Adlerholz

Text
Aus der Reihe: Leo Schwartz #9
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

„Was können Sie uns über Herrn Rau sagen?“

„Ein sehr höflicher, freundlicher, ordentlicher und auch hilfsbereiter Mann, obwohl er mit seinen vielen Tätowierungen ziemlich wild aussah und sich die Nachbarn anfangs ganz schön erschreckt haben. Aber sie haben sich alle gut mit ihm verstanden. Er hat seine Miete immer pünktlich bezahlt und es gab nie Ärger mit ihm. Da habe ich schon ganz andere Dinge erlebt, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen…“

„Die interessieren uns nicht, wir sind nur wegen Herrn Rau hier,“ sagte Frau Westenhuber genervt. Was war los mit ihr? Leo ärgerte sich über die Frau, von der er eigentlich viel mehr Feingefühl erwartet hätte. Was war denn dabei, sich menschlich auf netter, ungezwungener Ebene mit dem Mann zu unterhalten?

„Der Simon hat mir günstig Brennholz besorgt, denn die Preise sind in den letzten Jahren dermaßen gestiegen, dass man sich das beinahe nicht mehr leisten kann. Außerdem ging er mir oft zur Hand, schließlich kann ich in meinem Alter nicht mehr alles alleine machen. Und wie gesagt, geht bei so einem Haus die Arbeit nie aus. Schon allein die Pflege des Gartens, des Grundstücks und dann auch noch die Hausmeisterarbeiten.“ Er sah den genervten Blick von Frau Westenhuber. „Der Simon war ein feiner Kerl und ich lasse nichts auf ihn kommen. Was ist ihm denn nun zugestoßen?“

„Wir können Ihnen leider lediglich mitteilen, dass er ermordet wurde. Details müssen wir aus ermittlungstechnischen Gründen noch zurückhalten.“

„Er wurde ermordet?“, rief er erschrocken und trat einen Schritt zurück. „Hier bei uns? Wer tut denn so was?“

„Um das herauszufinden, sind wir hier. Wo hatte Herr Rau gearbeitet?“

Leo mochte diesen alten Mann sofort, er erinnerte ihn an seinen Opa, der auch immer in diesen Latzhosen rumlief und immer irgendwo zu arbeiten hatte.

„Im Sägewerk Krug in Unterneukirchen. Er war ganz neu hier in der Gegend und hatte dort seine Arbeit gerade angefangen, als ich ihm vor einem halben Jahr die Wohnung hier vermietet habe. Das tut mir so leid mit dem Simon, ich kann das noch gar nicht glauben, so ein junger Mensch. Ich muss sofort meiner Ilse davon erzählen, die fällt aus allen Wolken.“

Leo machte sich eifrig Notizen, Frau Westenhuber tat nichts dergleichen.

„Haben Sie Zugang zu der Wohnung von Herrn Rau?“

„Selbstverständlich habe ich von allen 6 Wohnungen einen Schlüssel. Schon allein deshalb, falls sich mal jemand aussperrt, und das kommt öfters vor, als Sie denken. Sie können sich nicht vorstellen, was ein Schlüsseldienst in einer Notlage verlangt, das ist der reinste Wucher. Aber ich habe diese Schlüssel niemals gesetzwidrig eingesetzt und bin einfach in die Wohnungen reingegangen, das habe ich niemals gemacht, Ehrenwort.“

„Das glaube ich Ihnen sofort,“ sagte Frau Westenhuber sarkastisch, was der Zeuge Schickl zum Glück nicht zu bemerken schien, denn er ging ihnen voraus, wobei er immer noch den Akkuschrauber in einer Hand hielt. Sie folgten ihm.

„Das ganze Haus gehört Ihnen Herr Schickl?“

„Ja. Eine Geldanlage und auch Altersvorsorge. Meiner Frau und mir gehörte der Grund, als er Bauland wurde. Früher waren das hier alles Äcker und Wiesen. Können Sie sich das vorstellen? Davon ist jetzt nichts mehr zu sehen. Wegen dem Werk in Gendorf wurde Bauland gebraucht, die Arbeiter wollen ja schließlich auch irgendwo leben. Die Kastler Gemeindevertreter haben schnell reagiert und entsprechendes Bauland ausgewiesen, das günstig angeboten wurde. Aus unserem Kastl ist in den letzten 30 Jahren ein hübscher Ort geworden, früher standen hier nur wenige Häuser und es war hier nicht viel los. Aber jetzt haben wir schon weit über 2.000 Einwohner, dazu viele Vereine und Aktivitäten übers ganze Jahr verteilt.“ Max Schickl war sehr stolz auf Kastl und dessen Entwicklung. „Wir als Landwirte müssen später auch von etwas leben; mit dem bisschen Rente kommt man kaum über die Runden. Deshalb haben wir vor 12 Jahren das Haus hier auf unserem Grund gebaut und die Wohnungen vermietet. Unser Neffe hat uns dazu geraten, er arbeitet in Altötting bei der Bank. Wissen Sie, meine Frau und ich haben keine Kinder und er bekommt das später natürlich von uns, wenn wir nicht mehr sind. Nicht, dass Sie glauben, dass unser Neffe einer dieser Erbschleicher ist. Nein, er ist immer nur auf unser Wohl bedacht und besucht uns schon von klein auf regelmäßig, er ist ein guter Junge. Und er hatte absolut Recht mit dieser Geldanlage, von der wir nun in unserem Alter sehr gut leben können.“

Max Schickl sagte das nicht ohne einen gewissen Stolz und er konnte auch stolz darauf sein, denn solch ein Vorhaben war für ihn in seinem Alter bestimmt nicht leicht gewesen. Leo war schwer beeindruckt, denn die Verwaltung, Pflege und auch die Verantwortung waren nicht leicht für einen Mann Mitte 70. Waltraud Westenhuber sagte nichts dazu, ihr war das, was Herr Schickl von sich gab völlig egal, soweit es nicht ihren Fall betraf. Herr Schickl sperrte die Tür einer Wohnung im Erdgeschoss auf.

„Ich lasse Sie nun allein. Wenn Sie mich noch brauchen, finden Sie mich draußen am Zaun. Ich muss heute noch fertig werden, sonst schimpft meine Frau,“ sagte er mit einem Augenzwinkern.

Sie sahen sich in der kleinen 2-Zimmer-Wohnung um und waren überrascht von der modernen Einrichtung und der Sauberkeit. Leo reichte seiner Kollegin ein paar Handschuhe, aber diese hatte ihre bereits übergezogen und machte sich an die erste Schublade im Wohnzimmerschrank.

„Ich habe nichts Besonderes gefunden, überlassen wir den Rest der Spurensicherung. Fuchs wird sich freuen,“ sagte Waltraud Westenhuber und Leo, der ebenfalls nichts gefunden hatte, stimmte ihr zu.

„Wissen Sie, was mich stutzig macht? Dieser Rau hatte alle möglichen technischen Geräte. Alles vom Feinsten, aber keinen Laptop oder Computer.“

„Vielleicht hatte er ihn dabei? Haben Sie Hinweise auf einen Wagen gefunden?“

„In einer Jackentasche habe ich einen Brief der Kfz-Versicherung gefunden. Ich habe eben mit Hans telefoniert, das Fahrzeug ist bereits in der Fahndung.“

„Ansonsten sind hier keine weiteren Unterlagen, ich habe keinen Aktenordner und nicht ein Schriftstück gefunden. Sie etwa?“

Frau Westenhuber schüttelte den Kopf. Auch ihr kam das alles hier viel zu sauber und ordentlich vor – die Sache stank und gefiel ihr überhaupt nicht. Sie versiegelten die Tür und suchten nach Herrn Schickl, der wahrscheinlich immer noch am Zaun arbeitete.

„Warten Sie Herr Schickl, ich helfe Ihnen,“ rief Leo, als er sah, dass der alte Mann ein schweres Brett alleine von einem Lieferwagen zog.

„Das ist aber wirklich nett von Ihnen,“ freute er sich. „Vielen Dank! Das Brett legen wir am besten einfach hier an die Seite.“

„Haben Sie den Wagen von Herrn Rau gesehen?“

„Normalerweise parkt er ihn direkt hier an der Straße, obwohl er eine Garage hat.“

„Eine Garage? Wo ist die?“, fragte Frau Westenhuber sofort, der das Gequatsche des alten Mannes allmählich zu viel wurde. Das war einer der Punkte, die sie am Landleben nicht mochte. Hier unterhielt man sich miteinander und interessierte sich für alles und jeden. Sie hingegen liebte die Anonymität der Großstadt und die Tatsache, dass sie niemanden kannte und sich auch niemand für sie interessierte.

„Gleich hier drüben, ich zeige sie Ihnen. Zu jeder Wohnung gehört eine Garage, darauf hat meine Frau sehr viel Wert gelegt, obwohl wir uns die Kosten auch hätten sparen können, denn gesetzlich wären wir dazu nicht verpflichtet gewesen. Aber meine Frau meint, Garagen gehören dazu. Und was soll ich sagen? Sie hatte natürlich wie immer Recht, denn meine Mieter sind sehr froh darüber. Hier sind wir schon, das ist die Garage vom Simon.“

„Lassen Sie mich raten: Auch hierfür haben Sie bestimmt einen Schlüssel, den Sie noch niemals benutzt haben?“ Frau Westenhuber war genervt. Herr Schickl antwortete nicht, sondern sah sie nur an und reichte ihr einen Schlüssel.

Leo sperrte auf und drehte an dem Knauf.

„Donnerwetter,“ rief Leo aus, „da hat Fuchs ja richtig viel zu tun.“

Die Garage war voller Kartons, bis unters Dach stapelten sich neuwertige Kartons in beinahe allen Größen.

„Was ist da drin?“, wollte Frau Westenhuber vom überraschten Herrn Schickl wissen.

„Das weiß ich doch nicht und das geht mich auch nichts an. Die Garage gehört zur Wohnung, was darin aufbewahrt wird, ist allein Sache des Mieters.“

„Kommen Sie schon, Sie wissen doch bestimmt, was da drin ist. In so einem kleinen Kaff wie Kastl weiß doch jeder alles von jedem. Und ich könnte mir vorstellen, dass Sie vielleicht schon den einen oder anderen Blick da reingeworfen haben,“ sagte sie mit einem sarkastischen Unterton.

„Hören Sie junge Frau,“ sagte Max Schickl nun aufgebracht, „ich habe die Polizei gerufen, weil ich den Toten in der Zeitung erkannt habe. Sie sind mir gegenüber von Anfang an feindselig eingestellt und glauben Sie ja nicht, dass ich Ihren unterschwelligen Ton nicht bemerke. Ich habe Ihnen nichts getan und verbitte mir, dass Sie in diesem Ton weiter mit mir sprechen und mir irgendetwas unterstellen wollen. Ich war niemals in Simons Wohnung ohne dessen Wissen und ich habe auch zu keiner Zeit einen Blick in seine Garage oder gar in die Kartons geworfen. Wenn Sie mich entschuldigen, ich muss mich wieder an die Arbeit machen.“

„Das ist ja ein Herzchen,“ sagte Frau Westenhuber nun deutlich freundlicher, „der ist vielleicht empfindlich, jetzt ist er auch noch beleidigt. Bin ich wirklich so schlimm, wie der Mann behauptet?“

„Noch viel schlimmer. Sie sind unfreundlich, patzig und haben einen Ton drauf, der einem die Arbeit wirklich nicht gerade erleichtert. Sie sind in Ihrer Art sehr direkt und ich glaube, dass Sie Spaß daran haben, andere vor den Kopf zu stoßen. Ich will nicht wissen, welche Laus Ihnen über die Leber gelaufen ist, denn ich finde Sie heute besonders unausstehlich. Können Sie denn nicht verstehen, wie sich dieser alte Mann fühlen muss? Er ist ein braver, unbescholtener, fleißiger und bestimmt auch rechtschaffener Mann, der durch die Situation völlig überfordert ist. Und Sie bombardieren ihn mit ihren Vorwürfen, reagieren genervt, sind unfreundlich und beleidigend. Ich verstehe Sie nicht und finde Sie echt unmöglich!“ Leo wollte sich eigentlich ihr gegenüber zurücknehmen, aber sie war heute besonders ätzend und er beschloss, ihr seine Meinung zu sagen, egal welche Konsequenzen er zu erwarten hätte. Anfangs fand er die Frau echt toll, aber seine Meinung hatte er inzwischen grundlegend geändert. Diese Frau Westenhuber war echt unmöglich.

 

„Ach was, das ist mir überhaupt nicht aufgefallen. In Zukunft möchte ich, dass Sie mich umgehend darauf hinweisen, verstanden?“

Jetzt musste Leo schmunzeln, denn diese Frau konnte offene Worte und Kritik wirklich sehr gut vertragen, das musste man ihr lassen. Er öffnete einen der Kartons und holte einige alte Zeitungen hervor, ansonsten war der Karton leer. Dann nahm er sich den nächsten, auch hier waren nur einige Zeitschriften enthalten.

„Was soll das?“ Leo öffnete weitere Kartons, und auch hier wieder das gleiche Spiel. „Warum zum Teufel sind in den Kartons nur ein paar Zeitungen drin?“

„Lassen Sie es gut sein Schwartz, das sind zu viele, denn das geht bis hinten durch, soweit ich das sehen kann. Überlassen wir das dem Fuchs, der wird sich freuen, wenn er sich da durchwühlen kann und vielleicht sogar herausbekommt, was Simon Rau damit bezwecken wollte.“

Auf dem Weg zum Wagen kamen sie an Herrn Schickl vorbei, der sie keines Blickes würdigte.

„Tut mir leid Herr Schickl, ich meinte das vorhin nicht persönlich. Das ist heute nicht mein Tag.“

„Passt scho!“, antwortete Herr Schickl, womit die Sache für ihn erledigt war.

Wenig später bogen die beiden auf das Firmengelände des Sägewerks Krug in Unterneukirchen ein. Es herrschte reges Treiben und sie mussten aufpassen, dass sie, nachdem sie den Wagen geparkt hatten und nun zu Fuß über das Gelände liefen, nicht vom Gabelstapler oder Transportern überfahren wurden. Sie betraten das Büro, wo sie von einer freundlichen Frau Mitte 40 empfangen wurden.

„Grüß Gott. Kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Name ist Westenhuber, das ist mein Kollege Schwartz, Kripo Mühldorf. Wir würden gerne den Geschäftsführer sprechen.“

„Das bin ich, Annemarie Krug mein Name, mir gehört das Sägewerk. Um was geht es?“

„Es geht um Ihren Mitarbeiter Simon Rau, wir haben ihn tot aufgefunden.“

„Der Simon ist tot?“ Sie war erschrocken. „Mein Gott, ich habe ihn heute bei der Arbeit vermisst und war stinksauer, denn wir haben Terminaufträge, die keinen Aufschub erlauben. Eigentlich ist der Simon immer pünktlich und zuverlässig. Ich dachte, er hat verschlafen oder macht einfach mal blau, aber wer rechnet denn damit?“

„Wir haben heute ein Foto des Toten in der Zeitung veröffentlicht, haben Sie ihn nicht erkannt?“

„Ich bin noch nicht dazugekommen, die Zeitung zu lesen, das mache ich immer mittags.“ Sie nahm die Zeitung von der Fensterbank, blätterte darin und starrte erschrocken auf das Foto. „Um Gottes Willen, wie sieht der denn aus? Was ist passiert?“

„Er wurde ermordet. Wir haben ihn in Burgkirchen aus der Alz gezogen.“

„Ermordet?“, schrie sich nun und setzte sich auf den alten Bürostuhl. Sie zitterte am ganzen Körper und Leo holte ihr aus der angrenzenden Küche ein Glas Wasser, das sie dankend annahm.

„Hatte er irgendwelche Feinde, gab es Ärger mit Kollegen oder Kunden?“

„Aber nein. Der Simon war immer freundlich, sehr fleißig, manchmal vielleicht etwas übereifrig. Aber Ärger hatte er nie. Er war immer ruhig und ausgeglichen, ging jedem Streit aus dem Weg. Wissen Sie, in unserer Branche geht es schon mal ein wenig ruppiger zu, aber der Simon war ein feiner Mensch, sehr gebildet und auch sehr gepflegt.“

„Was genau war seine Arbeit?“

„Hauptsächlich hat er mich hier im Büro unterstützt. Außerdem hat er Holzlieferungen angenommen und geprüft; das wollte er unbedingt machen. Er hat mich damals geradezu zu der Arbeit überredet, da er eine Forstausbildung hatte und sich mit Holz auskannte. Außerdem war er für die Auslieferungen zuständig. Er war sehr gut und auch gründlich in seiner Arbeit, wobei er immer persönlich alle Holzlieferungen an- und abgenommen hat, zu jeder Tages- und Nachtzeit, das ließ er sich nicht nehmen. Der Simon ist seit knapp einem halben Jahr bei uns und hatte noch keinen Tag Urlaub. Er sprang sogar jederzeit für Kollegen ein, ohne zu murren. Immer wieder habe ich versucht, ihn dazu zu überreden, doch endlich Urlaub zu nehmen, was er aber stets abgelehnt hatte. Es ist eine Katastrophe für mich, dass der Simon tot ist. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr er mich entlastet hat. So einen Arbeiter bekomme ich nie wieder.“

Frau Krug weinte und kramte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, das Ganze nahm sie sichtlich mit.

„Haben Sie je bei Herrn Rau einen Laptop, ein Handy oder dergleichen gesehen?“

„Er hatte ein Handy, das weiß ich ganz sicher. Ich habe mehrfach beobachtet, wie er telefoniert hat. Aber ob er einen Laptop hatte, weiß ich nicht.“

Bezüglich der vorgefundenen Kartons in Raus Garage wollten sie Frau Krug noch nicht befragen, denn schließlich kannten sie den Inhalt und Umfang selbst noch nicht.

„War Simon Rau mit irgendjemandem befreundet? Vielleicht sogar mit einem Ihrer Mitarbeiter? Hat ihn jemand hier besucht, abgeholt oder gab es irgendwelche privaten Telefonate?“

„Nein, nichts dergleichen. Ich habe hier mit der Firma genug zu tun, private Dinge meiner Arbeiter interessieren mich nicht.“

„Hatte Herr Rau einen Spind?“

„Natürlich, wie alle hier, das ist Vorschrift. Kommen Sie mit.“

Sie nahm das Telefon mit und sie folgten ihr über den Hof in ein angrenzendes Gebäude, in dem neben verschiedenen Maschinen und Geräten auch der Aufenthaltsraum, ein Waschraum mit 2 Duschen und eine Umkleide untergebracht waren; alles sehr sauber, ordentlich und noch ziemlich neu.

„Bitte, der hier gehört dem Simon. Er ist nicht verschlossen, meine Jungs brauchen ihre Sachen nicht einzuschließen, hier kommt nichts weg.“

Frau Krugs Telefon klingelte und während sie sprach, durchsuchte Leo die wenigen Habseligkeiten in Raus Spind. Außer einer Jacke, ein paar Sicherheitsschuhen und einem Buch war nichts weiter darin. Leo klebte trotzdem ein Polizeisiegel auf die Tür, die Spurensicherung sollte sich den Spind ebenfalls vornehmen.

„Hatte Herr Rau einen Wagen?“

„Ja sicher. Aber der ist nicht hier auf dem Hof, Simon ist gestern damit nach Hause gefahren.“

„Wir hätten gerne die Personalakte von Herrn Rau. Und dann müssen wir uns natürlich mit Ihren Mitarbeitern unterhalten.“

„Es ist jetzt gleich Mittag. Wenn Sie wollen, können Sie hier im Aufenthaltsraum auf die Jungs warten, ich bringe Ihnen die Personalakte.“

Leo beobachtete, wie Frau Krug vor dem Büro mit einem ihrer Angestellten sprach.

Waltraud Westenhuber und Leo Schwartz mussten tatsächlich nicht lange warten, pünktlich um 12.00 Uhr kamen die fünf Mitarbeiter, die sie einen nach dem anderen befragten. Alle waren bestürzt über die Todesnachricht, aber keiner kannte Simon Rau näher oder hatte privat mit ihm zu tun.

„Der Simon war noch nicht lange bei uns, und er war ein Reingschmeckter,“ sagte Kurt Schmidt, der einen fürchterlichen Dialekt sprach und deshalb von Frau Westenhuber befragt wurde. „Der hat uns aber allen schon mal geholfen und eine Schicht übernommen, deshalb haben wir ihn akzeptiert und er gehörte schnell zu uns. Aber genauer gekannt habe ich ihn nicht, wir sind über das Geschäftliche nie drüber raus.“

„Herr Rau kam nicht von hier?“

„Nein, der hat sich zwar bemüht, bayrisch zu sprechen, aber an manchen Ausdrücken hat man gemerkt, dass der nicht von hier ist.“

„Haben Sie ihn nicht gefragt, woher er kommt? Was er vorher gemacht hat? Wie er lebt? Interessiert man sich nicht näher für Kollegen, mit denen man zusammenarbeitet?“

„Nein, warum auch? Es hat mich nicht interessiert. Beruflich sind wir gut zurechtgekommen. Der Simon hat eigentlich mehr im Büro gearbeitet, er verstand viel vom Papierkram, mit dem von uns keiner etwas zu tun haben möchte. Aber er war ein guter Kollege, der, wie gesagt, auch schon für mich eingesprungen ist. Aber privat hatte ich mit ihm nie etwas zu tun. Ich will Ihnen mal was erklären, Frau Kommissar: Wir arbeiten den ganzen Tag in einem Höllenlärm und dazu auch noch im Dreck, da ist man froh, wenn man zur Mittagspause seine Ruhe hat. Man isst, liest Zeitung oder legt sich auch mal hin, einen ruhigen Platz findet man hier schon irgendwo. Nehmen Sie meinen Kollegen den Sepp, wir kommen aus dem gleichen Ort und arbeiten auch noch zusammen. Trotzdem unterhalten wir uns nicht über irgendetwas Persönliches, es interessiert uns einfach nicht, auch wenn Sie sich das vor allem als Frau vielleicht nicht vorstellen können.“ Natürlich konnte sich Waltraud Westenhuber das vorstellen, denn sie interessierte sich auch nicht für die privaten Dinge ihrer Kollegen und vermied es, sich irgendwelchen Tratsch anzuhören. Trotzdem schnappt man doch das eine oder andere auf, ob man nun wollte, oder nicht. Aber hier war es doch eher so, dass sich jeder nur um sich selbst kümmerte; ob nun regional bedingt oder speziell in diesem Sägewerk.

Die Beamten ließen die Arbeiter in Ruhe, denn sie hatten sich ihre Mittagspause redlich verdient. Frau Krug hatte die Personalunterlagen noch nicht gebracht und deshalb gingen sie nochmals ins Büro, wo sie die Frau mit hochrotem Kopf bei der Manipulation der Personalakte Rau erwischten.

„Was zum Teufel machen Sie denn da? Sind Sie verrückt geworden?“ Frau Westenhuber war aufgebracht und entriss ihr die Akte.

„Ich wollte doch nur...“, stammelte sie.

„Was wollten Sie? Los, raus mit der Sprache. Und erzählen Sie ja keinen Blödsinn, ich will nur die reine Wahrheit hören, sonst nehme ich Sie umgehend fest und Sie werden mich von einer sehr unangenehmen Seite kennenlernen.“ Waltraud Westenhuber war stinksauer und die Drohung wirkte.

„Der Firma geht es nicht gut, die Osteuropäer machen mit ihren Preisen den Markt kaputt und wir müssen sparen, wo wir nur können. Was glauben Sie, was der Neubau drüben gekostet hat? Die Berufsgenossenschaft hat uns gezwungen, die Sozialräume zu bauen, sonst hätten die den Laden einfach zugemacht. Wo ich das Geld dafür hernehme, ist denen doch völlig egal. Und natürlich wird mir vorgeschrieben, dass ich meinen Leuten den Tariflohn bezahle, was ich aber nicht immer kann. Also haben wir die Arbeitsverträge ordnungsgemäß mit dem Tariflohn ausgestellt, bezahlt habe ich aber weniger. Alles habe ich bar bezahlt und meine Jungs haben quittiert. Die Sozialabgaben habe ich aber immer ordnungsgemäß abgeführt, das können Sie überprüfen.“ Sie sah hektisch von Traudl Westenhuber zu Leo Schwartz und schien auf eine Bestätigung oder irgendein Wort zu warten.

„Fahren Sie bitte fort, Frau Krug. Ganz ruhig, wir reißen Ihnen den Kopf schon nicht ab,“ sagte Leo mit einem Lächeln, worüber Frau Krug überaus dankbar war.

„Natürlich weiß ich, dass das nicht legal war und meine Leute schlechter bezahlt wurden, als ihnen zustand. Aber dafür durften die Jungs das Abschnittholz mitnehmen und als Brennholz weiterverkaufen, auch von dem angelieferten Brennholz, das von den Kunden nicht mitgenommen wurde, durften sie sich nehmen, so viel sie wollten. Natürlich ist das keine Entschuldigung und ich möchte mich auch nicht rausreden, aber meine Leute waren damit einverstanden und wir kamen prima über die Runden. Ich wollte doch nur die quittierten Auszahlungen an Simon korrigieren und dem Tariflohn anpassen, mehr nicht.“

„Wir sind hier doch nicht auf einem türkischen Basar, wo man einfach so bezahlen kann, wie man will. Hierfür gibt es Gesetze und Vorschriften, an die Sie sich zu halten haben,“ schnauzte Traudl Westenhuber. „Vor allem darf man nicht einfach so Unterlagen frisieren! Wo kommen wir denn da hin, wenn man sich alles so zurecht schneidert, wie es einem gerade passt.“

„Das weiß ich ja auch und es tut mir wirklich leid. Sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, ich muss mit meinem kleinen Betrieb sehen, wo ich bleibe. Ich mache, was ich kann. Mein Mann hat mich vor zwei Jahren verlassen, bis dahin hatte ich mit der Firma nicht das Geringste zu tun, obwohl ich das Sägewerk von meinen Eltern geerbt hatte. Mein Mann hatte damals bei meinem Vater gelernt und als wir heirateten, war es klar, dass er die Führung des Betriebes übernimmt. Und vor zwei Jahren stand ich dann da: Allein mit einem Haus, das noch nicht abbezahlt ist und mit einer Firma, die nur wenig abwarf. Übrigens ein Zustand, an dem sich bis heute nicht viel geändert hat. Ich hatte keine Ahnung von der Firma und musste alles mühsam lernen. Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich bis heute noch nicht viel von Holz und verlasse mich voll und ganz auf meine Mitarbeiter, die teilweise schon Jahrzehnte hier arbeiten, ohne sie wäre ich verloren oder hätte schon längst alles hingeschmissen. Als der Simon vor einem halben Jahr hier einfach auf der Matte stand und sich beworben hat, dachte ich, den schickt der Himmel. Er hat mir geduldig Nachhilfe in Büroarbeiten gegeben, da habe ich immer noch ganz schöne Defizite. Ich habe den Beruf nun mal nicht gelernt, ich bin gelernte Floristin und hatte noch nie viel für Büroarbeiten übrig.“

 

„Warum haben Sie den Betrieb nicht einfach verkauft?“

„Weil er zum einen nicht viel wert ist, und zum anderen habe ich eine Verantwortung meinen Mitarbeitern gegenüber. Was wird aus denen? Einige sind schon weit über Fünfzig, die stehen doch auf der Straße. Einer hat keinen Schulabschluss und ist auch nicht gerade der Hellste, aber er ist fleißig und zuverlässig; was wird aus ihm? Nein, zu verkaufen wäre zu einfach. Man übernimmt mit so einem Betrieb nicht nur die Möglichkeit, damit Geld zu verdienen. Man hat auch eine Verantwortung, der ich mich nicht entziehen kann und auch nicht möchte. Wissen Sie, ich möchte morgens in den Spiegel sehen können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Natürlich würde ich meinen Leuten gerne zumindest den Tariflohn bezahlen, aber ich kann es nicht, sonst müsste ich Mitarbeiter entlassen und würde dann auch nicht mehr den Umsatz erzielen. Wer macht denn dann die Arbeit? Ich weiß, dass das mit den Arbeitsverträgen illegal ist, aber wir sind bis jetzt ganz gut damit gefahren und alle waren glücklich.“

Obwohl das Ganze tatsächlich illegal war und zur Anzeige gebracht werden musste, hatte Leo ein wenig Verständnis für sie und ihre Lage.

„Wir werden das prüfen,“ sagte Leo nur knapp und griff seiner Kollegin vor, die gerade Luft holte. Leo war sich sicher, dass sie gerade zu einer Standpauke ansetzen wollte, und das brachte jetzt auch nichts.

„Trotzdem werden wir die Akte mitnehmen. Gibt es bei Ihnen auf dem Firmengelände Überwachungskameras?“

„Nein. Wie gesagt, ist hier noch nie etwas wegekommen, wir leben auf dem Land und wir vertrauen einander. Früher hatten wir über Nacht einen Hund auf dem Gelände, aber der war so brav und ängstlich, der hätte niemandem etwas getan. Nach seinem Tod wollte ich mir keinen neuen mehr anschaffen, ich habe auch so schon genug Arbeit. Außerdem halte ich für die Lkw-Anlieferungen und auch für meine Männer das Firmengelände Tag und Nacht offen.“

„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, hier ist meine Karte.“

„Sie haben sich von der Frau einfach um den Finger wickeln lassen. Wo gibt es denn so was, dass man vor unseren Augen die Personalakte frisiert? Glauben Sie wirklich, dass es der Firma nicht gut geht? Ich kann mir das nicht vorstellen. Wenn ich im Baumarkt ein Brett kaufe, kostet das ein Vermögen, bei Holz ist die Gewinnspanne enorm. Ich kenne diese Sorte Menschen, die den ganzen Tag über nur am Jammern sind und dabei jede Menge Geld scheffeln.“

Leo ließ sie reden, ging nicht darauf ein und hörte irgendwann auch nicht mehr zu. Er würde die Angaben von Frau Krug prüfen und war sich sicher, dass sie ihnen gegenüber ehrlich war. Was wussten sie als Beamte schon von den wirtschaftlichen Problemen von Unternehmen?

Die Mittagspause verbrachte Leo mit Hiebler allein, da Frau Westenhuber joggen war und Grössert etwas anderes vorhatte.

„Was ist eigentlich mit Werner los? Einerseits grinst er immer wieder vor sich hin, andererseits ist er völlig in Gedanken versunken,“ sagte Leo, als er in die fade Lasagne gabelte. „Mit dem stimmt doch etwas nicht.“

„Ist mir auch schon aufgefallen,“ sagte Hiebler mit vollem Mund, vor dem ein phantastisch duftendes Gulasch stand und er damit die deutlich bessere Wahl getroffen hatte. „Sollen wir mit ihm reden?“

„Nein. Der erzählt nicht viel von sich und würde es uns übel nehmen, wenn wir ihn darauf ansprechen.“

„Trotzdem interessiert es mich brennend, was ihn beschäftigt. Ich gebe ihm noch zwei Tage, dann werde ich mich an seine Fersen heften. Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht rausbekomme, was mit ihm los ist.“ Hans Hiebler kannte seinen Kollegen Grössert schon viele Jahre und mochte ihn sehr. Er benahm sich anders als sonst. Hiebler machte sich Sorgen.

Frau Gutbrod saß nicht weit entfernt, ein dicker Kollege versperrte ihr zwar die Sicht, aber sie konnte die Unterhaltung klar und deutlich verfolgen. Sehr interessant, mit Werner Grössert war scheinbar etwas los und die Kollegen Schwartz und Hiebler interessierten sich dafür und machten sich Sorgen. Sie musste unbedingt helfen, denn Hans Hiebler war es zu verdanken, dass ihre Nichte Karin die letzten Wochen eisern Fahrstunden bekam und dadurch nicht nur vorsichtiger, sondern auch viel sicherer fuhr. Schon lange suchte sie nach einer Möglichkeit, wie sie sich bei Hans Hiebler für seine aufopfernde Hilfe revanchieren konnte. Und voilà: Hier bekam sie diese auf dem Silbertablett.

Sie aß auf und machte sich umgehend an die Arbeit, Grössert durfte sie fortan nicht mehr aus den Augen lassen! Sie würde binnen kürzester Zeit herausbekommen, was mit ihm los war und dann Hans Hiebler informieren.