Blaue Diamanten

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Aus der Reihe: Leo Schwartz #17
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2.

Tamino Steinmaier war die andere Person, die Thalhammer ausgewählt hatte. Der 47-jährige, hagere Mann mit dem schütteren Haar arbeitete als Tontechniker am Staatstheater München. Er war nur einer unter vielen und hatte wegen seiner schüchternen, fast unterwürfigen Art keine Chance, sich gegen andere durchzusetzen. Er war einer derjenigen, die von niemandem beachtet wurden. Er erschrak, als er letzte Woche an seiner Bushaltestelle in Schwindegg angesprochen wurde, als er wie immer eine Zigarette rauchte, bevor er nach Hause ging. Tamino lebte mit seiner 74-jährigen Mutter in seinem Elternhaus und sie mochte es nicht, wenn er im Haus oder vor ihr rauchte. Er hasste seine Mutter für ihre autoritäre, gehässige Art. Aber was sollte er tun? Sie war nun mal seine Mutter und außer ihr hatte er niemanden anderen. Er und der Fremde waren allein an der Bushaltestelle. Der Wind war eisig kalt, trotzdem genoss Tamino jeden einzelnen Zug seiner Zigarette.

„Tamino Steinmaier?“ sagte der Fremde und Tamino erschrak. Wer war der Mann? Und woher kannte er seinen Namen?

„Ja?“

„Du liebst deine Mutter und möchtest nicht, dass ihr etwas zustößt?“

„Was zum Teufel…“

„Halt den Mund und hör mir gut zu.“ Daniel Thalhammer war sehr viel größer und stärker als der kleine, schmächtige Tamino. Thalhammer baute sich vor ihm auf und Tamino pinkelte sich vor Angst fast in die Hose. „Du wirst für mich einen kleinen Kurierdienst übernehmen. Du bekommst an der Bushaltestelle bei deiner Arbeitsstelle in München einen Umschlag überreicht, den du dann beim Umsteigen in Holzkirchen einer Frau übergibst. Das ist die Frau,“ er übergab ihm ein Foto von Jenny Löffler. „Präg dir das Gesicht gut ein. Erledigst du deine Aufgabe zu meiner vollsten Zufriedenheit, ist alles in Ordnung und du hast dir ein ordentliches Taschengeld verdient, womit du im Kolibri mehrere Abende verbringen kannst. Machst du Probleme, gehst zur Polizei oder sprichst mit jemandem darüber, kann ich nicht für die Gesundheit deiner Mutter garantieren. Hast du mich verstanden?“

Tamino hörte entsetzt zu und zitterte am ganzen Körper. Als der Fremde die letzte Drohung aussprach, verbrannte er sich die Finger an der Zigarette, ohne es zu bemerken.

„Hast du mich verstanden?“

„Ja.“

Der Fremde war verschwunden und Tamino stand allein an der Bushaltestelle. Er starrte auf das Gesicht auf dem Foto: Er hatte diese Frau noch nie gesehen. Er war im Begriff, sich eine weitere Zigarette anzuzünden, verzichtete aber darauf. Mutti! Sie war in Gefahr und das konnte er nicht zulassen, er fühlte sich für sie verantwortlich. Er rannte los und stürmte in das alte Haus im Ortskern von Schwindegg.

„Wage es ja nicht, mit deinen Schuhen ins Haus zu kommen!“ hörte er die vertraute Stimme seiner Mutter und beruhigte sich sofort. Wenn sie so keifen konnte, war sie wohlauf. Er zog die Schuhe aus und ging ins Wohnzimmer. Seine Mutter saß wie so oft vor dem Fernseher, in dem eine ihrer vielen Daily Soaps lief. „Du stinkst! Hast du schon wieder geraucht? Wie oft habe ich dir gesagt, dass ich das nicht mag?“ Sie schimpfte weiter und machte ihm einen Vorwurf nach dem anderen, ohne ihn dabei anzusehen. Dann gab es eine Werbepause und sie hatte jetzt Zeit, sich ihm zuzuwenden. „Wie siehst du denn aus? Man muss sich ja für dich schämen!“ Sie schimpfte weiter und weiter. Erst, als die Werbepause zu Ende war, wandte sie sich wieder dem Fernseher zu. Offensichtlich wurde es spannend. Sie vergaß ihre Schimpftirade und verstummte. Tamino hatte die ganze Zeit über nichts gesagt. Normalerweise regte er sich über seine Mutter und ihr Verhalten auf, aber heute nicht. Er lächelte, ging auf sie zu und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Was soll das?“ zischte sie und wischte sich demonstrativ mit dem Ärmel ihrer Jacke über die Wange. „Dein Essen steht in der Küche. Und jetzt lass mich allein, sonst verpasse ich meine Sendung.“

Tamino ging in die Küche und nahm den Teller aus dem Backofen. Wie immer hatte seine Mutter gekocht und das Essen auf Temperatur gehalten. Seine Mutter kochte für ihr Leben gern, die beiden Gefriertruhen im Keller waren immer randvoll. Eigentlich hatte er nach der Begegnung an der Bushaltestelle keinen Appetit, aber seine Mutter würde es nicht dulden, dass er das Essen nicht bis auf den letzten Krümel aufaß. Lustlos stocherte er darin herum. Was wollte der Mann von ihm? Er bekam in München einen Umschlag, den er an eine Fremde beim Umsteigen in Holzkirchen übergeben soll. An und für sich war das nichts Großes. Um was ging es dabei? Der Mann würde das Ganze nicht so kompliziert machen, wenn es nicht ungesetzlich wäre. Machte er sich nicht damit sogar strafbar? Aber was sollte er tun? Er musste das Leben seiner Mutter schützen, auch wenn sie heute wieder besonders ätzend war. Sie hatte sich wie so oft über den Verlauf ihrer Sendung aufgeregt und kam mit ihrem Gehstock zu ihm in die Küche. Die anfängliche Schimpftirade wurde hier fortgeführt und Tamino ließ sie über sich ergehen. Was sollte er auch sonst tun? Ihr zu widersprechen würde die Lage nur verschärfen. Seine Mutter hatte Schmerzen und war den ganzen Tag allein. War es da nicht auch verständlich, dass sie mit jemandem reden musste? Trotz seinem Verständnis und dem Vorkommnis bei der Bushaltestellte fiel es ihm heute besonders schwer, seine Mutter irgendwie zu mögen. Nach den üblichen Beschimpfungen und Vorwürfen schimpfte sie nun über seinen toten Vater, an dem sie nie ein gutes Haar ließ. Tamino zwang sich dazu, irgendwann nicht mehr zuzuhören. Er dachte an das, was der Mann vorhin zu ihm sagte. Sprach er nicht auch von einer Bezahlung, mit der er sich im Kolibri mehrere Tage vergnügen könnte? Die Bezahlung konnte nicht gering sein, die Sache würde sich auf jeden Fall finanziell lohnen. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger Bedenken hatte er. Was sollte schon passieren? Wenn er aufflog, würde er der Polizei die Wahrheit sagen. Sollten die ihm doch das Gegenteil beweisen! Die anfängliche Angst war verflogen und er fühlte sich auf seltsame Weise lebendig. Endlich passierte etwas Positives in seinem langweiligen, eintönigen Leben. Freute er sich etwa auf das, was ihn erwartete? Seine Mutter bemerkte die Veränderung im Gesicht ihres Sohnes, was sie nur noch wütender machte. Sie wurde lauter und die Vorwürfe wurden heftiger. Sie gab erst auf, als sie erschöpft war. Sie setzte sich wieder in ihren Sessel und nahm die Fernbedienung in die Hand. Pünktlich fing eine ihrer Sendungen an. Tamino war sprachlos. Wie machte sie das nur immer? Egal, wie schlecht sie drauf war und was sie ihm alles um die Ohren warf: Ihre Sendungen verpasste sie nie.

Tamino war endlich allein und spülte den Teller ab. Er war wie immer stolz auf sich, dass er geduldig war und sich beherrscht hatte, was ihm immer schwerer fiel. Wurde sein Nervenkostüm dünner oder wurde seine Mutter fieser?

Er ging in sein Zimmer. Er besah sich das Gesicht auf dem Foto eindringlich und kannte es rasch auswendig. Bereits am nächsten Tag hielt er auf der Heimfahrt Ausschau nach der Frau. Da stand sie! Auf der gegenüberliegenden Seite wartete sie auf die Linie 12. Stieg auch sie hier um oder stieg sie zu? Das hatte ihn nicht zu interessieren. Er beobachtete die Frau, die etwas abseits von den anderen stand. Die Frau war nicht sein Typ. Sehr in sich gekehrt und mausgrau, das mochte er an Frauen überhaupt nicht. Jeden dritten Monat gönnte er sich einen Bordell-Besuch im Kolibri im Herzen Münchens, wo er ein anderer Mann sein konnte. Mit seinem sauer verdienten Geld warf er an diesem Tag um sich. Es war für ihn immer noch erstaunlich, was man mit Geld alles kaufen und erreichen konnte. Seine Mutter wusste natürlich nichts davon, die würde ausflippen. Niemand wusste davon, das war sein kleines Geheimnis und das Highlight seines Lebens. Er sparte für diesen einen Abend jeden Cent und genoss bei seinen Bordellbesuchen jede Minute. Seiner Mutter erzählte er immer, dass er in die Oper ginge. Sie hasste die Oper und käme nie auf die Idee, ihn begleiten zu wollen. Sein Vater war ein riesiger Opernfan gewesen und hatte damals nach seiner Geburt darauf bestanden, ihn Tamino zu nennen, nach der Figur in der Zauberflöte. Das war das einzige Mal gewesen, dass sich sein Vater gegen seine Mutter auflehnte und durchsetzte. Auch deshalb hasste seine Mutter die Oper, weil ihr Mann sie so sehr liebte. Das wusste Tamino, deshalb hatte er die Oper vorgeschoben und benutzte sie als Alibi. Dass er an diesen Abenden in seinem besten Anzug außer Haus ging und sehr spät wieder zurückkam, wunderte seine Mutter daher nicht.

Das da hinten war also die Frau, der er den Umschlag übergeben musste. Ein Kinderspiel. Dieser kleine Job würde ihm im Kolibri mehrere entspannende Abende ermöglichen. Er grinste, ohne es zu bemerken.

„Dieser Tamino ist ein Trottel,“ sagte Lutz Bräu zu Daniel Thalhammer. Sie waren dem Bus gefolgt, um Tamino bei der Umschlagübergabe zu beobachten.

„Deshalb habe ich ihn ausgewählt. Ich finde, er ist perfekt für den Job. Ein unbeschriebenes Blatt ohne soziale Kontakte. Außerdem ist auch er ständig pleite.“

„Ich weiß, obwohl ich das nicht verstehe. Er lebt bei seiner Mutter und hat einen Job. Er wird zwar beim Staatstheater nicht gut bezahlt, aber ohne Miete und ohne Auto müsste er eigentlich prima über die Runden kommen.“

„Er hat eine kleine Schwäche: Der Idiot verprasst sein Erspartes im Puff.“

Lutz Bräu verzog das Gesicht. Er mochte keine Bordelle, die widersprachen seinen moralischen Grundsätzen.

Bräu und Thalhammer fuhren nach Hause. Thalhammer bewohnte eine kleine, schäbige Wohnung in einem miesen Wohnviertel am Rande Münchens; mehr konnte er sich nicht leisten. Er nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich auf die alte, ramponierte Couch. Er war zufrieden mit der Auswahl der beiden Personen, der Test hatte reibungslos funktioniert.

 

Bräu fuhr in seine Wohnung der gehobenen Mittelklasse und las bei einem guten Glas Rotwein nochmals mit Genuss den Artikel in der heutigen Tageszeitung. Das überraschende Treffen der EU-Energieminister in München passte hervorragend in den Plan. Ihm war klar, dass der Bayrische Ministerpräsident nur aus Prestigegründen eingeladen hatte und bei den speziellen Fragen komplett überfordert war.

„Der macht sich doch nur wichtig. Die Wahlen stehen bevor und er möchte Punkte sammeln,“ lachte Bräu und schenkte nochmals nach. Ihnen hätte nichts Besseres passieren können. Die Polizei war abgelenkt und somit konnte er mit Thalhammer in Ruhe arbeiten.

Was ihm zu schaffen machte, war die geplante Sperrung der Zufahrtsstraße zur A94, die schon seit Wochen angekündigt wurde. Das wäre nicht so schlimm, wenn nicht auch die B304 mit unnötigen Baustellen behindert wäre. Noch war die Zufahrt zur A94 offen, aber wie lange? Eine Fahrt durch die Innenstadt Münchens kam nicht in Frage, das war zu gefährlich. Zum Glück hatten sie einen Plan B, auf den sie im Notfall zurückgreifen konnten. Die Frau, die Thalhammer ausgewählt hatte, war perfekt. Wenn er ehrlich war, hatte er auch mit dem Mann ein glückliches Händchen bewiesen, aber persönlich hatte er etwas gegen ihn. Bräu wischte den Gedanken daran weg. Noch war die Zufahrtsstraße zur A94 offen und alles würde glatt laufen, ganz sicher.

Der lange geplante Coup konnte endlich beginnen. Nächste Woche war es endlich so weit.

3.

Die Kriminalbeamten der Mühldorfer Polizei murrten und waren sauer. Ihr Chef Rudolf Krohmer hatte ihnen eben offenbart, dass sie sich einem ganz besonderen Einsatz anschließen mussten: Dem Treffen der EU-Energieminister in der Bayrischen Staatskanzlei in München.

„Was sollen wir dort? Gibt es nicht schon genug Einsatzkräfte?“ maulte Hans Hiebler, der solche Jobs überhaupt nicht mochte. Der 55-jährige, 1,80 m große Lebemann roch heute wieder fantastisch. Allerdings war er müde, denn er kam direkt von einem Date mit einer jungen Frau, die er erst heute Nacht in einer Disco kennengelernt hatte. Hans war nicht verheiratet und genoss sein Leben in vollen Zügen. „Sind die Minister nicht erst kürzlich in Brüssel zusammengesessen?“ hakte er nach.

„Richtig. Aber unser Ministerpräsident hat eingeladen, um die noch offenen Fragen zu klären. Nach meinen Informationen wurden noch nicht alle Punkte für die Umsetzung der EU-Klima- und Energieziele für das Jahr 2030 sichergestellt. Seien Sie unserem Minister-präsidenten dankbar, dass er sich dafür einsetzt, die Umwelt geht uns schließlich alle an,“ sagte Krohmer, für den es selbstverständlich war, dass sich seine besten Leute bei der Sicherung des Treffens beteiligten. „Ich weiß, die Sache ist kurzfristig, aber das schaffen Sie schon.“

„Wann soll das stattfinden?“ sagte Leo Schwartz. Der 51-jährige gebürtige Schwabe hatte schlecht geschlafen und war mies drauf. Der 1,90 m große Mann hatte heute wieder eines dieser schrecklichen T-Shirts an, deren Leuchtfarben nicht nur in Krohmers Augen schmerzten.

„Lesen Sie keine Zeitung? Die Energieminister treffen nächste Woche Dienstag den 15. März in München ein. Das ganze dauert zwei Tage bis zum 17. März. Am Freitag nach dem Frühstück reisen die Minister ab, dann ist der Spuk vorbei.“

„So kurzfristig? Was ist unsere Aufgabe?“ sagte Tatjana Struck gelangweilt. Auch sie mochte diese Aufpasser-Jobs für hochrangige Personen nicht, dafür hatte sie sich nicht für ihren Job entschieden. Sie wollte Verbrechen aufklären und nicht Kindermädchen spielen. Die 38-jährige Tatjana war seit einem knappen halben Jahr in Mühldorf am Inn und hatte sich trotz der Enge des Landlebens schon sehr gut eingelebt. Sie kam aus Frankfurt am Main und Mühldorf war anfangs ein Schock für sie gewesen.

„Sie sind für die Staatskanzlei vorgesehen, und zwar alle vier. Sie werden die Energieminister im Auge behalten und für deren Sicherheit sorgen.“

Nun stöhnte auch der 40-jährige Werner Grössert auf, der darauf gehofft hatte, dem Job entgehen zu können, indem er sich freiwillig meldete, in Mühldorf die Stellung zu halten. Er war verheiratet und seit einem Jahr Vater einer kleinen Tochter. Natürlich wollte er gerne jede freie Minute mit ihr verbringen, und danach sah es mit dem Job in München nicht aus. Werner Grössert stammte aus einer sehr angesehenen Mühldorfer Anwaltsfamilie und schlug mit der Wahl seiner Polizeilaufbahn komplett aus der Art. Auch optisch passte er nicht zu seinen Kollegen. Werner trug sündhaft teure, moderne Anzüge. Krohmer sah ihn streng an.

„Was ist mit deren Begleitern und den Dolmetschern?“ wollte Leo wissen.

„Nur die Minister. Um die anderen kümmern sich separate Einheiten.“

„Das heißt, wir sind für die Sicherheit der Minister in der Staatskanzlei und im Hotel eingeteilt? Ist ein Kulturprogramm geplant?“ Leo bohrte nach und würde am liebsten sofort jede Kleinigkeit erfahren.

„Das erfahren Sie alles vor Ort. Der Einsatzleiter ist Wilfried Totzauer. Der Name ist Ihnen hoffentlich ein Begriff.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Alle kannten den Chef der Münchner Polizei, der fast täglich in den Medien auftauchte.

„Liegt irgendetwas Wichtiges an, das gegen den Einsatz spricht?“

Die Kriminalbeamten schüttelten die Köpfe. Seit diesem unsäglichen Märchen-Fall war es ruhig geworden, es gab nur Routinearbeiten. Leider.

„Gut. Am Montagabend treffen Sie in München ein und bleiben dort bis Freitag. Ihr Dienst ist erst beendet, wenn alle Energieminister abgereist sind.“ Krohmer hatte zwar einen gewissen Unmut seiner Leute erwartet, aber nicht mit so viel Gegenwind gerechnet. „Als besonderes Zuckerl wurden für Sie Zimmer im Hotel König Maximilian reserviert. Auch, weil dort die Minister untergebracht werden.“

„Nobel, nobel,“ sagte Hans Hiebler und grinste. Er hatte das vor drei Jahren eröffnete, sehr moderne 5-Sterne-Hotel bereits mehrmals von außen gesehen, könnte sich aber dort eine Übernachtung nie im Leben leisten. Unter diesen Gesichtspunkten sah der Job sehr viel besser aus und er freute sich auf nächste Woche.

Leo Schwartz dachte anders darüber. Das Hotel interessierte ihn überhaupt nicht, er brauchte keinen Luxus und legte keinen Wert darauf. Der Schutz der EU-Energieminister war eine hohe Verantwortung und nicht ohne Risiko.

„Warum wurden wir für den Job ausgewählt? Meines Wissens nach gibt es speziell ausgebildete Personenschützer, die dafür sehr viel besser geeignet sind,“ hakte er bei Krohmer nach. Natürlich kam die Frage wieder von Schwartz, der immer nur an den Job dachte und überall nach dem Haar in der Suppe suchte. Krohmer hatte gehofft, mit dem Hotel ablenken zu können. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als Farbe zu bekennen.

„Die Personenschützer sind zu einem wichtigen Treffen nach Berlin gebeten worden. Um was es da genau geht, kann ich Ihnen nicht sagen und das ist auch nicht wichtig. Es handelt sich bei den EU-Energieministern nicht um A-Prominenz, weshalb diese nicht extra zurückbeordert werden.“ Das waren genau die Worte, die Totzauer in dem Telefongespräch verwendet hatte.

„Wie bitte? Auch bei Politikern wird jetzt schon in der Wichtigkeit unterschieden? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein,“ echauffierte sich Werner. Er hasste es, wenn Menschen in Wichtigkeit eingestuft wurden, damit war er mit seinen versnobten Eltern aufgewachsen.

„Sorry, aber so wurde mir das mitgeteilt. Wie auch immer: Der Job ist klar und ich bitte Sie, diesen professionell auszuführen. Ich möchte über meine Leute nichts Negatives hören. Es versteht sich von selbst, dass Sie sich alle bezüglich Ihrer Kleidung anpassen,“ sagte er und sah vor allem Leo und Tatjana an.

Krohmer war verschwunden. Er war sicher, dass er sich auf seine Leute verlassen konnte. In seinen Augen war das zwar kein Routinejob, aber er musste nun mal erledigt werden.

Dass dieser Job größere Ausmaße annehmen würde, konnte er zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ahnen.

4.

Jenny Löffler benahm sich in den letzten Tagen seltsam. Sie war noch wortkarger als sonst. Sie hielt ihren Kopf noch tiefer gesenkt und vermied jeglichen Blickkontakt. Das fiel nicht nur dem Busfahrer Magnus Hofberger, sondern auch dem Fahrgast Hedwig Berenz auf. Allen anderen war der Zustand Jennys völlig egal. Aber nicht der 58-jährigen Hedwig, die den Busfahrer Magnus mit allen Informationen über Jenny versorgte. Sie war eine passionierte Kupplerin und fand von Anfang an, dass die beiden ein perfektes Paar abgeben würden. Hedwig wohnte nicht weit von Jenny entfernt. Wenn sie sich Mühe gab und sich weit über den Balkon ihrer großzügigen 3-Zimmer-Wohnung lehnte, konnte sie einen Blick in Jennys Küche werfen. Nicht, dass sie das nicht schon hunderte Male getan hatte, wofür sie sich nicht schämte. Sie gab freimütig zu, neugierig zu sein. Warum auch nicht? Das war ihr Hobby und sie stand dazu. Sie kannte alle Nachbarn und deren Familienverhältnisse, natürlich auch die von Jenny. Es hatte ihr damals sehr leid getan, als die Familie auseinanderbrach und Jenny mit den Kindern allein dastand. Als Klaus Löffler auszog, kannte sie die genauen Gründe nicht und konnte daher nur spekulieren. Es musste eine andere Frau dahinterstecken, sonst würde der Mann diese nette Familie niemals verlassen. Einen anderen Grund konnte sie sich einfach nicht vorstellen, obwohl die Gerüchteküche brodelte, zu der Hedwig immer ihren Senf gab. Hedwig hatte sich sehr darüber gefreut, als Jenny einen Job fand und sie jetzt sogar in derselben Buslinie zur selben Zeit nach Hause fuhren. Als sie herausgefunden hatte, dass Jenny nur einen Bus nach ihrem zur Arbeit nahm, hatte sie sich ihr angeschlossen. Dann kam sie eben zwanzig Minuten später bei ihrer Arbeitsstelle in Miesbach an, was machte das schon? Sie arbeitete dort schon seit sehr vielen Jahren in einem Schuhgeschäft, das sich auf Übergrößen spezialisiert hatte. Sie liebte ihre Arbeit, die sie tagsüber komplett ausfüllte. Jenny kannte sie bestimmt nicht, grüßte aber immer höflich und freundlich. Jenny stieg am Abend eine Station nach ihr ein und daher wusste Hedwig, wo sie arbeitete. Jeden Tag hielt sie nach ihr Ausschau und freute sich, dass sie immer mehr aufblühte. Als sie die Blicke des Busfahrers Magnus Hofberger bemerkte, befand sie es als ihre Pflicht, den gutmütigen, freundlichen Mann über Jenny aufzuklären. Er hatte nichts gegen Kinder. Warum auch? Die Kinder waren entzückend! Gut erzogen, höflich und obendrein sehr hübsch. Hedwig mochte Kinder, hatte aber leider selbst keine. Sie wurde bereits mit 49 Jahren Witwe und es ergab sich seither für sie keine neue Liebschaft. Natürlich gab es potentielle Partner, einen Mann zu finden war kein Problem. Es gab viele alleinstehende Männer, die aber nur jemanden für den Haushalt, zur Gesellschaft und für die Pflege brauchten. Denen war es egal, wer an ihrer Seite war; Hauptsache, sie waren nicht mehr allein. Hedwig verstand bis heute nicht, wie man sich so schnell nach dem Tod eines Partners wieder binden konnte und verurteilte Witwer und Witwen, die sich an den oder die nächstbeste hängten. Sie war anders, bei ihr stand das Herz an erster Stelle. Sie musste feststellen, dass sie mit zunehmendem Alter immer anspruchsvoller wurde und das stand ihr auch zu. Niemand konnte es mit ihrem verstorbenen Mann aufnehmen, den sie über alles geliebt hatte und der in ihren Augen perfekt war.

Was war nur mit Jenny los? Sie wirkte verschüchtert, ins sich gekehrt, fast ängstlich. Hing das mit dem Mann zusammen, der einige Male mit der Linie 12 gefahren war und sie beobachtete? Hedwig kam der Mann suspekt vor, denn er passte überhaupt nicht zu Jenny. Er war bestimmt schon Mitte 40, war groß, kräftig und hatte fiese Augen. Außerdem trug er einen billigen Anzug und schmutzige, alte Schuhe, die die grobschlächtige Art noch unterstrichen. Seit letzte Woche Dienstag war er nicht mehr mitgefahren und Hedwig war froh, dass er Jenny nicht mehr nachstieg.

Sollte sie Jenny einfach ansprechen und sie fragen? Das traute sie sich nicht. Sie war neugierig, aber besonders mutig war sie nicht. Trotzdem würde sie an Jenny dranbleiben und sie im Auge behalten.

„Gehst du heute schon wieder in deine blöde Oper?“ maulte Rosina Steinmaier während des Frühstücks. Sie hatte schon immer Wert darauf gelegt, mit ihrem Sohn gemeinsam zu frühstücken, worauf Tamino gerne verzichtet hätte. Jeden Morgen maulte seine Mutter so lange, bis ihre Unterhaltung in einem Streit und sich wiederholenden Vorwürfen endete. Er versuchte stets, dem aus dem Weg zu gehen, aber sie provozierte ihn so lange, bis er sich nicht mehr beherrschen konnte und contra gab.

 

„Erst nächste Woche Mutti.“

„Was findest du nur an diesem fürchterlichen Geschrei? Der Komödienstadl ist immer schön, aber die Oper? Du bist genauso wie dein Vater! Der hat auch immer ein Heidengeld für Opernkarten ausgegeben und hat mich allein zurückgelassen, um sich das Geschrei anzuhören. Er wollte immer etwas Besseres sein und gab mit seinem Wissen und seiner Affinität zu Opern an. Ich konnte nie etwas damit anfangen und hielt lieber jeden Pfennig zusammen. Dein Vater hat nicht viel verdient und wir mussten immer sparen. Trotzdem wollte er partout nicht auf die Opern-Besuche verzichten. Er hat mich dazu überredet, dich Tamino zu nennen. Ich finde den Namen auch heute noch affig und für ein Leben in Bayern nicht angebracht. Aber gegen deinen Vater kam ich nicht an.“

„Ich finde den Namen schön, er passt zu mir. Vati war nun mal ein Feingeist.“

„Feingeist! Pah! Er kam aus einfachsten Verhältnissen. Meine Eltern waren reiche, angesehene Geschäftsleute. Die Eltern deines Vaters waren einfache Leute, die es nie zu Reichtum gebracht hatten. Ich habe oft mitbekommen, wie dein Vater seinen Eltern einige Scheine zusteckte, wenn sie mal wieder klamm waren. Das war rausgeschmissenes Geld! Man kommt nur zu etwas, wenn man fleißig ist und das Geld zusammenhält. Wie oft habe ich deinem Vater gebeten, dass er seinen Eltern nichts mehr geben soll. Denkst du, er hat auf mich gehört?“

„Vati war eben ein sehr gutmütiger, großherziger Mensch,“ sagte Tamino. Wie immer musste er seinen Vater verteidigen. Wie sehr er ihn vermisste, hatte seine Mutter nie bemerkt.

„Großzügig und gutmütig nennst du das? Nein, das war einfach nur dumm. Ja, dein Vater war ein dummer Mann, der sich gerne ausnutzen ließ. Außerdem war er nicht groß und stattlich, wie man sich einen Mann vorstellt. Er war genauso klein und dünn wie du. Das gefällt mir an Männern nicht.“

„Und trotzdem hast du ihn geheiratet,“ sagte Tamino und bereute seine Worte sofort. Er kannte die Sprüche und Geschichten seiner Mutter in- und auswendig. Bei jeder Gelegenheit machte sie ihn und seinen verstorbenen Vater nieder. Tamino kannte die Wahrheit, die sich seine Mutter immer schön redete. Das reiche Elternhaus seiner Mutter war in Wahrheit ein kleiner Tante-Emma-Laden mitten in Schwindegg, der sich gegen die großen Supermärkte nicht durchsetzen konnte und schließlich Ende der 70er-Jahre schließen musste. Das Haus war nicht viel wert und musste inzwischen einem Spielplatz weichen, nachdem die Stadt das Haus für ein Butterbrot gekauft hatte. Seine Mutter Rosina hatte von klein auf in dem Laden mitgearbeitet. Sie hatte keine Ausbildung und hatte nach der Schließung des Geschäfts nicht mehr gearbeitet. Er selbst war damals noch klein und konnte sich noch gut daran erinnern, wie verzweifelt seine Mutter war; sie hatte tagelang geweint. Tamino war davon überzeugt, dass sie wegen der Schließung des Geschäfts und der Langeweile so verbittert geworden war. Seitdem sie zuhause war und sich langweilte, hatte sie sich auf seinen Vater eingeschossen und machte ihm mit ihren Vorhaltungen und Sticheleien das Leben zur Hölle. Seit sein Vater vor zwölf Jahren starb, war er nun dran.

Seine Mutter regte sich über seine Widerworte auf und er entschuldigte sich mehrmals, wobei er ständig auf die Uhr sah. Die Zeit drängte, der Bus wartete nicht auf ihn. Als er endlich vor der Tür stand, musste er sich beeilen. Erst als er im Bus saß, fühlte er sich wohl. Kein Geschrei und kein Gekeife, hier konnte er sich entspannen und zur Ruhe kommen. Wie oft hatte er seiner Mutter die Pest an den Hals gewünscht? Aber sie war seine Mutter und er musste sie so nehmen, wie sie war. Was würde aus ihm werden, wenn sie nicht mehr da wäre? Brauchte er sie wirklich oder machte er sich nur etwas vor? Tamino wischte die Gedanken beiseite und dachte nur noch an seinen Bordellbesuch im Kolibri in der nächsten Woche. Die Damen warteten bestimmt schon auf ihn, schließlich war er ein großzügiger Gast, der keinen Ärger machte. Er verschwendete nicht einen Gedanken an den Mann, der ihn bedroht hatte und der von ihm einen Kurierdienst quasi erzwang. Warum auch? Kohle für nichts. Was sollte dabei schief laufen?

Jenny war da weniger entspannt. Immer und überall erwartete sie, von jemandem angesprochen zu werden. Wer war der Mann, der ihr den Umschlag übergeben würde? Irgendwoher kannte sie ihn, aber woher? War er einer der Fahrgäste? Oder sogar ein Kollege oder Nachbar? Täuschte sie sich, oder handelte es sich bei ihm um einen Fremden? Wurde auch er bedroht? Womit wurde er unter Druck gesetzt? Die ständigen Gedanken zermürbten sie und sie musste sich ermahnen, sich endlich zusammenzureißen.

Am liebsten wäre sie zuhause geblieben und hätte sich in ihrem Bett verkrochen, zumal sie seit dem Wochenende eine satte Erkältung mit sich herumschleppte. Die Kinder wollten unbedingt zur Eisbahn und Schlittschuhlaufen. Die Eislaufsaison ging ihrem Ende zu und sie wollte ihren beiden Kleinen diesen Spaß gerne erlauben. Natürlich hatte sie sie begleitet und stand an der Bande und wartete, während ihre Kinder sich mit Freunden vergnügten. Sie hätte sich wärmer anziehen sollen, sie hatte die Kälte unterschätzt. Dann stand er plötzlich da, einfach so. Der Mann, der ihr gedroht hatte stand an der gegenüberliegenden Bande und sah zu ihr herüber. Was wollte er hier? Und wie kam er hierher? Minutenlang stand er da und sie verstand seine Drohung: Er wusste, wo sich ihre Kinder aufhielten! Das allein reichte ihr. Ihr wurde schlecht und sie bekam noch mehr Angst. Auch noch nachdem er längst verschwunden war, war die Angst nicht verflogen. Die Sache war ernst, sehr ernst sogar und sie machte sich Sorgen um ihre Kinder und um sich selbst. Wer würde sich um Hannah und Oskar kümmern, wenn sie nicht mehr da wäre?

Die lachenden Kinder brachten sie auf andere Gedanken. Sie erzählten von dem aufregenden Nachmittag noch den ganzen Abend, bis sie erschöpft ins Bett fielen. Ihre Füße waren immer noch kalt und der Kopf war heiß. Sie durfte nicht krank werden, nicht jetzt! Der Mann hatte ihr gesagt, dass sie nicht krank sein dürfe. Entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten nahm sie alle möglichen Erkältungsmittel ein, die sie finden konnte. Einige waren nur für Kinder, andere waren schon abgelaufen. Aber das war ihr egal. Der Mann hatte deutlich gesagt, dass sie jeden Tag zur Arbeit gehen solle und dieser Anweisung musste sie folgen.

Wie lange würde das Spiel noch gehen? Wann konnte sie endlich wieder in Ruhe und Frieden leben? Was hatte sie diesem Mann eigentlich getan? Warum wurde gerade sie ausgewählt?

So fuhr sie also zur Arbeit. Was blieb ihr anderes übrig? Es war ihr am Freitag endlich gelungen, ihre Kinder in die überzogene Betreuungsgruppe in der Schule unterzubringen. Sie hatte den Rektor quasi angefleht, ihre Kinder zu nehmen, bis er schließlich nachgab. Hannah und Oskar waren jetzt am Abend nicht mehr allein und sie konnte sie nach der Arbeit direkt von der Schule abholen. Ihre Kinder würden nicht mehr alleine sein und waren so vor dem Fremden geschützt. Diese Sorge wurde ihr genommen.

Sonst freute sie sich auf ihre Arbeit und auf ihre Kollegen, aber seit letzter Woche war ihre Freude verflogen. Sie funktionierte nur noch.

Magnus rief durch den Bus und wünschte ihr einen schönen Tag. Sie erwiderte nichts darauf und stieg aus. Warum war sie ihm gegenüber nur so abweisend? Das spielte jetzt keine Rolle, Magnus war nicht das Problem. Ihr Problem war dieser unsägliche Kurierdienst, mit dem sie eine Straftat beging und zu dem sie gezwungen wurde. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu fügen.