich beeindruckt. Wann hatte er seinen Bruder zuletzt so arbeiten sehen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Vier Figuren waren fertig ausgekleidet. „Hast du den Stoff dabei?“

„Klar.“ Torsten gab ihm das Tütchen mit Crystal Meth, von dem beide nichts nahmen. Sie hatten noch nie Drogen genommen, das hatten sie ihrer Mutter kurz vor ihrem Tod versprochen. Und daran hielten sie sich.

„Das geht problemlos rein. Hast du mehr?“

Drei weitere Tütchen verschwanden im Inneren der Figur. Torsten nahm die Figur und schüttete den Inhalt auf eine Waage.

„Da geht ordentlich was rein, das lohnt sich,“ freute er sich. Dasselbe machten sie auch mit den anderen Figuren. Unterschiedliche Mengen verschwanden im Inneren, wobei keine gering war. „Perfekt, das funktioniert! Jetzt müssen wir nur noch testen, ob das einer Durchleuchtung standhält.“

Der Onkel der beiden, Gerhard Kurowski, betrat den Keller.

„Was macht ihr da?“

Die Jungs erschraken. Onkel Gerhard war der einzige ihrer Verwandten, der immer zu ihnen hielt. Sie hatten Hochachtung vor dem Bruder ihrer verstorbenen Mutter, der es zu etwas gebracht hatte. Er kannte sich sehr gut mit Computern aus und arbeitete als IT-Spezialist. Kevin und Torsten waren sicher, dass ihr Onkel sehr gut verdiente, da er stets die neuesten Autos fuhr und immer Geld zu haben schien. Es kam nicht selten vor, dass er seiner Schwester Geld zusteckte. Nach deren Tod sah er immer wieder nach seinen Neffen und half auch ihnen finanziell aus.

Jetzt stand Onkel Gerhard vor ihnen und sah sie an. Wie sollten sie die Situation erklären? Sie zögerten. Dann entschieden sie, ihm die Wahrheit zu sagen. Gerhard war zunächst angewidert, aber dann schien er von der Idee begeistert.

„Du dealst mit diesem Teufelszeug? Wie lange schon?“

„Spielt das eine Rolle? Ich nehme nichts davon, auch Kevin nicht. Ich verdiene viel Kohle damit. Und mit dieser Idee könnten wir sehr viel mehr machen. Allerdings wissen wir nicht, ob das funktioniert.“

„Dann lasst es uns ausprobieren.“

„Du bist dabei?“

„Wir werden sehen. Vorher möchte ich testen, ob das Ganze funktioniert. Lasst etwas von dem Crystal Meth in der Figur.“

„Was hast du vor?“

„Ich möchte wissen, ob beim Durchleuchten des Paketes tatsächlich nichts gesehen wird und ob wirklich kein Geruch durchdringt. Denkt ihr, ich möchte im Gefängnis landen?“

„Das ist zu gefährlich, Onkel Gerhard. Wenn du auffliegst, haben dich die Bullen am Arsch.“

„Das lass mal meine Sorge sein.“

Gerhard Kurowski hatte Blut geleckt. Nachdem er nach vielen Jahren seinen gutbezahlten Job als IT-Spezialist quasi von heute auf morgen verloren hatte, brauchte er Geld. Sehr viel mehr, als ihm das Arbeitsamt zahlte. Das hier war eine Möglichkeit, sein Einkommen aufzubessern. Allerdings musste das ohne Risiko ablaufen. Er nahm eine der Figuren mit nach Hause und legte sie in ein Paket. Es war klar, dass er nicht den richtigen Absender angab. Nichts durfte auf ihn oder seine Neffen hindeuten. Dann gab er die Adresse eines Hotels in Prag an, zu Händen Herrn Müller. Sofort nach Aufgabe des Paketes fuhr er in dieses Hotel und wartete. Das Paket wurde am nächsten Tag ohne Probleme ausgeliefert. Das reichte Gerhard Kurowski noch nicht. Er fuhr mit dem Paket zum Zoll in Furth im Wald, das als Nächstes auf seinem Weg lag. Seine Geschichte musste plausibel klingen.

„Ich habe das Paket für einen Kollegen angenommen, der dies allerdings nicht wie vereinbart abgeholt hat. Da ich nicht weiß, was darin ist und ich mit dem Zoll oder der Polizei keine Schwierigkeiten bekommen möchte, bin ich hier. Ich habe das Paket im guten Glauben angenommen, ohne zu wissen, was es beinhaltet. Und dabei habe ich meinen guten Namen hergegeben. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, denn ich möchte in keine dunklen Machenschaften hineingezogen werden. Ich möchte das Paket nicht öffnen, schließlich gibt es ein Postgeheimnis. Verstehen Sie, in welchem Dilemma ich stecke?“

„Ja, ich verstehe Sie. Man sollte sich zweimal überlegen, für wen man Post annimmt. Was wollen Sie jetzt von mir?“

„Würden Sie das Paket für mich öffnen?“

„Ohne triftigen Grund darf ich das nicht. Auch für uns gilt das Postgeheimnis,“ sagte die Frau. Gerhard wusste das.

„Haben Sie die Möglichkeit, das Paket zu durchleuchten? Ich möchte lediglich sichergehen, dass ich nichts Verbotenes unterstützt habe.“

Die Frau zögerte. Für sie gab es keine Veranlassung, das Paket zu durchleuchten. Allerdings verstand sie auch die Bedenken des Mannes. Wenn doch nur alle so ehrlich wären! Sie sah sich um. Außer ihr war im Moment niemand hier.

„Geben Sie her,“ sagte sie und verschwand.

Die nun folgenden wenigen Minuten kamen Gerhard Kurowski wie eine Ewigkeit vor. Was würde jetzt passieren? Dann erschien die Frau wieder.

„So wie ich das sehe, ist eine geschnitzte Figur darin, die einen Stahlkörper oder ähnliches hat. Würde das Paket jetzt normal über unser Zollamt laufen, könnte es sein, dass wir uns den Inhalt genauer ansehen. Nichts an diesem Paket würde mich persönlich dazu veranlassen, dass ich es mir genauer anschaue.“

Die Frau sagte KÖNNTE, was bedeutet, dass nicht jedes Paket kontrolliert wurde.

„Mein Kollege sammelt alte Figuren, das ist richtig. Und wenn diese jetzt einen besonders hohen Wert hat?“

„Normalerweise nicht. Es gibt für Auslandslieferungen eine Freimenge, die mit diesen Figuren erfahrungsgemäß nicht überschritten wird. Denken Sie sich nichts dabei und bewahren Sie das Paket solange auf, bis sich Ihr Kollege bei Ihnen meldet.“

„Was passiert mit einem Paket, das im Inland versandt wird? Ich frage nur so aus Neugier.“

„Da gehen solche Pakete normalerweise ohne Prüfung durch. Auch innerhalb der EU wird nur stichpunktartig durchleuchtet. Sagen Sie das nicht weiter. Wir möchten den Schmuggel bei Paketen nicht fördern.“ Die Frau lachte und Gerhard stimmte in das Lachen ein. Die beiden plauderten noch über Belangloses, bis ein Mann den Raum betrat. Gerhard bedankte sich überschwänglich und verließ zufrieden das Zollamt.

Es war interessant zu wissen, dass Pakete, die innerhalb Deutschlands verschickt wurden, nicht geprüft werden. Es war zwar möglich, dass Pakete innerhalb der EU geprüft wurden, aber das schien nicht die Norm zu sein. Pakete, die außerhalb der EU verschickt wurden, waren ein Risiko. So, wie er die Frau verstanden hatte, nahm man sich nur verdächtige Pakete genauer vor. Das konnte man problemlos umgehen. Wenn man stümperhaft zusammengeschusterte Verpackungen verwendete und die Paketaufkleber mit der Handschrift eines alten Menschen beschriftet wurden, musste der Versand problemlos durchgehen. Das bekam er hin, das dürfte keine große Sache sein.

Stimmte Kevins Aussage, dass der Drogengeruch nicht durchdrang? Er konnte selbst nichts riechen, aber das bedeutete nichts. Auch der Frau am Zollamt war nichts dergleichen aufgefallen. Es juckte ihn in den Fingern, das auszuprobieren. Er erinnerte sich daran, dass es auf dem Besucherpark am Münchner Flughafen Drogenspürhunde gab. Ob die gerade jetzt dort waren? Er fuhr los und war in knapp zwei Stunden dort. Er kam gerade recht, als einer der Polizisten in Begleitung eines Hundes auf dem Gelände einen Vortrag hielt. Das Paket hatte er in der Tasche. Er atmete tief durch und ging auf die Gruppe zu. Was der Polizist zu sagen hatte, interessierte ihn nicht. Gerhard behielt immer nur den Hund im Auge. Der Vortrag war vorbei und er ging absichtlich dicht an dem Hund vorbei. Dieser sah für einen kurzen Moment in seine Richtung. Das war alles. Kevin hatte Recht gehabt. Der Drogengeruch drang tatsächlich nicht durch. Zufrieden fuhr er zu seinen Neffen, um ihnen die frohe Botschaft zu überbringen.

 

Die beiden Brüder warteten seit vorgestern unter Hochspannung auf ihren Onkel. Sie machten sich Sorgen.

„Denkst du, er ist aufgeflogen?“

„Nein, Onkel Gerhard ist clever. Wenn wir ihn mit an Bord haben, könnten wir ein Vermögen machen. Stell dir mal vor, wieviel wir verticken könnten? Dominik wird begeistert sein.“

Torsten hatte vorsorglich einige Figuren geklaut. Anfangs zog er allein los, bis sich Kevin anschloss. Rasch hatten sie eine beachtliche Menge Figuren, die sich nun alle im Keller befanden. Beide malten sich aus, welche Summen damit zu machen waren, wenn sie jede Einzelne mit Crystal Meth befüllen könnten. Torsten hatte die Hofeinfahrt ihres alten Hauses stets im Auge und wippte nervös mit dem rechten Bein, während Kevin kleine Tiere schnitzte.

Endlich fuhr Gerhards Wagen auf den Hof des alten, renovierungsbedürftigen Hauses, das die Brüder Kurowski von ihrer Mutter geerbt hatten. Ja, sie hätten das Haus renovieren können, aber sie waren viel zu faul dafür. Beiden war klar, dass sie in dem kleinen Kaff Sipplingen am Bodensee sowieso nicht bleiben würden.

„Was ist? Hat es funktioniert?“

„Und wie. Ich bin dabei. Von mir aus kann es losgehen. Die Frage ist, wo wir die Heiligenfiguren herbekommen?“

„Das ist das kleinste Problem,“ sagte Torsten, der euphorisch war. „Solche Figuren findest du doch an jeder Ecke. Wir können problemlos hunderte davon beschaffen. Sieh dir an, was wir in zwei Tagen geklaut haben.“ Torsten und Kevin präsentierten stolz ihre Ausbeute.

„Wir können auch andere Gegenstände verwenden; das mit dem Blei funktioniert überall.“

„Nein, wir sollten bei den Heiligen bleiben. Ich habe mich über die Figuren informiert. Viele davon sind schon hohl, das erspart uns viel Arbeit. Die Figuren, die leicht zu bearbeiten sind, werden wir ebenfalls verwenden. Alle anderen wandern in den Müll. Was denkt ihr?“

Kevin und Torsten stimmten zu.

„Was ist mit deiner Arbeit? Hast du überhaupt genug Zeit?“

Gerhard zögerte. Er hatte den beiden nichts von seiner Kündigung gesagt, das ging außer ihm niemandem etwas an.

„Das kriege ich hin. Hat dein Kontaktmann genug Crystal Meth für uns?“

„Wenn nicht, besorge ich andere Drogen, das ist das kleinste Problem,“ grinste Torsten, der genug Kontakte in der Szene hatte.

„Wie kommen wir an die Kunden?“

„Auch die bekomme ich von meinem Kontaktmann. Er hat allerdings nichts dagegen, wenn wir selbst Kunden finden.“

Gerhard dachte nach.

„Das kriege ich hin.“

„Wie willst du das anstellen? Du kannst nicht einfach eine Anzeige aufgeben. Die Bullen haben uns sofort am Arsch,“ sagte Kevin.

„Das muss man im Internet professionell aufziehen, lasst das mal meine Sorge sein.“

Die Kurowskis fühlten sich gut. Mit der Aussicht auf ein Rieseneinkommen blickten sie in eine verheißungsvolle Zukunft.

„Dann sind wir ab sofort Geschäftspartner. Ihr beiden kümmert euch um den Stoff und die Figuren, ich übernehme die Kundenakquise, die Verpackung und den Versand.“

Torsten und Kevin waren sofort einverstanden. Sie hatten beide nichts mit Schreibkram am Hut und wollten auch nichts damit zu tun haben. Sie kümmerten sich lieber um den Stoff und die Figuren.

Die drei feierten die ganze Nacht.

Dominik war begeistert, als Torsten ihm verkündete, groß ins Geschäft mit einzusteigen. Er gab ihm die Adresse eines Freundes, der Marihuana und Kokain vertrieb. Die Ware stand bereit. Jetzt galt es, die Figuren zu klauen, zu präparieren und diese zu verkaufen.

Gerhard machte sich umgehend an die Arbeit, eine entsprechende Internetseite zu erstellen. Er informierte sich darüber, welche Decknamen im Netz für die entsprechenden Drogen verwendet wurden und übernahm sie. Er musste die Internetseite so sicher machen, dass ihm die Polizei nicht auf die Spur kam, dafür brauchte er drei Tage. Er hatte es geschafft, sich in die Datenbank der Polizei zu haken. Dadurch konnte er sich über Kunden informieren und sich dadurch absichern. Erst nach eingehender Prüfung kam ein Deal zustande. Die Seite wurde gut angenommen und das Geschäft lief an. Dominik war glücklich über diesen Vertriebsweg und produzierte auf Hochtouren. Seine Eltern hatten es längst aufgegeben, sich um das zu kümmern, was ihr Sohn im Keller machte. Der Junge war in ihren Augen ein Genie und sie ließen ihn gewähren. Sie vertrauten ihm und dachten, dass er gut aufgehoben war, während sie ihren Jobs nachgingen.

Schon bei der zweiten geklauten Figur kam Kevin auf die Idee, an die Stelle ein Bonbon zu legen. Dies hatte er in einem Hollywood-Streifen aufgeschnappt und fand die Idee genial. Torsten konnte dem nichts abgewinnen, hatte aber nichts dagegen. Warum sollte er? Niemand würde von den Bonbons auf sie kommen, denn beide trugen bei der Arbeit Handschuhe und beide mochten keinen Süßkram. Er gönnte Kevin die Freude.

Die Figuren zu klauen war ein Kinderspiel. Keine Heiligenfigur war vor ihnen sicher. Wer dargestellt war, war ihnen gleichgültig. Sie waren beide Atheisten und hatten somit keine Skrupel, die Figuren zu klauen. Für sie war das Ware, die indirekt bares Geld brachte. Mehr nicht.

Der Versand der Pakete war sehr einfach. Jedes Paket wurde mit einem kleinen, gelben, fast unauffälligen Aufkleber versehen, die er in großen Mengen in einem Schreibwarengeschäft kaufte. Auf dem Aufkleber war eine kleine Eule abgebildet, wofür sich Gerhard aber nicht interessierte. Ihm ging es nur darum, das Paket zu kennzeichnen und es für die Kunden zu markieren. Gerhard wischte die Figuren sorgfältig ab und bastelte Pakete. Nichts sollte nach einem professionellen Versand aussehen. Auch nicht der Adressaufkleber. Die jeweiligen Absender waren gefälscht, das war das kleinste Problem und Gerhard ließ seiner Kreativität freien Lauf. Er beschrieb die Paketaufkleber nie selbst, daran hielt er sich eisern. Er bat Fremde, vorwiegend alte Menschen, ihm behilflich zu sein. Ausreden gab es hierfür genug. Entweder hatte er sich verletzt, was er überzeugend mit einer eingebundenen Hand demonstrierte. Oder er gab vor, seine Brille vergessen zu haben. Er diktierte Absender und Empfänger. Alte Menschen waren ja so gutgläubig! Damit er nicht auffiel, benutzte er immer andere Poststellen, wozu er oft weit fahren musste. Aber das machte ihm nichts aus, das war es wert. Immer wieder kam es vor, dass Pakete ins Ausland versandt wurden, was jedes Mal sehr viel Aufregung unter den Kurowskis verursachte. Aber alles lief ohne Probleme ab.

Das Geschäft lief über viele Monate gut, sogar sehr gut. Dass die Polizei auf die vielen Diebstähle aufmerksam wurde und die Zeitungen bereits darüber berichteten, interessierte die Kurowskis nicht. Kevin und Torsten waren nicht nur sehr geschickt in ihren Beutezügen, sondern auch im Präparieren der Figuren. Selbst in den kleinsten Figuren fanden sie noch eine Möglichkeit, einen Hohlraum zu schaffen und darin Drogen zu verstauen. Der Ausschuss war gering.

„Ich sage es nicht gerne, aber wir müssen die Gegend wechseln,“ sagte Torsten. „Kevin und ich haben uns heute ausführlich darüber unterhalten. Ich schlage vor, wir fahren nach Bayern. Dort gibt es noch sehr viel mehr Heiligenfiguren als hier.“

„Gute Idee, ich bin dabei.“

„Kannst du das mit deinem Job vereinbaren?“ Torsten war überrascht, dass sein Onkel sofort einwilligte. Er und Kevin hatten mit großem Widerstand und Protest gerechnet. Wenn sie die Gegend wechselten, konnte Onkel Gerhard nicht mehr zur Arbeit fahren.

„Schon vergessen? Ich arbeite hauptsächlich am Computer, und das kann ich überall tun. Macht euch darüber keine Sorgen, für mich ist das kein Problem. Was ist mit euch? Müsst ihr euch nicht regelmäßig beim Arbeitsamt melden?“

„Ich habe keine Lust mehr auf diese Termine. Außerdem haben wir das finanziell nicht mehr nötig“, maulte Kevin, der regelmäßig Probleme mit seinem Sachbearbeiter bekam. Entweder kam er zu spät, hatte nicht alle Unterlagen dabei oder diskutierte mit ihm über die Arbeitsangebote, die Kevin grundsätzlich ablehnte. Nahm er doch ein Vorstellungsgespräch wahr, benahm er sich dort so daneben, dass sich Arbeitgeber beim Amt über Kevin beschwerten.