Furchtbare Juristen

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Die Justiz und die nationalsozialistische Bewegung

Gelegenheit, ihre Sympathie für die noch junge NSDAP unter Beweis zu stellen, hatte die Justiz erstmals im Prozess gegen Hitler und acht weitere Nationalsozialisten nach dem Putsch­versuch vom 8./9. November 1923. Das Jahr 1923 war wohl das turbulenteste der Weimarer Zeit. Die Inflation hatte ihren Höhepunkt erreicht, Frankreich war im Ruhrgebiet einmarschiert, nationale Kreise leisteten dort den Besatzungstruppen erbitterten Widerstand, in den Ländern Sachsen und Thüringen waren Sozialdemokraten Koalitionsregierungen mit Kommunis­ten eingegangen, in Küstrin putschte die sogenannte Schwarze Reichswehr, in Bayern planten rechtsradikale Organisationen – SA, Bund Oberland und Reichskriegsflagge – den Marsch nach Berlin, um die Regierung abzusetzen. Das Land Bayern verkündete den Ausnahmezustand, und da bei dem als Generalstaatskommissar eingesetzten Gustav von Kahr, einem monarchistischen bayerischen Separatisten, die Gefahr bestand, dass Bayern sich vom Reich lossagte, erklärte Reichskanzler Stresemann den Ausnahmezustand für die ganze Republik. Kahr weigerte sich jedoch, seine Vollmachten auf den Wehrkreis-Befehlshaber von Bayern, General von Lossow, zu übertragen, und verpflichtete die im Land stationierten Reichswehrtruppen auf die bayerische Regierung. Er war entschlossen, Truppen nach Berlin zu schicken und vorher in Sachsen und Thüringen einzumarschieren, um die dortigen sozialdemokratisch geführten Volksfrontregierungen abzusetzen. Nachdem jedoch schon die Reichswehr auf Befehl der Reichsregierung in Sachsen und Thüringen einmarschiert war und die Regierungen abgesetzt hatte, gab Kahr seinen Putschplan auf. Damit waren die rechtsradikalen Organisationen und vor allem der damals in München aktive Adolf Hitler nicht einverstanden. Er drang am 8. November, als Kahr im Bürgerbräukeller eine Rede hielt, mit einem bewaffneten Haufen in die Versammlung ein, schoss in die Decke und erklärte kurzerhand in einem Zuge die bayerische Staatsregierung, die Reichsregierung und den Reichspräsidenten Ebert für abgesetzt. Die im Saal anwesende Spitze der bayerischen Exekutive ging zunächst auf Hitlers Forderungen ein, gab jedoch nach Verlassen des Lokals Befehl, den Aufstand niederzuschlagen. Am 9. November wurde ein von den rechtsradikalen Organisationen veranstalteter Marsch auf die Feldherrnhalle gestoppt.44 Hitler und acht seiner Kumpane wurden verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Die am 24. Februar 1924 eröffnete Hauptverhandlung fand vor dem Münchner Volksgericht statt. Ihr war eine Machtprobe zwischen dem Reich und dem Freistaat Bayern um die Zuständigkeit vorausgegangen, gesetzlich zuständig für Strafverfahren wegen Hochverrats war nämlich der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik in Leipzig. Die bayerische Regierung wollte den Prozess jedoch in München stattfinden lassen und erklärte sich für den Fall, dass man das Verfahren dem Freistaat übertrage, sogar bereit, nach diesem Prozess die verfassungswidrigen Volksgerichte aufzulösen.45 Die Verhandlung vor dem Münchner Volksgericht war eine einzige rechtsradikale Machtdemonstration. Die Reichsregierung wurde ohne nennenswerte Rüge des Gerichts »Judenregierung«, ihre Mitglieder »Novemberverbrecher« genannt, die Angeklagten sprachen davon, dass in Berlin alles »ver-Ebert und versaut« sei, und der Reichspräsident wurde als »Matratzeningenieur« verhöhnt. Der mitangeklagte Rat am Bayerischen Obersten Landesgericht und ehemalige Polizeipräsident von München, Ernst Pöhner, sagte in der Verhandlung ganz unverblümt: »Wenn das, was Sie mir da vorwerfen, Hochverrat ist – das Geschäft betreibe ich schon seit fünf Jahren.«46

Das Urteil vom 1. April 1924 bescheinigte sämtlichen Angeklagten, dass sie »bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet waren«, und fuhr fort: »Alle Angeklagten ... glaubten, nach bestem Wissen und Gewissen, dass sie zur Rettung des Vaterlandes handeln müssten ... Seit Monaten, Jahren waren sie darauf eingestellt, dass der Hochverrat von 1918 durch eine befreiende Tat wieder wettgemacht werden müsste.« Das Gericht verzichtete daher darauf, ihnen die bürgerlichen Ehrenrechte zu entziehen, und verurteilte Hitler und seine Mitstreiter Pohner, Kriebel und Weber zu der Mindeststrafe von 5 Jahren Festungshaft (»die an sich schon vom Gesetze sehr reichlich bemessene mindeste Strafgrenze ... bleibt eine ausreichende Sühne ihres Verbrechens«) sowie zu einer lächerlichen Geldstrafe von 200 Reichsmark. Der einschlägige § 9 des Republikschutzgesetzes lautete nämlich: »Neben jeder Verurteilung wegen Hochverrats ... ist auf Geldstrafe zu erkennen. Die Höhe der Geldstrafe ist nicht beschränkt.« Und außerdem: »Gegen Ausländer ist auf Ausweisung aus dem Reichsgebiet zu erkennen. Zuwiderhandlungen gegen diese Anordnung werden mit Gefängnis bestraft.«

In dem Urteil wurde Hitler auch gleich in Aussicht gestellt, dass nach der Verbüßung eines Strafteils von 6 Monaten die restlichen 4,5 Jahre zur Bewährung ausgesetzt würden. Dabei hätte das Gericht, da der Nazi-Führer bereits wegen Landfriedensbruchs zu einer Bewährungsstrafe verurteilt war, deren Bewährungszeit noch andauerte, nach dem Gesetz diese widerrufen und eine vollständig abzusitzende Haftstrafe aussprechen müssen. Von der oben zitierten zwingend vorgeschriebenen Ab­schiebung des Ausländers Hitler sah das Gericht ausdrücklich ab, denn »auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler ..., kann nach Auffassung des Gerichts die Vorschrift ... ihrem Sinn und ihrer Zweckbestimmung nach keine Anwendung finden«.

Weitere fünf Angeklagte, darunter der spätere SA-Stabschef Ernst Röhm und der spätere Reichsinnenminister Wilhelm Frick, kamen mit je 15 Monaten Festungshaft und 100 Reichsmark Geldstrafe davon. Der vom Gericht stets mit militärischer Hochachtung als »Exzellenz« angesprochene General Ludendorff wurde freigesprochen; man glaubte ihm erneut, dass er – wie auch schon beim Kapp-Putsch – in voller Uniform »rein zufällig am Ort des Geschehens weilte«.47

Wie komfortabel Hitler und seine Parteigenossen die 6 Monate Festungshaft auf der einst für den Eisner-Mörder Graf Arco-Valley herrschaftlich hergerichteten Festung Landsberg verbrachten, beschreibt der englische Historiker Alan Bullock besonders plastisch: »Es gab gute Verpflegung – Hitler wurde im Gefängnis ziemlich dick –, und sie durften so viel Besuch empfangen, wie sie wollten ... Hitlers Bursche war Emil Maurice, der gleichzeitig auch den Sekretär machte, diesen Posten aber später an Rudolf Heß abtrat. Heß war freiwillig aus Österreich zurückgekehrt, um mit seinem Führer die Gefängnishaft zu teilen ... An Hitlers 35. Geburtstag, kurz nach dem Prozess, füllten die Pakete und Blumen, die ihm zugeschickt worden waren, mehrere Räume. Neben den vielen Besuchen, die er empfing, führte Hitler eine umfangreiche Korrespondenz und las so viele Zeitungen und Bücher, wie er nur wollte. Er präsidierte beim Mittagessen und beanspruchte und erhielt den Respekt, der ihm als dem Führer der Partei gebührte.«48

Auch in der Folgezeit nahmen die Gerichte in einer Vielzahl von Prozessen teils offen, teils schamhaft hinter juristischen Konstruktionen versteckt, Partei für die Nazis im innenpolitischen Kampf. Ein Verfahren gegen den nationalsozialistischen General Litzmann beispielsweise, der am 27. Mai 1930 in einer öffentlichen Versammlung in Dresden – auf den Versailler Vertrag bezogen – gerufen hatte: »Leider fehlen uns die Femerichter, um die Unterschreiber dieses Vertrages unschädlich zu machen«, wurde eingestellt, weil man Litzmanns Einlassung glaubte, er habe sich versprochen und sagen wollen, nur die »Unterschriften« sollten unschädlich gemacht werden.49

Im Untersuchungsverfahren gegen die umstürzlerische Organisation Consul behauptete der Reichsanwalt Niethammer, obwohl bereits zahlreiche Fememorde rechtsradikaler Vereinigungen bekannt geworden waren, der Aufruf »Verräter verfallen der Feme« meine nur die »gesellschaftliche Ächtung«.50 Ein Münchner Arbeiter dagegen, der bei einer Demonstration ein Schild mit der Aufschrift »Arbeiter, sprengt eure Ketten!« getragen hatte, erhielt 5 Monate Gefängnis wegen »Aufreizung zum Klassenhass«.51 Den nationalsozialistischen Gauleiter Kremser, der den Aufruf des Reichspräsidenten anlässlich der Unterzeichnung des Young-Plans als »ebenso lügenhaft« bezeichnet hatte »wie den der Volksbeauftragten«, sprach das Amtsgericht Glogau frei, da die Revolution von 1918 »Meineid und Hochverrat« gewesen sei.52 Der Gauredner Dr. Goebbels, der die Mitglieder der Reichsregierung »Verräter am Volk«, »bezahlte Büttel der Weltfinanz« und »Überläufer nach Frankreich« genannt hatte, wurde im August 1932 vom Schöffengericht Charlottenburg ebenfalls freigesprochen, und vom Schöffengericht Hannover war ihm bereits 1930 die »Wahrnehmung berechtigter Interessen« zugebilligt worden, als er dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun Korruption vorgeworfen hatte.53

Auch bei Zusammenstößen der Nazi-Truppen mit Republikanern ergriff die Justiz eindeutig Partei. Nach einem Überfall der SA auf Mitglieder der Eisernen Front in Alfeld beispielsweise verurteilte die Große Strafkammer des Landesgerichts Hildesheim die Nationalsozialisten zu Gefängnis zwischen 6 und 8 Monaten, die angegriffenen Sozialdemokraten, die sich gewehrt hatten, dagegen zu Strafen zwischen 12 und 24 Monaten, einen sogar zu Zuchthaus.54

Doch nicht nur die Privilegierung rechtsradikaler und die Verfolgung kommunistischer und republikanischer Angeklagter zeichnete die Justiz der Weimarer Zeit aus. Vereinzelt zwar, aber unübersehbar war die antisemitische Hetze in Urteilen verschiedener Gerichte bis hinauf zum Reichsgericht. Dabei mischte sich zumeist Antisemitismus mit Republikfeindlichkeit, wie es sich in dem berüchtigten Kampfausdruck »Judenrepublik« niederschlug. Die Passage des Liedes der Brigade Erhardt: »Wir brauchen keine Judenrepublik, pfui Judenrepublik!« war in rechtsradikalen Kreisen so populär, dass sie Anlass zu unzähligen Strafverfahren wurde, denn nach dem Republikschutzgesetz vom 21. Juli 1922 war mit Gefängnis zu bestrafen, »wer öffentlich die verfassungsmäßig festgestellte Staatsform des Reiches beschimpft«.55 Aber nachdem einige Untergerichte den Ausdruck »Judenrepublik, pfui Judenrepublik!« als Vergehen gegen das Republikschutzgesetz eingestuft hatten, hob das Reichsgericht am 22. Juni 1923 die Verurteilungen mit einer subtilen republik- und judenfeindlichen Begründung auf: »Der Ausdruck ›Judenrepublik‹ kann in verschiedenem Sinne gebraucht werden. Er kann die besondere Form der demokratischen Republik bezeichnen, welche durch die Weimarer Nationalversammlung ›verfassungsmäßig festgestellt‹ ist; er kann auch die gesamte Staatsform umfassen, die in Deutschland seit dem gewaltsamen Umsturz im November 1918 bestanden hat. Gemeint kann sein die neue Rechts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland, die unter hervorragender Beteiligung deutscher und ausländischer Juden ausgerichtet wurde. Gemeint kann auch sein die übermäßige Macht und der übermäßige Einfluss, den die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung kleine Anzahl der Juden nach Ansicht weiter Volkskreise in Deutschland tatsächlich ausübt. In welchem Sinne die Angeklagten den Ausdruck ›Judenrepublik‹ gebraucht haben, ist nicht näher dargelegt. Es ist nicht einmal ausdrücklich festgestellt, dass die Angeklagten die verfassungsmäßig festgestellte Staatsform des Reiches beschimpft haben, sondern nur, dass sie die gegenwärtige Staatsform des Reiches beschimpft haben«.56

 

Noch deutlichere Worte als das höchste Gericht der Republik fand der Wernigeroder Amtsrichter Dr. Beinert, der am 6. März 1924 einem deutschvölkischen Redakteur der Wernigeroder Zeitung und seinen Kumpanen entschuldigend ins Urteil schrieb: »Das deutsche Volk erkennt mehr und mehr, dass das Judentum schwerste Schuld an unserem Unglück trage. An einen Aufstieg unseres Volkes ist nicht zu denken, wenn wir nicht die Macht des Judentums brechen ... Die Gedanken, welche die Angeklagten vortrugen, stellten keine Gefährdung unserer öffentlichen Ruhe dar, nein, sogar die Besten unseres Volkes teilen diese Auffassungen.«57 Das Schöffengericht Halle billigte dem deutschnationalen Politiker Elze, der den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun als »schamlosen Judas Ischariot« bezeichnet und ihm einen »Abgrund von Gesinnungslosigkeit« vorgeworfen hatte, die »Wahrnehmung berechtigter Interessen« zu und sprach ihn frei,58 und Anfang Februar 1930 sah schließlich auch das Reichsgericht in der Behauptung »Der Jude Rathenau ist ein Verräter« keine Beleidigung mehr.59

Nachdem ein Berliner Hauswirt namens Nordheimer von einem seiner Mieter, einem Ausländer, mehrmals als »deutsches Schwein« beschimpft worden war, kündigte er ihm und strengte Räumungsklage an; das Amtsgericht Berlin-Mitte wies die Klage jedoch mit der verblüffenden Begründung ab: »Der Kläger ist unbeschadet seiner deutschen Staatsangehörigkeit nicht die Persönlichkeit, die der Sprachgebrauch des Volkes zu den Deutschen zählt.«60 Führenden Repräsentanten der »Judenrepublik«, die bevorzugte Ziele nationalsozialistischer Hetze waren, verweigerten die Gerichte den Ehrenschutz, wobei die Urteile oft schlimmere Beleidigungen waren als die ihnen zugrundeliegenden Äußerungen. Der NS-Gauredner Bernhard Fischer zum Beispiel hatte in einer öffentlichen Versammlung behauptet: »Der (Berliner) Polizeipräsident Grzesinski ist ein Judenbastard. Er ist von einem Dienstmädchen unehelich geboren, das bei einem Juden gedient hat. In jedes Menschen Gesicht steht seine Geschichte.« Fischer wurde zunächst wegen Beleidigung verurteilt, in der Berufungsverhandlung vom Landgericht Neuruppin aber am 1. September 1932 freigesprochen. Das Gericht räumte zwar ein, »dass die Art und Weise, in der der Angeklagte über den Polizeipräsidenten hergezogen ist, die Grenze des im politischen Parteikampf Erträglichen« bilde, konnte jedoch »in der Behauptung, jemand sei außerehelicher, jüdischer Herkunft, nicht die Kundgebung einer Missachtung erblicken«.61

Ein letzter großer Prozess gegen nationalsozialistische Hochverräter vor dem für politische Strafsachen zuständigen 4. Strafsenat des Reichsgerichts räumte eventuell noch bestehende Zweifel über die Haltung der Justiz zur NS-Bewegung endgültig aus. Vom 23. September bis 4. Oktober 1930 hatte das Reichsgericht gegen die drei Ulmer Reichswehroffiziere Scheringer, Ludin und Wendt zu verhandeln, die in verschiedenen Garnisonsorten versucht hatten, nationalsozialistische Zellen zu bilden, um die Reichswehr zu beeinflussen, im Falle eines neuerlichen Putschversuches der Nazis auf diese nicht zu schießen, sondern »Gewehr bei Fuß« zu stehen und notfalls für sie Partei zu ergreifen. Große Publizität bekam der Prozess dadurch, dass das Gericht Adolf Hitler als einzigen der Zeugen zu der Frage vernahm, ob die NSDAP eine umstürzlerische Partei sei. Hitler erhielt dadurch die Gelegenheit, eine zweistündige Propagandarede vor dem Reichsgericht zu halten. Er durfte sogar, obwohl gegen ihn selbst ebenfalls ein Hochverratsverfahren wegen Nazi-Propaganda in der Reichswehr schwebte, seine Aussagen beschwören und damit so etwas wie einen mittelalterlichen »Reinigungseid« leisten.

Als Staatssekretär Zweigert vom Reichsinnenministerium eine Denkschrift vorlegen wollte, die verschiedene Verbrechen und Umsturzpläne der Nationalsozialisten eindeutig belegte, lehnte der Senat das Beweismittel ab, »da diese Frage [zu deren Beantwortung man Hitler geladen hatte] für die Urteilsfindung in dem vorliegenden Fall nicht von entscheidender Bedeutung« sei. Hitlers zwei Stunden dauernde Polemik gegen die Demokratie blieb, obwohl nach dem Republikschutzgesetz strafbar, unbeanstandet; er konnte sogar offen androhen: »Wenn unsere Bewegung siegt, dann wird ein neuer Staatsgerichtshof zusammentreten, und vor diesem soll dann das Novemberverbrechen von 1918 seine Sühne finden, dann allerdings werden auch Köpfe in den Sand rollen.«62

Das Reichsgericht bemühte sich im Urteil, eilfertig zu interpretieren, Hitler habe »dabei den nationalsozialistischen Staats­gerichtshof im Auge gehabt, der nach Erringung der Gewalt auf legalem Wege seines Amtes walten« werde. Diese »Legali­tät«, die Hitler »mit unzweideutigen Worten« garantiert habe, schien dem Reichsgericht durchaus glaubwürdig, »weil er bei dem wachsenden Verständnis, das Deutschland der völkischen Freiheitsbewegung entgegenbringt, ein illegales Vorgehen gar nicht nötig« hatte. In völligem Gegensatz zur sonstigen Ge­pflo­genheit des Reichsgerichts, seine Urteile so trocken und nüch­tern wie nur irgend möglich abzufassen, verfiel es bei der Dar­stellung von Hitlers Auftritt in offene Schwärmerei:

»Die Wogen des stürmischen Empfanges, der Hitler auf dem Reichsgerichtsplatz bereitet wurde, schlugen bis in den Gerichtssaal. Ein großer Teil der Presse und der Öffentlichkeit nahm in leidenschaftlicher Weise für die Angeklagten Stellung, die doch Kameraden der Zeugen waren und mit deren Anschauungen die Zeugen in vielen Punkten einig gingen. Der große [Reichstags-]Wahlerfolg der Nationalsozialisten, der kurz vor Beginn der Hauptverhandlung errungen war, beeinflusste die Beurteilung der Angeklagten durch Prozessbeteiligte und Publikum in einem den Angeklagten günstigen Sinne.«63

So war es nicht weiter verwunderlich, dass die drei nationalsozialistischen Hochverräter zu milden 18 Monaten Festungshaft verurteilt wurden, nicht ohne vom Reichsgericht »gute Absichten«, »tadellose Vergangenheit«, »gute Eigenschaften« und »edle Motive« bescheinigt zu bekommen.64

Wie die von Hitler beschworene und vom Reichsgericht so gern geglaubte »Legalität« aussah, belegte eine im Herbst 1931 erschienene sozialdemokratische Denkschrift, die den Legalitätseid des Nazi-Führers als glatten Meineid entlarvte. Sie dokumentierte allein für die Jahre 1930/31 exakt 1184 von Nationalsozialisten begangene Gewalttaten mit 62 Todesopfern und 3209 Verletzten, außerdem 42 Versammlungssprengungen, 26 Überfälle auf Gewerkschaftshäuser sowie eine große Anzahl von Friedhofsschändungen.65 Doch die Justiz weigerte sich weiterhin, den gewalttätigen Charakter der NS-Bewegung zur Kenntnis zu nehmen. Im November 1931, nach den hessischen Landtagswahlen, fiel der Polizei sogar eine komplette Sammlung detaillierter Pläne für einen neuerlichen nationalsozialistischen Umsturzversuch in die Hände. Diese sogenannten Boxheimer Dokumente zeigten, dass die Nazis aus den Fehlschlägen früherer Putschversuche gelernt hatten. Die Papiere sahen die Übernahme der gesamten Staatsgewalt durch die SA, die Todesstrafe für Streikende und Personen, die sich SA-Wei­sun­gen widersetzten, die Verfügung der SA über alle Privatvermögen, die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht vom 16. Lebensjahr an und zahlreiche andere Verfassungsverstöße vor. Als Autor der Staatsstreichpläne bekannte sich der hessische Gerichtsassessor Dr. Werner Best. Hitler gab vor, die Dokumente nicht zu kennen. Noch vor Einleitung eines Verfahrens erklärte der oberste Ankläger der Republik, Oberreichs­anwalt Karl Werner, es sei überhaupt zweifelhaft, ob der Tatbestand des Hochverrats gegeben sei, weil die Pläne die nationalsozialistische Machtergreifung nur nach einem kommunistischen Aufstand vorsähen.66 Das Untersuchungsverfahren wurde hingezogen, und mit Beschluss vom 12. Oktober 1932 setzte der 4. Strafsenat des Reichsgerichts Dr. Best »aus Gründen mangelnden Beweises hinsichtlich der Anschuldigung des Hochverrats außer Verfolgung«.67 Der nur vorübergehend vom Dienst suspendierte Gerichtsassessor wurde nicht einmal aus dem Richterdienst entlassen. (Im Dritten Reich rückte er zum Justitiar der Gestapo und später zum Reichsbevollmächtigten im besetzten Dänemark auf.)

Der Niedergang des Rechts

Die Forderung und Begünstigung »national« gesonnener Straf­täter war politisch verhängnisvoll, sie ermutigte rechtsradikale Umstürzler und verunsicherte republikanische Kreise. Noch folgenreicher war jedoch die damit verbundene Erosion des Rechts.

Nach dem Versailler Friedensvertrag, der als sogenanntes Gesetz über den Friedensschluss deutsches Reichsgesetz war und im Rang sogar noch über der Verfassung stand, war Deutschland rigorosen Rüstungsbeschränkungen unterworfen. Das Gesetz enthielt genaue Vorschriften über Stärke, Ausrüstung und Ausbildung der auf 100.000 Mann limitierten Reichswehr.68 Die »neue alte Armee« (Seeckt) nutzte aber jede Möglichkeit, sich zu verstärken, um das »Versailler Schanddiktat« eventuell militärisch zu revidieren. Sie stellte illegale Verbände auf (die bereits erwähnte Schwarze Reichswehr), zog sogenannte Zeitfreiwillige zu Manövern und Wehrübungen ein, unterhielt geheime Waffenlager und baute sogar illegal eine Luftwaffe auf. Bei all diesen Aktivitäten ging die Reichswehr ausgesprochen konspirativ vor. Um sich gegen den »Verrat« des verbotenen Treibens an die Interalliierte Militärkommission, das Kontrollorgan der Siegermächte, zu schützen, wurden mutmaßliche Informanten ermordet. Die deutschen Behörden, die über die gesetzwidrige Aufrüstung wohlinformiert waren, deckten soweit irgend möglich diese Fememorde. Dennoch ließ es sich nicht verhindern, dass einige der Morde bekannt wurden und Gerichtsverfahren eingeleitet werden mussten. Die Verteidigung der Mörder – von denen etliche später im Dritten Reich große Karrieren machten – plädierte regelmäßig auf Freispruch, da die Täter »in Notwehr« gehandelt hatten, stellvertretend für den Staat, dem durch das Gesetz die Hände gebunden seien.

Diese Konstruktion der rechtfertigenden »Staatsnotwehr« oder des »Staatsnotstandes« – nach dem Urteil des renommierten republikanischen Staatsrechtslehrers Georg Jellinek »nur ein anderer Ausdruck für den Satz, dass Macht vor Recht geht«69 – übernahmen die Gerichte bis hinauf zum Reichsgericht, das jedenfalls prinzipiell anerkannte, dass vermeintliche Staatsnot Gesetzesbrüche rechtfertigen könne. Dabei hatte die Justiz schon selbst dafür gesorgt, dass die Grundlage solcher Rechtfertigung gar nicht bestand und dem Staat bei Bekanntwerden der illegalen Reichswehrmachenschaften keineswegs die Hände gebunden waren. Die Gerichte jener Zeit führten Tausende von Landesverratsverfahren gegen Pazifisten und Republikaner durch, die die Rechtsbrüche bekannt gemacht hatten. In jedem Jahr der Republik wurden doppelt so viele Personen wegen Landesverrats verurteilt wie in den 32 Vorkriegsjahren zusammen.70 Die ebenso simple wie arrogante Argumentation, die diesen Verurteilungen zugrunde lag, charakterisierte treffend der Justizkritiker Emil Julius Gumbel: »1. Eine Schwarze Reichswehr hat nie existiert. 2. Sie ist längst aufgelöst. 3. Wer von ihr redet, begeht Landesverrat.«71 Opfer dieser Justiz wurden nahezu alle prominenten deutschen Pazifisten, darunter die beiden Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde und Carl von Ossietzky.

 

Auf die politischen Folgen solcher Rechtsprechung hatte die SPD schon 1924 hingewiesen. Ihre Reichstagsfraktion beschwor in einer Interpellation die Regierung, »dass diese Recht­sprechung eine Gefahr für die Republik bedeutet, insofern sie Organisationen, die staatsfeindlich und monarchistisch sind, die Möglichkeit der Waffenrüstung gewährt, ohne der republikanischen Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, sich dagegen zu wehren oder auf Einhaltung von Recht und Gesetz zu bestehen«.72 Noch verderblichere Wirkung hatte aber die damit betriebene Zerstörung der Rechtsgrundlagen des Staates. Der Frankfurter Rechtsprofessor Hugo Sinzheimer hatte sich anlässlich der reichsgerichtlichen Anerkennung der Staatsnotwehr als Rechtfertigung für einen Mord zu Recht über die »prin­zipielle Ungeheuerlichkeit, die dieses Urteil gewagt hat«, erregt: »Ein solcher Richterspruch erschüttert nicht die Rechtsordnung, zu deren Schutz er berufen ist. Er löst sie auf.«73

Das ganze Ausmaß der vom Reichsgericht betriebenen Auflösung der Rechtsordnung wird erst klar, wenn man die Fememordurteile im Zusammenhang mit den Landesverratsurteilen gegen pazifistische Journalisten sieht. Mit dem ihm eigenen Sinn für Zusammenhänge hat das Reichsgericht im 62. Band seiner amtlichen Entscheidungssammlung unmittelbar hinter einem Urteil, in dem die Staatsnotwehr erneut als Rechtfertigungsgrund für ein Verbrechen anerkannt wird,74 das »Ponton-Urteil« gegen die Journalisten Berthold Jacob und Fritz Küster veröffentlicht. Das Gericht hatte die beiden wegen des in dem pazifistischen Journal Das andere Deutschland erschienenen Artikels »Das Zeitfreiwilligengrab in der Weser« als Landesverräter verurteilt: Am 31. März 1925 waren anlässlich eines Reichswehrmanövers 81 Soldaten nahe Veltheim an der Porta Westfalica beim Übersetzen über die Weser ertrunken. Aus der Tatsache, dass für verschiedene Opfer dieses Unglücks in den Zeitschriften Der Jungdeutsche und Wiking Todesanzeigen erschienen waren, die jedoch keine militärischen Dienstränge, sondern nur zivile Berufe nannten, hatte Jacob geschlossen, dass unter den Ertrunkenen mindestens 11 Zeitfreiwillige gewesen seien. Diese Tatsache stand im Widerspruch zu den öffentlichen Beteuerungen von Reichswehrminister Geßler und Reichskanzler Luther, es gebe keine Zeitfreiwilligen. Aufgrund dreier Gutachten des Reichswehrministeriums über die Geheimhaltungsbedürftigkeit der recherchierten Tatsachen wurden Küster als Autor und Jacob als verantwortlicher Redakteur am 14. März 1928 zu je 9 Monaten Festungshaft verurteilt. Die entscheidenden, später so oft zitierten Sätze des Urteils lauteten: »Dem eigenen Staate hat jeder Staatsbürger die Treue zu halten. Das Wohl des eigenen Staates wahrzunehmen, ist für ihn höchstes Gebot, Interessen eines fremden Landes kommen für ihn demgegenüber nicht in Betracht. Auf die Beobachtung und Durchführung der bestehenden Gesetze hinzuwirken, kann nur durch Inanspruchnahme der hierzu berufenen innerstaatlichen Organe geschehen.«75

Wie weit das Reichsgericht mit der fatalen Botschaft, das (vermeintliche) Interesse des Staates stehe über dem Recht, und daher seien selbst schwerste Verbrechen nicht strafbar, wenn sie im Interesse des Staates begangen wurden, während andererseits gesetzmäßiges Handeln zu bestrafen sei, wenn es dem Staatsinteresse zuwiderlaufe, der völligen Pervertierung des Rechts vorgegriffen hat, erkannten hellsichtige Kritiker schon damals. Thomas Mann meinte, derlei Rechtskonstruktionen solle man »der faschistischen Diktatur vorbehalten«,76 und der Rechtsprofessor Gustav Radbruch hatte bereits 1929 gewarnt, man könne mit Hilfe der Staatsnotstands-Konstruktion »auch faschistische Aktivisten rechtfertigen, die es etwa unternahmen, den Staat aus dem permanenten Notstand seiner ›demoliberalen‹ Verfassung gewaltsam zu retten«.77 In der Tat war das letzte Kapitel von Hitlers Buch Mein Kampf mit »Notwehr als Recht« überschrieben, und das von Carl Schmitt als »vorläufige Verfassungsurkunde des Dritten Reichs«78 bezeichnete Ermächtigungsgesetz hieß mit vollem Namen: Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. Überhaupt rückte der Staatsnotstand in der NS-Zeit zur alles rechtfertigenden Rechtskonstruktion auf. Dabei wurde immer wieder das »Ponton-Urteil« des Reichsgerichts als »mutiger Schritt« gelobt, der dazu beigetragen habe, »entgegen den Buchstaben der Verfassung dem neuen Staatsgedanken zum Siege zu verhelfen«.79 Der oberste Rechtsgrundsatz der Nazi-Diktatur – »Recht ist, was dem Volke nützt« – war schon fünf Jahre vor der Machtergreifung höchstrichterliche Rechtsprechung geworden, und nationalsozialistische Rechtstheoretiker verwiesen später gern darauf, welch entscheidenden Beitrag das altehrwürdige Reichsgericht zur »Schaffung des neuen Rechts, für das allein der Bestand und die Sicherung des deutschen Volkes den Maßstab bilden«, geleistet hatte.80