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Es ist anzunehmen, daß die Abneigung, welche die beiden Vettern füreinander empfanden, auf beiden Seiten gleich stark gewesen ist. Heinrich, schon als junger Mensch eher schwächlich, sensibel, musikalisch, Hans, dessen politische Karriere mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich begann, da war kein Raum für ein längeres Gespräch, da konnte man sich auch aus Gründen verwandtschaftlicher Beziehung nicht füreinander erwärmen. Kaum denkbar jedenfalls, daß sich Heinrich, wäre der andere in seiner Situation gewesen, ähnlich verhalten hätte, wie Hans sich verhielt.

Ich, Anna, versuche mir vorzustellen, wie die von der Mutter mehrfach geschilderte Begegnung der Vettern damals, im Herbst 1945, verlaufen ist.

Ein Wagen mit niederösterreichischer Nummer hielt vor dem Nachbarhaus, zwei Männer stiegen aus, Valerie, durch das Fenster auf die Straße blickend, konnte gerade noch beobachten, wie sie im Haus verschwanden. Kurz darauf Männer- und Frauenstimmen, die keifende Stimme der Nachbarsfrau, dann wurde nebenan die Haustür geöffnet und wieder zugeschlagen, dann öffnete sich die eigene Haustür, die Zimmertür.

Heinrich, der auf einem der beiden Sessel beim Tisch gesessen war, stand auf, ging einen Schritt auf den Vetter zu, blieb dann stehen, hob zaghaft die Hand, um sie dem Verwandten entgegenzustrecken, ließ die Hand wieder sinken, schien plötzlich noch kleiner, noch schmächtiger unter dem Blick des anderen, der sich von der Türschwelle nicht wegbewegte, ihn nicht grüßte, Valerie überhaupt nicht beachtete, nach einem Blick auf Heinrichs Füße nur einen einzigen Satz sprach: ZIEH SOFORT DIESE SCHUHE AUS!

Kein Zweifel, sagt die Mutter, daß die Nachbarsfrau Hans die Geschichte mit den Schuhen anders berichtet hat, als sie sich zugetragen hat. Kein Zweifel darüber, daß sie, um vielleicht von der eigenen Schuld abzulenken, darauf hingewiesen hat, daß im Nachbarhaus jemand wohne, der ein Paar Schuhe mitgenommen, sich angeeignet habe. Hans jedenfalls sei nur herübergekommen, um diese Schuhe abzuholen.

Die Vettern einander gegenüberstehend. Der eine, der, von einem bestimmten Zeitpunkt an, immer nur die Uniform seiner Partei getragen hatte, EIN VOLK, EIN REICH, EIN FÜHRER, der zu jenen gehört hatte, die an keiner Front gekämpft hatten, bis zuletzt noch Geschichten vom Endsieg erzählten, der auch dann, als seine Sprüche sich nicht erfüllt hatten, durch die Maschen geschlüpft war, vermutlich nach kurzer Haft wieder in Freiheit gesetzt worden war, der nun gekommen war, seine im richtigen Zeitpunkt verlagerten Sachen abzuholen. Der andere, der Uniformen gehaßt hatte, der nur auf zwei Fotografien uniformtragend zu sehen ist: einmal mit großen, erschrockenen Augen im vom Hunger und Malariafieber ausgezehrten, faltig geschrumpften Gesicht als Sanitäter der österreichischen Armee gegen Ende des Ersten Weltkriegs, das andere Mal als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr der jenseits der österreichischen Grenze im Südmährischen gelegenen Kleinstadt B. Heinrich, der schließlich zu seinem Sessel zurückkehrt, sich niedersetzt, mit Fingern, die immer ein wenig gezittert haben, Schuhbänder aufschnürt, die Schuhe auszieht, sie wortlos dem Vetter reicht. Hans, der die Schuhe in Empfang nimmt, sich umdreht, die Zimmertür zuschlägt, grußlos das Haus verläßt.

Heinrich und Valerie, die im Zimmer zurückbleiben, wortlos einander gegenübersitzend, die wenig später, nachdem im Nachbarhaus wiederum laute Stimmen zu hören gewesen sind, vernehmen, wie der Motor des vor dem Haus geparkten Wagens anspringt, wie der Wagen sich entfernt, die dem Motorgeräusch nachhorchen, das sich, immer leiser werdend, schließlich in der Ferne verliert.

Irgend jemand hat dem Doktor, der keine Schuhe hatte, ein Paar alte Gummistiefel gegeben. Sie waren um eine Nummer zu klein. Valerie tauschte sie in der SCHUHUMTAUSCHSTELLE DES FRAUENAKTIONSKOMITEES DER SOZIALISTISCHEN PARTEI MISTELBACHS gegen andere, ebenso alte, jedoch passende Gummistiefel um.

(Hans, sagt die Mutter, ist einer von denen gewesen, die es zu allen Zeiten gegeben hat, die es immer verstanden haben, sich einzurichten, die IMMER DAVONGEKOMMEN SIND. Ein anderer Verwandter Heinrichs, der nur einfaches Mitglied der Partei gewesen war wie viele andere, die gefürchtet hatten, sie würden, wenn sie sich weigerten, ihre berufliche Position, ihre Familie, ihre Kinder gefährden, hat sich, wenige Tage vor dem Ende des Krieges, zusammen mit seiner Frau und seinen fünf Kindern das Leben genommen. DIE KINDER HABEN SIE MITGENOMMEN, sagt die Mutter, sie meint: in den Tod.

Auch Heinrich trug gegen Ende des Krieges immer eine Dosis eines rasch wirkenden Giftes für sich und seine Familie bei sich, die Mutter hat das gewußt, Anni wußte es nicht.)

Oktober: Das ist der Monat, in dem sich das Weinlaub auf den Hügeln rot und gelb zu färben beginnt. Die ledrigen Blätter der Nußbäume trocknen von den Rändern her ein, in den Lindenbäumen leuchtet das erste Hellgelb, die gefiederten Blattrispen der Akazien weinen die ersten gelben Tränen. Die ganze kleine Stadt B. hatte um diese Zeit nach Maische gerochen, die ausgepreßten Traubenbälge waren in braunen Haufen neben den Kellern gelegen, der Most hatte sich milchig verfärbt. In den Hausgärten hatten die Dahlien geblüht. Über den seidenblauen Himmel hatte der Herbstwind in allen Farben leuchtende Wolken getrieben.

Erinnerst du dich, sagt die Mutter, wie schön es um diese Zeit zu Hause gewesen ist. Nun malt sie die Vergangenheit doch in sanften Farben, das Böse, Dunkle spart sie aus. Wie die Maiskolben zu großen Haufen geschichtet in den Vorhäusern der Bauernhöfe gelegen sind, erzählt die Mutter, wie sich die Alten und die Jungen an den Abenden versammelt haben, um die Kolben aus den Blättern zu schälen, wie man einander Geschichten erzählte, Lieder sang, die neuesten Liebesgeschichten besprach. WIE LUSTIG es damals gewesen sei. Die jungen Leute können heute gar nicht mehr richtig lachen, sagt die Mutter. Und sie singen auch nicht mehr. WAS WIR FÜR LIEDER GEKANNT HABEN. Wieso das heute so anders geworden ist?

Anfang Oktober 1945 hatte es in Wien eine Großkundgebung gegeben: GEBT DEN SÜDTIROLERN IHRE ÖSTERREICHISCHE HEIMAT WIEDER! Für alle Personen, die älter als sechs Jahre waren, gab es anstelle von Fleisch zweihundert Gramm Hülsenfrüchte, wobei das Wort GRAMM ausgeschrieben war. Das machen sie, weil es so nach mehr aussieht, sagte Valerie.

Dazu gab es achtzig Gramm Fett, anstelle von Hülsenfrüchten konnte Maisgrieß bezogen werden.

Am 9. Oktober sagte der tschechische Staatspräsident Benesch, er wünsche ENGSTE WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT MIT ÖSTERREICH. Die politische Zusammenarbeit mit diesem Land würde von VIELEN DINGEN abhängen, vor allem von der ANSICHT RUSSLANDS.

Die drei Millionen zählende deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei müsse auf dreihunderttausend Personen reduziert werden. SEIT ICH IN DIE TSCHECHOSLOWAKEI ZURÜCKGEKEHRT BIN, MUSSTE ICH FESTSTELLEN, DASS DIE ANZAHL DER DEUTSCHEN, DEREN LOYALITÄT GEGENÜBER DER TSCHECHOSLOWAKEI, SICH BEWÄHRT HAT, VIEL GERINGER IST, ALS ICH IN LONDON ANGENOMMEN HATTE.

Am 10. Oktober erklärte der Generalstabschef der US-Armee, General George C. Marshall: WIR KÖNNEN SICHER SEIN, DASS DER NÄCHSTE KRIEG NOCH TOTALER GEFÜHRT WERDEN WIRD ALS DIESER!

Am 11. Oktober veröffentlichte die Zeitung WIENER KURIER ein Bild, das die Schauspieler des Theaters in der Josefstadt beim Wegräumen von Bombenschutt zeigt. Jane Tilden hält ihre Schaufel hoch und lacht fröhlich in die Kamera.

In derselben Zeitung eine Notiz: KEIN NAZI MEHR RICHTER IN ÖSTERREICH. (15. März 1938: Der Justizminister hat von Wien aus die sofortige Entlassung aller Gerichtsbeamten, die Juden oder Halbjuden sind, angeordnet und eine Aufnahmesperre für Juden in die Rechtsanwaltschaften und Notariate verfügt. März 1939: AUCH DIE BRÜNNER ADVOKATENKAMMER IST JETZT JUDENREIN!)

In diesem Oktober hatte die Wiener Theatersaison wieder begonnen.

Der dreiundachtzigjährige Gerhart Hauptmann sagte in Agnetendorf zu einem Besucher, er zweifle nicht daran, daß sich Deutschland in fünfzig Jahren wiedergefunden haben würde, aber es müßte dann ein ganz anderes Volk geworden sein als jenes, das blind in die Katastrophe gegangen sei. Der norwegische Dichter Knut Hamsun wurde zur Untersuchung seines Geisteszustandes in eine Nervenklinik in Oslo gebracht.

Am 14. Oktober, einem Sonntag, fand um elf Uhr vormittags in Mistelbach die Enthüllung des Bezirksdenkmals statt, das für die gefallenen Soldaten der Roten Armee errichtet worden war. Es trug in roten Buchstaben die Inschrift: EWIGEN RUHM DEN HELDEN, DIE IN DEN KÄMPFEN FÜR FREIHEIT UND UNABHÄNGIGKEIT UNSERER HEIMAT GEFALLEN SIND.

Es gab eine Ehrenwache, Militär, Schuljugend, Lehrpersonen, eine Tribüne für die Vertreter der Kommandantur, der Gemeinde und der Parteien. Eine größere Anzahl von Bürgern der Stadt war versammelt, Fahnen wehten, ein Prolog war verfaßt worden. DIE HÜLLE FÄLLT! SO IST ES DENN ENTSCHIEDEN, DASS MISTELBACH EIN DENKMAL SICH ERRICHTE!, die Schulkinder sangen, Ansprachen wurden gehalten, der Prolog wurde verlesen (oder von einem Schauspieler vorgetragen): WAS WIR ALS GEGENWART ERLEBT, ERLITTEN: IN GRAUEN UND QUAL UND UNNENNBAREM WEH, EIN ENDE DIESES SCHRECKENS ZU ERBITTEN, DAS BRACHTE UNS DIE ROTE SIEG’S-ARMEE!

Die Leute murrten, das Ende des Schreckens sei ein Ende mit Schrecken gewesen. Auch daran würde das Denkmal erinnern.

Befreit haben sie uns, ja, sie haben uns von ALLEM BEFREIT, sagte Frau O.

Valerie sagte: Die armen Teufel sind auch nicht freiwillig gestorben, die hat man genauso umgebracht wie unsere Soldaten.

Sie habe, sagt die Mutter, an Richard denken müssen, aber auch an die jungen Gesichter der Gefangenen, die man vor dem Kriegsende durch B. getrieben habe. Achtzehntausend gefangene deutsche Soldaten seien einmal eine Nacht lang in B. gelegen, alle Straßen und Gassen, der ganze Stadtplatz, alles sei SCHWARZ VON SOLDATEN gewesen.

 

DU KANNST DIR NICHT VORSTELLEN, WIE ARM SIE GEWESEN SIND.

MAN DARF NICHT DARAN DENKEN, sagt die Mutter, MAN DARF NICHT DARAN DENKEN, sie wiederholt den Satz, dreht das Gesicht weg, zum Fenster, fürchtet, man könnte bemerken, daß sie den Tränen nahe ist, die alten Bilder sind noch nicht gelöscht, sind nur verdrängt worden, werden wieder beschworen, wenn man davon spricht.

Seit damals, sagt die Mutter, kann ich keine traurigen Bücher mehr lesen und keine traurigen Filme mehr sehen. ES IST OHNEHIN ZUVIEL TRAURIGES IN DER WELT.

In Rußland gibt es auch Mütter, die jetzt weinen, sagte Valerie. Sie dachte: Hoffentlich kommt Richard zurück. Aber Richard war nicht der einzige, von dem man ein Lebenszeichen erhoffte, auch der Sohn von Heinrichs früh verstorbener Schwester, zu Kriegsende gerade einundzwanzig Jahre alt geworden, schwerkrank in einem Brünner Lazarett zurückgeblieben, war verschollen. Und Heinrichs alte Mutter hatte noch immer keine Nachricht gegeben. Von jenen Verwandten, die noch nicht über die Grenze gekommen waren, wußte man nicht, ob sie noch lebten, wo sie sich aufhielten, ob man sie noch einmal Wiedersehen würde.

Woran Valerie vor allem dachte, was sie Tag und Nacht beschäftigte, muß nicht gesagt werden.

Die Wahlaufrufe der provisorischen österreichischen Regierung las Heinrich mit Interesse, aber sie betrafen ihn nicht. Er durfte an der ersten allgemeinen freien Wahl nicht teilnehmen, er durfte nicht wählen, weil er kein Staatsbürger war. ER DURFTE NICHT ÜBER BESTAND UND ZUKUNFT EINES VOLKES MITENTSCHEIDEN, zu dem er einmal gehört hatte, zu dem man ihm jetzt nicht zu gehören erlaubte, er durfte sich nicht am Wahlkampf beteiligen wie andere MÄNNER, DIE, DER EIGENEN ÜBERZEUGUNG WOHL BEWUSST, ZUGLEICH DIE ÜBERZEUGUNG DES ANDEREN ACHTEN. ER WAR EIN LANDESFREMDES ELEMENT, die freie, unabhängige, demokratische Zukunft Österreichs ging ihn nichts an. Am Sonntag, dem 25. November, entschieden die Wähler für zwei Parteien, die Volkspartei und die Sozialistische Partei.

Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei schrieb: ES IST UNS NICHT GELUNGEN, DAS VOLK AUFZURÜTTELN.

Was geschah sonst noch in diesem Herbst, wovon die Familie in besonderer Weise betroffen war?

Heidi, die siebenjährige Tochter Hedwigs, durfte zur Schule gehen. Weil sie so ausgezeichnet sprach, erlaubte man ihr, die erste Klasse zu überspringen und gleich in die zweite Klasse einzutreten. Hedwig sortierte Schrauben im Ölgebiet. Josef, der Bauer ohne Land, sammelte Fallholz in den umliegenden Wäldern, zerhackte es sauber in kleine Stücke und band es zu Bündeln. Anna und die Kinder hielten Nachlese auf den abgeernteten Kartoffelfeldern, wühlten noch ein Häufchen Kartoffeln aus der lehmigen Erde. Heinrich, von der heimlichen Sehnsucht erfüllt, eines Tages nach Wien gehen, dort leben zu dürfen, brachte ein Gesuch um Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft ein, das Gesuch war vom Bürgermeister des Dorfes AUS GRÜNDEN DES ÖFFENTLICHEN WOHLES, aber auch, weil man mit diesem Doktor die besten Erfahrungen gesammelt hatte, weil er sich IM INTERESSE DER GESUNDHEITLICHEN BETREUUNG DER BEVÖLKERUNG IN AUFOPFERNDER WEISE EINGESETZT HATTE, UND NICHT ZULETZT DESHALB, WEIL NOCH AUF JAHRE MIT EINEM ERHEBLICHEN ÄRZTEMANGEL AUF DEM LANDE ZU RECHNEN sein würde, wärmstens befürwortet worden.

Er war im Besitz einer auf ein Stückchen grobes Papier geschriebenen VORLÄUFIGEN AUFENTHALTSBEWILLIGUNG, die vom Bezirkshauptmann mit blauer Tinte, vom russischen Ortskommandanten mit rotem Stift unterschrieben worden war.

Von Anni, der Tochter, war noch kein Lebenszeichen gekommen.

6

Ein erster Versuch, zu der immer noch Sechzehnjährigen zurückzufinden, die sich als Vollwaise fühlt, zur Schule geht, nachts, wenn sie in ihrem Bett liegt, über die Zukunft nachdenkt, ihr Leben zu planen versucht, scheitert. Anni entzieht sich, verschwindet immer wieder hinter einer Nebelwand, ein Schatten, kein Mädchen aus Fleisch und Blut, ihre Bewegungen, ihre Sprache sind nicht mehr rekonstruierbar, ihre Gedanken lassen sich nicht nachvollziehen. Obwohl sich denken läßt, daß sie Sorgen hatte, sind diese Sorgen nicht mehr wirklich vorstellbar, obwohl feststeht, daß sie Trauer empfunden hat, obwohl die Verwendung dieses Wortes TRAUER in bezug auf den Verlust der Eltern, besser, auf das durch diesen vermeintlichen Verlust hervorgerufene Gefühl, zweifellos richtig ist, bleibt es eben doch nur ein WORT, das man aufschreibt, ausspricht, in Verbindung mit dem Mädchen von damals aber nicht mehr nachempfinden kann. Zu vieles hat sich seither ereignet, zuviel ist geschehen, die Schatten von damals sind von anderen Schatten überdeckt, überlagert worden, die Freude von damals von späterer Freude.

Der Mensch von damals ist fremd geworden, eine Annäherung auf direktem Weg ist nicht möglich, man muß auf Umwegen versuchen, an ihn heranzukommen.

Über die Umgebung zum Beispiel, in der sich Anni aufgehalten hat, die Wohnung, in die man sie aufnahm (zweieinhalb kleine Zimmer, eine winzige Küche, Vorzimmer, Bad), die Inhaber dieser Wohnung, die sie, zu der sie keinerlei verwandtschaftliche Beziehung hatten, als zugehörig annahmen. Daß sie in der Lage gewesen ist, für das Bett, in dem sie schlafen durfte, für das Essen, das man ihr gab, zu bezahlen, ändert nichts daran, daß ich, Anna, dieser Leute heute noch mit Dankbarkeit gedenke.

Hier allerdings taucht schon eines jener Probleme auf, die Anni damals, zwischen Schulaufgaben, vielleicht auf dem Schulweg (der nur noch vage in Erinnerung geblieben ist, Straßennamen sind mittlerweile vergessen), vielleicht auch bei anderen Anlässen, beschäftigt haben müssen: Wohin würde sie gehen, wer würde sie aufnehmen, wenn das Oberhaupt ihrer Gastfamilie, ein Parteigenosse mit niedriger Mitgliedsnummer, der sich allerdings nur durch das Kassieren von Beiträgen hervorgetan hatte und der nun in einem Lager als politischer Gefangener auf seine Lossprechung wartete, entlassen und wieder nach Hause geschickt würde?

Sie schlief in seinem Bett, der Sohn Siegfried bewohnte das an das Wohnzimmer anschließende Kabinett, er teilte die darin stehende Couch mit seiner Freundin Edith, einer Wienerin, die auf einer erhalten gebliebenen kleinen Amateurfotografie zu sehen ist: ein schlankes Mädchen mit Puppengesicht und zu einer Innenrolle gedrehtem dunkelblondem Haar.

Das Lager, in dem Siegfrieds Vater sich damals vorübergehend und unfreiwillig aufgehalten hat, lag in der Nähe von Salzburg, Frau M., die Anni TANTE LIESI nennen durfte, fuhr von Zeit zu Zeit hin und lieferte Pakete ab. Aber nicht nur durch die erhoffte und ersehnte Rückkehr von Tante Liesis Mann Eduard wurde Annis Unterkunft bedroht. Auch wenn, was man sehnlichst erhoffte, Siegfrieds älterer Bruder Gunter eines Tages heimkehren würde, drohte ihr Obdachlosigkeit, bestenfalls eine Bettstelle in einem Flüchtlingslager, eine Vorstellung, die sie schreckte, auch wenn es sich nicht um eines jener Ausländerlager handeln würde, von denen man nur Unerfreuliches zu berichten hatte, in deren Umgebung Bauernhöfe überfallen und geplündert, Passanten ihrer Brieftaschen beraubt wurden, an denen nach Einbruch der Dunkelheit vorbeizugehen man nach Möglichkeit vermied. Es ist anzunehmen, daß Anni der Heimkehr des Mannes Eduard, aber auch der von Siegfried, vor allem von Frau M. sehnlich erwarteten Rückkehr des Sohnes Gunter, dessen Fotografie, schwarz gerahmt, auf dem Deckel des Pianinos stand, mit gemischten Gefühlen entgegengesehen hat. Dies jedoch genügt keineswegs, um sie aus ihrem vom Nebel der Vergangenheit umhüllten Schattendasein zu erlösen.

Ein Klavier also war vorhanden. Manchmal versuchte Anni darauf halbvergessene Etüden, mehrere Jahre vorher geübte Klavierstücke, Teile im Gedächtnis gebliebener Sonaten auswendig zu spielen. Es war Stümperei, die Reaktion Tante Liesis, vor allem Siegfrieds scheint verständlich: Sie wollten Melodiöseres hören. Siegfried, in Edith verliebt, wünschte Wienerlieder, aber auch anderes, Mitreißendes, Lieder, die vor nicht allzu langer Zeit gesungen worden waren. Dazu mußten die Fenster geschlossen werden. Tante Liesi verlangte nach gemütvolleren Melodien, Schlagern aus dem DEUTSCHEN VOLKSKONZERT, die ihr Liebling, Wilhelm Strienz, gesungen hatte. GLOCKEN DER HEIMAT zum Beispiel. Vor allem aber das unvergleichliche, Herz und Gemüt anrührende, sogar Tränen hervorlockende Lied von dem Mädchen Lili Marleen, das auch dann noch vor der Kaserne, vor dem großen Tor gestanden war, als im ganzen Land die Laternen längst ausgegangen waren, als überall strengste Verdunkelung angeordnet worden war.

Da stieg herauf, was überwunden sein sollte, der Landser in der Kaserne, im Schützengraben, in den weiten, eisigen Steppen Rußlands, aber auch im Norden, Westen und Süden, da war plötzlich alles wieder lebendig geworden, da kam der Schmerz, kamen die Tränen, vor allem bei der Textzeile UND SOLLTE MIR EIN LEID GESCHEHN. Wenn die Sänger, Siegfried und Tante Liesi, manchmal auch Edith, bei dieser Zeile angelangt waren, verließ Frau M. jedesmal das Zimmer, verlangte jedoch wenige Tage später wiederum nach demselben Lied, das Anni aber nicht mehr spielen wollte, nur aus Gründen des guten Einvernehmens dann doch noch einmal und noch einmal spielte.

Manchmal kam Frau Weißmaier zu Besuch, eine Frau, die in der Nachbarschaft lebte, deren Mann sich ebenfalls in dem Lager bei Salzburg befand. Die Erinnerung hat im Zusammenhang mit ihrem verwischten Bild Sätze festgehalten, wie: DER FÜHRER LEBT GANZ BESTIMMT. Nicht nur sie, Frau Weißmaier, sei dieser Überzeugung, es gäbe sehr viele, die so dachten. Es seien ja unzählige Nationalsozialisten in Spanien, Portugal, vielleicht sei es dem Führer gelungen, dorthin zu flüchten, sich zu verbergen, vielleicht hätten ihm einige seiner Getreuen die Flucht ermöglicht, hielten ihn jetzt versteckt.

Der Führer sei vielleicht in Argentinien.

Der Führer sei möglicherweise von den Russen gefangengenommen worden, werde jetzt gefangengehalten.

Der Führer sei in Sicherheit.

Nein, daß der Führer GEFALLEN sei, das sei nicht vorstellbar, sei ein Gerücht.

Zu Anni sagte Frau Weißmaier manchmal: Du wirst sehen, alles wird wieder gut, du wirst in deine Heimat zurückkehren, und das wird früher der Fall sein, als du denkst.

Die Zeit hat Frau Weißmaiers Gesicht zu einem blassen Fleck zerfließen lassen, in dem Mund, Augen, Nase fehlen, nur die von grauen Fäden durchzogene Zopfkrone auf dem Kopf ist erhalten geblieben, ein großer, knochiger Körper, auch, daß diese Frau gerne Dirndlkleider mit langärmeligen Leinenblusen trug.

Auch Frau Holzmann hat ihr Gesicht verloren, in das wirre Haarsträhnen fallen, sie ist ebenfalls groß, aber sehr mager, ihre Hände, die Anni immer nur eine Zigarette haltend gesehen hat, zittern, sie ist nur in dunkler Kleidung oder in großgeblümten Morgenröcken vorstellbar. Auch ihre Stimme ist dunkel, rauh von den vielen Zigaretten, die sie seit dem Kriegsende geraucht hat.

Die Frau Holzmann, sagte Tante Liesi, sei im KZ gewesen. Das war die andere Seite.

Erschrockenes Aufhorchen der Sechzehnjährigen, Erinnerung an graue Gestalten mit kahlgeschorenen Köpfen, die bald nach dem Ende des Krieges am Bauernhof vorbeigezogen waren, die man vereinzelt da und dort gesehen hatte, Erinnerung an die Erzählungen eines Mannes, der das Kriegsende in Ebensee erlebt hatte, wie man die Gefangenen freigelassen habe, wie der ganze Ort plötzlich von KZlern überschwemmt gewesen sei, DIE KZLER, NICHT DIE GEFANGENEN, Erinnerung an in Zeitungen Gelesenes, ehemalige Insassen der Konzentrationslager hatten ihre Erlebnisse beschrieben: JUNGE MENSCHEN, DIE DAS NICHT GLAUBEN WOLLEN, WEIL SIE ES NICHT GLAUBEN KÖNNEN, SEIEN DAVOR GEWARNT, IN DERARTIGEN SCHILDERUNGEN EINE GEHÄSSIGE PROPAGANDA ZU SEHEN! Hier war nun ein Mensch, der Jahre seines Lebens in jenem Dunkel zugebracht hatte, über dessen grauenvolle Details man erst jetzt, durch die Berichte anderer, die mit dem Leben davongekommen waren, Kenntnis erhielt.

Das ist alles gelogen, sagte Frau Weißmaier, zu so etwas sind deutsche Menschen niemals fähig gewesen.

DER DEUTSCHE MENSCH, die künstlich geschaffene Kolossalstatue, in die man einzugießen versucht hatte, was an Tugenden erstrebenswert schien, Heldenmut, Tapferkeit, Vaterlandsliebe, Sauberkeit, Mütterlichkeit, Güte, war von seinem Postament gestürzt, von furchtbaren Rissen und Sprüngen durchzogen, der Lack, mit dem man ihn übermalt hatte, blätterte ab. Plötzlich zerfiel, was deutsch gesprochen hatte, in Millionen von Einzelwesen, die gut und weniger gut, sauber und weniger sauber gewesen waren, man hatte sich damit abzufinden, daß es unter den deutschen Menschen brutale Gewaltverbrecher gegeben hatte, Massenmörder, Kindermörder und Henker.

 

ICH SEHE ES NICHT GERNE, WENN DU MIT DIESER ELSE VERKEHRST.

Hier gibt es trotzdem eine Brücke zu Anni, die mit Frau Holzmanns Tochter zusammen aus der Schule heimging, obwohl sie in einer anderen Klasse saß, die Else in ihrer Wohnung besuchte. Daß sie vor der Frau mit den braunen Nikotinfingern und den zitternden Händen, mit den wahrscheinlich grauenvollen Erinnerungen, über die sie selbst zu niemandem sprach, nach denen sich aber auch niemand zu fragen getraute, Scheu empfunden hat, ja daß sie ihr in gewisser Weise sogar unheimlich gewesen ist, läßt sich nicht leugnen.

WIR MÜSSEN DIE JUGEND ENTGIFTEN, stand in einer Zeitung, die damals in Linz von vielen gelesen worden ist. Die Frage erhebt sich, wie Anni mit all dem, was sie nun las und hörte, zurechtgekommen ist.

SIND SIE DEUTSCHBLÜTIG? stand Anfang Jänner 1946 noch hie und da in Antragsformularen, etwa in solchen, die von Bewerbern um Führerscheine auszufüllen waren, der Papiermangel wirkte sich auch im Hinblick auf Drucksorten aus.

Selbst dem deutschblütigen Autolenker hat man, so scheint es, was Fahrtüchtigkeit, Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit anging, eher als dem NICHTDEUTSCH-BLÜTIGEN vertraut.

Anni, aufgewachsen in der Kleinstadt B., hat von Kindheit an in Einzelwesen getrennt, was ihr als Kollektiv angeboten worden wäre, wenn die Atmosphäre der Kleinstadt nicht eine Kollektivierung verhindert hätte. Sie kannte Rabenmütter, Gewalttäter, Diebe, sogar Huren verschiedener Sprachen, sie hat tapfere, mütterliche, anständige Menschen verschiedener Sprache und Religion gekannt. Eine Kollektivsicht ist vor allem im Hause des Arztes nicht möglich gewesen. An Krankenbetten wird manches offenbar, was sich hinter den Fenstern der Häuser begibt, der Arzt wird geholt, wenn ein verwahrlostes Kind im Sterben liegt, von Raufbolden geschlagene Wunden werden von Ärzten vernäht, ehe die Abtreiberin verblutet, wird in letzter Minute doch nach dem Arzt gerufen. Vierzehnjährig hat Anni, an der Tür des Wohnzimmers (Herrenzimmers) horchend, die sie mit Entsetzen erfüllende Erzählung eines Verwandten in Bruchstücken mitangehört, eines Offiziers der deutschen Wehrmacht, dem man aufgetragen hatte, jüdische Männer, Frauen und Kinder, Mütter mit ihren Säuglingen im Arm, alte Leute, in russische Sümpfe zu treiben, der jedoch, im Einverständnis mit seinen Soldaten, diesen Befehl nicht ausführte, den zum Tode Verurteilten die Flucht möglich machte, sie davonlaufen ließ. Sie hat den Satz gehört, den sie niemals vergessen konnte: WEIT KÖNNEN SIE NICHT GEKOMMEN SEIN. Sie hat das graue, verfallene, vom Schrecken gezeichnete Gesicht des Offiziers gesehen, der diesen Satz ausgesprochen hat.

Sie hat jenen armen, halbverhungerten, kranken, NICHT DEUTSCHEN und NICHT ARISCHEN Menschen, die man zur Zwangsarbeit am Bahndamm verurteilt hatte und die dieser Arbeit in keiner Weise gewachsen waren, öfter als nur einmal die Tür geöffnet, sie eingelassen, beobachtet, wie die Mutter versuchte, ihre Bewacher zu einem Imbiß in die Küche zu locken, was ihr jedoch niemals gelungen ist. Sie hat mancherlei gesehen, mitangehört, was ihr in seiner ganzen, furchtbaren Bedeutung erst viel später bewußt geworden ist. Trotzdem muß ihre Verwirrung nach dem Ende des Krieges groß gewesen sein. Hat sie, was in den Zeitungen berichtet wurde, was die aus den Lagern Entlassenen erzählten, wirklich und gleich von allem Anfang an geglaubt? Die Erinnerung reiht sie eher zu jenen, die sich dagegen wehrten zu glauben, was sie nicht glauben konnten, deren Verstand es ablehnte, so Furchtbares für geschehen zu halten, die verstört waren, sich vergeblich damit abmühten, mit dem Gehörten, Gelesenen, Berichteten zurechtzukommen. Die eine Art Erleichterung empfanden, wenn Leute wie die Weißmaier sagten: Das ist alles gelogen, so etwas konnten deutsche Menschen nicht tun. Dann einer Frau wie Elses Mutter gegenüberzustehen, beim Tisch gegenüberzusitzen, sie nicht fragen zu können, wie all das, was sie erlebt hatte, WIRKLICH gewesen sei. Sie anzusehen, in der vagen Hoffnung, sie möge selbst zu sprechen beginnen, widerlegen, trösten, nein, so schlimm sei es wirklich nicht gewesen.

(Diesen Wunsch, diese unausgesprochene Bitte, diese Hoffnung hat das Gedächtnis festgehalten.)

Manchmal fand Anni, wenn sie Else besuchte, Frau Holzmann im abgedunkelten Zimmer, beim Tisch sitzend vor, mit dem Legen einer Patience beschäftigt, ein vertrautes Bild, auch ihre Mutter hatte an Winternachmittagen gerne Patiencen gelegt.

Else war es, die dieses Bild zerstörte, es wieder ins Dunkle verkehrte. Ihre Mutter sei imstande, aus den Karten die Zukunft zu lesen.

Bitte, Mama, sagte Else, schlag uns die Karten auf.

Frau Holzmann weigerte sich. Es genüge, sagte sie, über die Vergangenheit Bescheid zu wissen, die sei in vielen Fällen schrecklich genug gewesen. Was die Zukunft betreffe, sei es besser, sie nicht zu kennen. Sie sagte das mit ihrer ruhigen, brüchigen Stimme und schob dabei die Karten zu einem Stoß zusammen, Anni glaubte zu bemerken, daß ihre Hände noch stärker zitterten als sonst, das Gefühl des Mitleids, das sie überkam, aber auch das unbestimmte Gefühl der Furcht vor einer unbekannten, nicht berechenbaren Zukunft, die nicht nur Glück, sondern auch Unglück und Gefahr bedeuten konnte, deren möglichen Schrecken und Nöten man ausgeliefert sein würde, vor denen man sich nicht schützen konnte, weil man sie nicht kannte, nicht auf sie vorbereitet war, läßt sich heute noch, nach so vielen Jahren, die seither vergangen sind, nachempfinden.

DER SIEG IN DEN WIEGEN IST WICHTIG, sagte ein unabhängiges Parlamentsmitglied in England. Der vorherrschende Eindruck, den man in Deutschland empfange, sei der eines Volkes, das mit bewundernswerter Gründlichkeit alles tun wolle, was man ihm befehle, aber aus eigener Initiative täten die Leute wenig. NUR WENIGE MENSCHEN LESEN ZEITUNGEN, SIE HABEN KEINE ZEIT DAZU, WEIL SIE AUS DEM NÄCHSTEN WALD HOLZ HERANSCHAFFEN MÜSSEN. Nur wenige hätten ein Rundfunkgerät, die meisten hätten das ihre gegen Nahrungsmittel, Kohle oder Zigaretten eingetauscht. ES WIRD EINER SEHR INTENSIVEN UND LANGE DAUERNDEN PROPAGANDA BEDÜRFEN, UM SIE DAVON ZU ÜBERZEUGEN, DASS SIE LERNEN MÜSSEN, FÜR SICH SELBST ZU DENKEN. Der Mann, der diese Rede in London gehalten hatte, hatte Deutschland gemeint, aber auch in Österreich war das Heranschaffen von Nahrung, von Holz aus den Wäldern wichtiger geworden als das Lesen von Zeitungen und das Abhören von Meldungen aus dem Rundfunk, wenn man ein Radiogerät besaß.

Frau M. besaß einen kleinen Radioapparat, aber sie schaltete ihn meistens nur ein, wenn Suchmeldungen gesendet wurden.

Ungezählte Hoffnungen wurden damals über die Sender in den Äther geschickt, manche erfüllte sich, als die ersten Kriegsgefangenentransporte auf den Bahnhöfen der Städte eintrafen, als die ersten Briefe kamen.

Die Sendungen AMERIKA RUFT, STIMMEN DER ALLIIERTEN, DIE MILITÄRREGIERUNG VON OBERÖSTERREICH SPRICHT, ENGLAND RUFT, auch die Sendung WIR LERNEN DENKEN wurden von Frau M. nur sehr selten gehört.

Siegfried und Edith saßen nachts in der Küche und hörten, TANZMUSIK DES 328. AMERIKANISCHEN INFANTERIE-REGIMENTS.

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