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Der Frauenmörder

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Der Frauenmörder
Der Frauenmörder
Hörbuch
Wird gelesen Ulrich Tukur
9,99
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Frau Armbruster, die diesem Verzweiflungsausbruch beiwohnte, wollte ihn beruhigen, aber Hartwig erklärte achselzuckend:

»Ach was, es ist wirklich, um einen Mord zu begehen! Wissen Sie keinen reichen Juden, den ich umbringen und berauben könnte, damit ich wenigstens aus der Geldmisere herauskomme?«

Sie habe das natürlich für einen Scherz gehalten, aber nun erinnere sie sich dieser Worte mit Schrecken.

Auch im Publikum wurde gemurmelt und »Ah!« und »Oh!« ausgerufen. Ein Geschworner tuschelte seinem Nachbar halblaut ins Ohr:

»Im Unterbewußtsein hat er immer an Mord gedacht!«

Der Verteidiger: »Liebe Frau Armbruster! Herr Hartwig wird, wie Sie wissen, beschuldigt, im Verlaufe des Monates Juli hintereinander fünf oder noch mehr Frauen von Berlin fortgelockt zu haben, um sie irgendwo in der Einsamkeit zu ermorden. Zweifellos müßte er seine Verbrechen recht weit von Berlin begangen haben, wenigstens halte ich den Grunewald mit den zahlreichen Familien, die sich dort der edlen Beschäftigung des Kaffeetrinkens hingeben, für wenig geeignet, den Schauplatz der Ermordung, Zerstücklung und Vergrabung von Frauen zu bilden.«

Heiterkeit im Publikum. Rüge des Präsidenten.

»Es ist anzunehmen, daß Herr Hartwig sein jeweiliges Opfer in öde Gegenden, stundenlang mit der Bahn und dann noch stundenlang zu Fuß entfernt, gebracht hat. Logischerweise also müßte Herr Hartwig im Juni des öfteren tagelang verschwunden sein. Darüber können nur Sie Auskunft geben. Ich frage Sie daher: Ist Ihr Mieter, Herr Hartwig, im Juni oder Juli einigemal über Nacht seiner Behausung ganz ferngeblieben? Hat er Reisen unternommen, auf die er Handgepäck mitnahm?«

Frau Armbruster verneinte lebhaft.

»Ne, was man so eine Reise nennt, das hat Herr Hartwich nicht unternommenl Aber Ausflüge hat er ja wohl gemacht. Immer im Frühjahr und Sommer pflegte Herr Hartwich mitunter ganz früh am Morjen fortzugehen und erst spät nachts zurückzukommen und er hat mir dann woll auch erzählt, daß er diese oder jene große Tour unternommen habe. Aber Jepäck, davon war keine Rede nich.«

»Meine Herren Geschwornen,« rief Nagelstock triumphierend und listig, »stellen Sie sich nur diese Situation vor: Hartwig hat ein Mädchen auf einen Zweitageausflug eingeladen, um mit ihm eine Villa oder ein Gut in oder bei Ketzin zu besichtigen. Was sich wohl das Mädchen gedacht hätte, wenn sein Bräutigam ohne jedes Gepäck, nicht einmal mit einem Nachthemd und einem Zahnbürstchen bewaffnet, einhergekommen wäre?«

Einer der Geschwornen, ein Mann mit einem Vogelgesicht und Entenschnabel, derselbe, der vorhin vom Unterbewußtsein gesprochen hatte, erhob sich.

»Herr Präsident, gestatten Sie, daß ich eine Frage an die Frau Zeugin richte?«

»Sicher, es freut mich sogar, wenn die Herren Geschwornen in die Verhandlung eingreifen.«

Der Entenschnabel öffnete sich wieder.

»Also, Frau Armbruster, können Sie uns sagen, wie Herr Hartwig gekleidet war, wenn er solche Tagesausflüge unternahm?«

Jawohl, Frau Armbruster konnte. »Nu, einen dunkeljrünen Sportanzug trug er, einen Plüschhut, derbe Stiefel mit doppelter Sohle und so ‚nen Rucksack, wie ihn jetzt die Leute immer tragen.«

Heiterkeit, Bewegung, Unruhe. Der Entenschnabel sagte »Nun also!« und klappte dann zu, der Verteidiger schrumpfte ein und zog sich wie ein begossener Pudel auf seinen Stuhl zurück. Zwei aber lächelten vor sich hin: Der Kriminalkommissär Dengern und der Angeklagte Hartwig.

Die zurückgelassenen Habseligkeiten der verschwundenen Frauen wurden auf dem Gerichtstisch ausgebreitet, elendes, schäbiges Zeug, zertretene Schuhe, Strümpfe mit Löchern, billige Wäschestücke ohne Märke, Barchent, Baumwolle, Flanell. Man tuschelte und lächelte im Auditorium. Ein als Witzbold bekannter Schriftsteller flüsterte einer berühmten Schauspielerin zu:

»Pfui Deibel! Mit solchen Weibern Liebesstunden feiern, bevor man sie abmurxt! Und so was hat die Frechheit, Romane und Stücke zu schreiben!«

Die Künstlerin kicherte. »Wenn mich einmal einer umbringt, so werden andere Sachen vor Gericht erscheinen. Sogar meine Zofe darf nur Batist tragen!«

Nun wurden die Briefe der Todesopfer verlesen, die sie auf die Annonce Hartwigs geschrieben hatten. Sie machten dann die Runde; jeder der zwölf Geschwornen bekam alle fünf in die Hände. Lauernd blickte Dengern drein. Aber auch das ging ohne Zwischenfall vorüber.

Die von der Verteidigung geladenen Entlastungszeugen marschierten an. Lehrer, Jugendfreunde, Studienkollegen Hartwigs. Übereinstimmend erklärten sie, Hartwig als grundgütigen, ein wenig romantischen, schwärmerischen Menschen gekannt zu haben, dem Übeltaten nie und nimmer zuzutrauen gewesen wären. Ein alter Professor, der in Köln acht Jahre hindurch Lehrer Hartwigs gewesen war, sagte:

»Nach bestem Wissen und Gewissen kann ich nur sagen, daß ich Hartwig nicht nur keines raffinierten Verbrechens, sondern überhaupt keiner unehrenhaften, gewinnsüchtigen Handlung fähig gehalten hätte. Allenfalls einer Jähzornstat. Ich erinnere, wie er einmal, er dürfte vierzehn Jahre alt gewesen sein, in einem öffentlichen Park sich plötzlich auf einen wesentlich größeren und stärkeren Jungen warf, sich in ihn verkrallte, ihn biß und so übel zurichtete, daß der Überfallene verbunden werden mußte. Die Untersuchung ergab aber, daß Hartwig beobachtet hatte, wie dieser Bursche einer gefangenen Feldmaus mit seinem Taschenmesser die Augen ausstach. Mir ist dieser Vorfall lebhaft in Erinnerung, denn ich mußte meine ganze Autorität einsetzen, um Hartwig vor Karzer zu bewahren.«

Der Präsident trommelte ungeduldig mit der Bleifeder auf den Tisch.

»Nun, Herr Professor, inzwischen sind Jahrzehnte vergangen und in solcher Zeit mag sich der Charakter eines Menschen gründlich ändern.«

Der Entenschnabel nickte, das Nicken wirkte ansteckend auf die anderen Geschwornen, und der Staatsanwalt begann diesen wie die anderen Entlastungszeugen geschickt zu Äußerungen zu bewegen, die bewiesen, daß Hartwig immer einen höchst normalen Eindruck hervorgerufen habe. Das war eine Parade gegen jeden späteren Versuch des Verteidigers, den Angeklagten als geistesgestört darzustellen.

Es war spät geworden, im Auditorium wie unter den Geschwornen entstand eine gewisse Unruhe, die sich sogar dem Gerichtshof mitteilte. Rechtsanwalt Nagelstock sprang auf.

»Herr Präsident, da ja ohnedies die Zeugenvernehmungen beendet sind, bitte ich die Verhandlung. auf morgen zu vertagen. Nicht nur ich, sondern wohl auch einzelne der Herren Geschwornen, vielleicht auch der Herr Präsident, die Herren Beisitzenden und der Herr Staatsanwalt haben sich Karten für die heutige Vorstellung im Kleist-Theater besorgt, nicht aus brutaler Neugierde, sondern um dem Rätsel Hartwigs näher zu kommen. Es ist sieben Uhr - in einer Stunde beginnt die Vorstellung - also -

Erleichtert aufatmend gab der Präsident dem Antrag Folge. Aber bevor er noch die Sitzung aufhob, wandte er sich abermals an den Angeklagten.

»Hartwig, wollen Sie nicht heute noch das erlösende Wort sprechen und ein Geständnis ablegen?«

Müde und nervös schüttelte Hartwig den Kopf.

»Herr Präsident, vor mir liegt eine Nacht, in deren Verlauf ich mit mir ins reine kommen werde. Ich werde morgen sprechen!«

Trotz der allgemeinen Übermüdung und der vorgerückten Stunde Totenstille, daß man deutlich hörte, wie eine Fliege gegen die Fensterscheibe taumelte. Morgen — also morgen würde die Sensation ihren Gipfelpunkt erreichen. Joachim von Dengern warf dem Angeklagten aus halbgeschlossenen Lidern einen langen Blick zu, dann trat er vor.

»Herr Präsident, wie ich schon gesagt habe, werde ich noch heute eine wichtige Erhebung machen. Darf ich bitten, morgen sofort nach Eröffnung der Verhandlung mich zuerst zu vernehmen?«

Verwundert sagte der Präsident zu. Und verwundert wie er waren alle Menschen im Saal. Was hatte das wieder zu bedeuten, was konnte Dengern noch erfahren, warum mußte er unbedingt als Erster morgen sprechen? Rätsel über Rätsel!

* * *

Die Menschen strömten wie ein Bienenhaufen auseinander, Autotaxis sausten nach allen Richtungen, es galt, sich rasch umzuziehen, große Toilette zu machen und eine Kleinigkeit zu essen, bevor man sich zur sensationellsten, spannendsten Theaterpremiere begab, die Berlin jemals erlebt hatte.

Die Sensationspremiere

Joachim von Dengern hatte einen starken Mercedes-Wagen, Eigentum des Polizeipräsidiums, bestellt, den er nun bestieg, um nach dem Lützow-Ufer zu fahren. Unweit des Hauses, in dem Lotte Fröhlich bei Frau Lämmlein wohnte, ließ er halten, um sich in ein kleines Restaurant zu begeben, von dem aus er das Haus im Auge behalten konnte. Seine Kombination ging dahin, daß Lotte Fröhlich sicher der Aufführung im Kleist-Theater beiwohnen werde, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach in Begleitung ihrer Wirtin, Frau Lämmlein.

Eben hatte er einige Bissen verschlungen und gezahlt, als auch wirklich die beiden Damen das Haus verließen. Nun war die Bahn für ihn frei. Unbemerkt schlüpfte er ins Haustor, flog die zwei Treppen empor, stand vor der Tür zur Wohnung der Frau Lämmlein. Er setzte das Läutwerk in Tätigkeit, niemand meldete sich. Frau Lämmlein hielt kein Dienstmädchen. Ein Blick nach links und rechts, dann klirrte leise der Nachschlüssel und Dengern konnte die Wohnung betreten und sorgfältig hinter sich abschließen, begab sich direkt in das ihm schon flüchtig bekannte Zimmer des Fräulein Lotte Fröhlich, um es erst nach einer guten Viertelstunde zu verlassen. Unter dem Arm trug er ein kleines Bündel.

Ein viertel vor acht Uhr. Dengern gab dem Chauffeur eine Adresse im Norden Berlins und Auftrag, so rasch als statthaft zu fahren. In zehn Minuten war er an Ort und Stelle, nach weiteren zehn Minuten hatte er den Trödelladen des Herrn Goldlust wieder verlassen, und in dem Augenblick, als der Vorhang sich hob, ließ sich der Kriminalkommissär Dengern behaglich lächelnd auf seinen rückwärtigen Logensitz nieder.

 

Das Spiel begann und hielt das verwöhnte, sensationslüsterne, snobistische, gehetzte Berliner Premierenpublikum durch drei lange Akte in Atem. Kein stimmungstötendes Räuspern, kein Husten, kein Zischeln wurde laut, in andachtsvoller Stille folgte die Menge der Handlung.

Drei Menschen. Eine junge Frau, ihr Gatte, ein verträumter Gelehrter, dann beider Freund, ein Mann von Welt, Kultur und Temperament. Untrennbar diese Dreieinheit, voll Harmonie und echtester Freundschaft. Kein frivoler Betrug, kein grinsender Zynismus, sondern Ergänzung, Naturnotwendigkeit, mitleidvolle Liebe des Freundes zum Gatten. Dieser erfährt, daß der Freund der Geliebte seiner Frau ist. Schreit nicht nach Rache, spricht nicht von Betrug, anerkennt das Recht auch der Frau auf sich selbst, respektiert Elementares, resigniert und will weder die Frau noch den Freund verlieren. Die Idylle zu dritt, keusch und rein, solange kein Vierter von ihr weiß, würde fortdauern, wenn nicht eben dieser Vierte wäre. Die Menschen umher beginnen zu tuscheln und zu zischeln, gemeine Witze fliegen auf, es kommen anonyme Briefe, ein Winkelblatt schwelgt in Andeutungen. Die Schmutzflut braust über das Heim des Gelehrten, er, die Frau, der Freund beginnen ihr Dasein im Zerrspiegel der Umwelt zu sehen, der Gatte tötet sich, um den zwei anderen das Leben zu ermöglichen. Aber die Zweisamkeit ist nicht mehr, was die Dreisamkeit war, das Gespenst des Toten teilt das Brautbett, Bitterkeit und Vorwürfe schleichen sich ein, bis die beiden zermürbt, verzagt, gebrochen, angeekelt auseinandergehen.

Die edle Sprache, der meisterhafte Aufbau, die Kühnheit des Problems brachten dem Drama einen ungeheuren, widerspruchslosen Erfolg. Schon nach dem ersten Akt dröhnten Beifallssalven, nach dem zweiten schwieg das Publikum in tiefer Ergriffenheit, um dann in einen Sturm der Begeisterung auszubrechen, und nach Schluß tobte es so lange, bis Direktor Hohlbaum die Bühne betrat und eine Ansprache hielt:

»Der unglückliche Autor kann der Krönung seines Lebenswerkes nicht beiwohnen. Hinter Gefangnismauern büßt er entsetzliche Verbrechen, die wir, da wir sein Drama kennen, weniger als je zuvor verstehen können. Eine seltsame, tragische Vereinigung von Genie und Irrsinn erlebt die erschütterte Menschheit und wir können nichts tun, als die irdische und himmlische Gerechtigkeit anflehen, auf daß Thomas Hartwig, dessen Name aus der deutschen Literatur nicht mehr schwinden wird, in einer Heilstätte genesen und dem Leben wiedergegeben werde.«

Verwirrt, unsicher, verlegen klatschte das Publikum dem Direktor Beifall. Es hätte gar zu gerne »Hoch Hartwig!« gerufen, aber das ging denn doch nicht. Ein Mensch, der fünf Frauen ermordet hat — — —!

Die Kritiker rasten in ihre Redaktionen und schrieben Feuilletons, in denen die Bedeutung des Stückes restlos anerkannt wurde. Man hatte schließlich nicht immer so gute Gelegenheit, genau so zu schreiben, wie man empfand. Bei lebenden Autoren gab es allerlei Rücksichten, Bedenken, persönliche Angelegenheiten, über die man nicht ganz hinwegkam. Aber Hartwig war tot oder doch so gut wie tot — — —

Joachim von Dengern begab sich aber sofort, nachdem der Vorhang zum letztenmal gefallen, zu der Garderobe, die zu den Sitzen des Fräuleins Fröhlich und der Frau Lammlein gehörte, drängte sich dann an Lotte heran und flüsterte ihr rasch einige Worte ins Ohr, die das Mädchen veranlaßten, sich von Frau Lämmlein zu verabschieden und mit Dengern ein Weinrestaurant zu besuchen, in dem sie bis nach Mitternacht zusammen blieben.

Die Bombe platzt!

Der Verhandlungsbeginn war wieder auf zehn Uhr festgesetzt, aber schon eine Stunde vorher umstand eine unübersehbare Menschenmenge das Gerichtsgebäude. Konnte man schon nicht in den Saal hinein, so wollte man doch durch die ein und aus gehenden Berichterstatter und durch Gerichtsdiener, die Zigarren nicht unzugänglich waren, allemal erfahren, was vor sich ging. Ganz Berlin fieberte ja in Aufregung, es gab keinen anderen Gesprächsstoff, sogar in den Schulen wirkte die Spannung unter den Schülern und Lehrern störend auf den Unterricht.

Würde Hartwig ein glattes Geständnis ablegen? Vielleicht sogar ein Geständnis von mehr Morden, als ihm nachgewiesen worden waren? Oder würde es zu einer ungeheuren Überraschung kommen, sich herausstellen, daß nicht Hartwig der Mörder ist, sondern ein anderer, den er retten will? Wüste Gerüchte begannen sich zu verbreiten. Hartwig hat in seiner Zelle Selbstmord begangen! Nein, er lebt, aber ist in Tobsucht verfallen! Plötzlich von Mund zu Mund: Der Reichskanzler kommt, um der Verhandlung beizuwohnen und den Mörder gleich nach dem Urteilsspruch zu begnadigen!

Die Automobile und Droschken rollten mit den glücklichen Besitzern von Einlaßkarten vor. Und immer neue Persönlichkeiten kamen, die man nicht abweisen konnte, so daß hinter den Sitzreihen im Schwurgerichtssaal ein Stehparterre entstand. Hohe Generäle, bedeutende Parlamentarier, berühmte Dichter und Publizisten. Im letzten Augenblick, Punkt zehn Uhr, wurde wirklich gemeldet, daß der Reichskanzler in Gesellschaft des Reichstagspräsidenten erschienen sei. Für die beiden Herren wurden Stühle dicht neben die Bank des Angeklagten eingeschoben.

Nun betrat der Gerichtshof den Saal, sammelten sich die Geschwornen, wurde der Angeklagte hereingeführt. Alle waren blaß, übernächtig erregt. Hartwig, nicht weniger als der Präsident, der Staatsanwalt und sein Verteidiger. Sogar der Entenschnabel zitterte vor Aufregung am ganzen Leibe und ließ kein Auge vom Reichskanzler. Welche Ehre, welch ereignisreicher Tag für den Stammtisch!

In dem Augenblick, als der Präsident die Verhandlung für eröffnet erklärte, sprang Joachim von Dengern vor. Der Präsident gab ihm das Wort.

Joachim von Dengern stand starr und unbeweglich da, hielt die Augen halb geschlossen und begann mit lauter, aber eintöniger Stimme, als wurde es sich um Gleichgültiges und Selbstverständliches handeln:

»Ich habe gestern gesagt, daß ich noch einige wichtige Erhebungen vorhabe. Diese Erhebungen sind mir voll und ganz geglückt und ich bedauere nur, daß ich zu der abschließenden Erkenntnis, die ich jetzt besitze, nicht schon früher gekommen bin, weil ich dann dem hohen Gerichtshof und den Herren Geschwornen sowie den Zeugen diesen Prozeß hätte ersparen können.«

Hört!-Hört!-Rufe, Unruhe, der Präsident schlägt auf den Tisch und bittet die Anwesenden, sich jeder Störung zu enthalten. Dengern aber fährt fort:

»Herr Präsident werden mir wohl gestatten, ein wenig ausführlich zu sein und in großen Zügen das Ergebnis meiner Nachforschungen, die ich seit Monaten unter stetem Zweifel und schweren Bedenken betrieben habe, zu rekapitulieren. Vorweg möchte ich nur betonen, daß wir alle leider von allem Anfang an von falschen Voraussetzungen ausgegangen sind. Die Polizei, der Untersuchungsrichter, die Staatsanwaltschaft und nun dieses Gericht haben die Überzeugung gehabt und haben sie zum Teile noch, daß fünf Frauen verschwunden sind, die von einem Unhold ermordet wurden. Dem ist aber nicht so. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um fünf Mädchen, sondern immer um ein und dasselbe, und dieses eine Mädchen ist gar nicht verschwunden, wurde nicht ermordet, sondern lebt und befindet sich in diesem Augenblick draußen auf dem Korridor, wo es seiner Vernehmung harrt.«

Der Tumult, der nach diesen Worten ausbrach, läßt sich nicht schildern. Die Richter, die Geschwornen, die Zuhörer sprangen auf, ein wüstes Durcheinander entstand, Rufe wie »Unerhört!«, »Der Kerl ist wahnsinnig geworden!« wurden laut, der Präsident mußte sich heiser schreien, um endlich die Ruhe und Ordnung halbwegs wieder herzustellen. Und nun richteten sich sämtliche Blicke Hartwig zu, der mit gekreuzten Armen und von Purpurröte übergossenem Gesicht dasaß und hilflos verlegen lächelte. Der Präsident: »Ich begreife die Erregung aller Anwesenden, muß aber nun denn doch um volle Ruhe bitten, da ich sonst gezwungen wäre, den Saal räumen zu lassen.« Der Staatsanwalt hielt nicht länger an sich, er fühlte das dringende Bedürfnis, ebenfalls seinen Senf dazuzugeben, und sagte mit knarrender Stimme:

»Herr Kriminalkommissär, Ich muß Sie wohl nicht nachdrücklich daran erinnern, daß jedes Ihrer Worte unter Eid steht!«

»Nein, das müssen Sie nicht, Herr Staatsanwalt.« Stille Heiterkeit flog durch den Raum. Dengern sprach weiter:

»Ich möchte jetzt feststellen, daß ich von dem Augenblick an, da mir die Polizei die Nachforschung nach dem vermutlichen Frauenmörder übertrug, von starken Bedenken gequält wurde. Gestatten Sie, daß ich zurückgreife. Fünf Berliner Vermieterinnen zeigten das Verschwinden ihrer Mieterinnen an. Die Namen der fünf sind von einer lächerlichen Häufigkeit. Namen, die in Berlin zu vielen Hunderten, im kleinsten deutschen Städtchen aber dutzendweise vorkommen. Gut, Zufall oder System des Mörders, sich Opfer mit solchen häufigen Namen auszusuchen. Wir ließen uns von den Frauen die verschwundenen Mädchen beschreiben. Es kam nicht viel dabei heraus. Braun, schwarz, rötlich, Zwicker — aber kein besonderes Merkmal. Vergebens wartete ich auf ein erlösendes Wort, auf eine greifbare Sonderheit, auf schielende Augen, ein Hinken, eine auffällige Nase, einen Mund, den man sich merkt. Die Größe, die Figur? fragten wir ungeduldig. Wieder farblose Antworten. Schlank, mittelschlank, das Fräulein Cohen sogar üppig. Alles schließlich Ansichtssache und veränderlich. Aber mittelgroß! Dieses Wort kam von jeder der fünf Vermieterinnen, jede war sich auch auf eindringliches Befragen darüber klar, daß die Verschwundene nicht besonders groß, nicht besonders klein, sondern mittelgroß gewesen sei.

Das gab mir zu denken, erweckte zuerst unklare, kaum die Schwelle des Bewußtseins erreichende Zweifel in mir. Ich stellte mich an einem der nächsten Tage an der Ecke der Linden- und der Friedrichstraße auf und ließ eine volle Stunde hindurch die Menschen an mir vorbeigehen. Teilte immer je fünf vorbeieilende Frauen in eine Gruppe ein und kam zu folgendem Resultat: Hundert Fünfergruppen zogen an mir vorbei und nicht ein einziges Mal kam es vor, daß jede Gruppe aus mittelgroßen Frauen bestanden hätte. Immer mindestens eine Frau war sehr groß oder sehr klein. Immerhin — ich zerstreute gewaltsam meine Bedenken, ließ die Zweifel nicht aufkommen, gab dem Zufall, dieser bequemsten aller Ausreden, schuld.

Noch etwas hatte mich stutzig gemacht. Die eine der Frauen betonte, daß ihre Mieterin auffallend kleine Füße gehabt habe, so kleine, daß das Dienstmädchen seine Verwunderung über die Kleinheit der Schuhe aussprach. Während dieser Erklärung lagen die zurückgebliebenen Gegenstände der Verschwundenen vor uns. Ich durchforschte rasch die Sachen des Mädchens mit den kleinen Fußen und stieß auf zerrissene Strümpfe Nummer zwei und auf elende, zertretene Halbschuhe, die mir sehr groß erschienen und nachher von einem Schuhmacher als Nummer einundvierzig erkannt wurden. Wie kam ein Mädchen mit auffallend kleinen Füßen zu solch auffallend großem Schuhwerk? Leider entwickelte ich meine Bedenken nicht logisch fort, sondern irrte ab und sagte mir: Diese Grete Möller ist ein armes Ding, das froh war, wenn ihm bei diesen teuren Zeiten einmal eine Dame ein Paar Schuhe schenkte. Heute sehe ich ein, daß die Schlußfolgerung leichtfertig und ein arger Verstoß gegen die Erkenntnis der weiblichen Mentalität war. Ich hätte mir sagen müssen, daß ein Mädchen mit kleinen Füßen eher hungern wird, als plumpe, große Schuhe tragen.«

Vereinzeltes Lachen unterbrach die Totenstille. Der Reichskanzler aber murmelte in tiefem Baß dem Reichstagspräsidenten zu: »Der reinste Sherlock Holmes.«

Dengern sprach ruhig weiter.

»Und noch etwas: Der trostlose Zustand der hinterlassenen Kleidungsstücke aller Verschwundenen war ein unantastbarer Beweis für ihre Armut. Und doch hatte jede für längere Zeit die Miete vorausbezahlt. Auch das war auffällig und erweckte ein unbehagliches, unsicheres Gefühl in mir. Da ich aber um jeden Preis an einen Frauenmörder glauben wollte, unterdrückte ich dieses wie jedes andere Bedenken und begann nach einer Fährte zu suchen. Was weiter geschah, habe ich bei meiner gestrigen Vernehmung ausführlich geschildert. Mit unerhörter Ungeschicklichkeit lief mir der, Mann in die Arme, der die Heiratsannonce unter der Chiffre »Jdylle an der Havel« aufgegeben hatte. Mit einer Unvorsichtigkeit, die mir wieder verdächtig erschien. Aber Beweis reihte sich an Beweis, alles stimmte und klappte, das Material war erdrückend, so sehr, daß es jeden Zweifel in mir erstickte. Auf dem Umweg über eine junge Dame, Redaktionssekretärin des »Herold«, machte ich die Bekanntschaft des Thomas Hartwig. Diese junge Dame, Fräulein Lotte Fröhlich, wurde von mir in den Fall Hartwig nicht verwickelt. Einerseits, weil ich dies Hartwig bei seiner Verhaftung versprochen, andererseits, weil ich sie für absolut unbeteiligt an den Verbrechen Hartwigs gehalten hatte. Tatsachlich würde sich nicht das geringste geändert haben, wenn ich sie als Zeugin vorgeführt hätte.

 

Nachdem ich mit Thomas Hartwig eingehend unter falscher Flagge gesprochen und ihn dann verhaftet hatte, waren mir die Motive seines entsetzlichen Handelns ziemlich klar. Ein sentimentaler Mensch, Schwärmer, romantisch veranlagt. Solche Leute sind leicht geneigt, das Unwahrscheinlichste zu tun, Heldentaten ebensogut wie Verbrechen. Sie lassen sich kreuzigen, aber sie sind auch fähig, Bomben zu werfen. Das Besondere an Hartwig aber: Er weiß, daß er ein großer Könner, ein genialer Dichter ist, und sieht dabei keine Möglichkeit, den Wall von Hindernissen, die sich ihm entgegenstellen, zu übersteigen. Sein Buch wird nicht gelesen, sein Stück nicht aufgeführt, er hat kein Geld, oft nicht satt zu essen, ist schwächlich, fühlt, daß er das elende Leben nicht lange ertragen kann, wird von dem Gedanken geschreckt, das Erbteil seiner Mutter, Lungentuberkulose, könnte auch ihn erfassen, wenn er nicht in die Lage kommt, sich kräftig zu nähren, gut zu leben. Dazu kommt noch sein Verhältnis zu Lotte Fröhlich, einem schönen, alle Sinne reizenden, klugen Geschöpf, das er ebenso liebt wie es ihn. Er wird immer verzagter, aber auch seine Entschlossenheit wächst, durch eine Gewalttat seine Lage zu verbessern, so daß er ausharren, seinen Roman und das Drama durchsetzen Lotte heiraten kann. Und da er, wie er mir ja auch im Gespräch sagte, seinen eigenen Wert hoch über den anderer Menschen stellte, war er schließlich zu jedem Verbrechen bereit.

Zu jedem, aber zu welchem Verbrechen? Einen Raubmord begehen — das ist leicht gesagt, aber schwer getan! Zu jedem erträgnisreichen Verbrechen gehören Genossen, Vorschule, besondere verbrecherische Eigenschaften. Nichts von dem hat Hartwig. Und er mag lange genug gegrübelt und nachgedacht haben, bis er auf die entsetzliche Idee kam, sich die leichtesten Opfer, heiratstolle, alleinstehende Mädchen auszusuchen.«

Eine Atempause, in der sich auch die Erregung der Zuhörer Luft machte. Wohinaus wollte dieser unheimliche Dengern? War nun Hartwig der Mörder oder nicht? Fragend sah der Reichskanzler den Präsidenten an, dieser zuckte die Achseln. Hartwig aber war jetzt ganz blaß und hielt den Kopf so gebeugt, daß man sein Gesicht nicht sah. Dengern sprach weiter.

»Trotz dieser logischen Kette packten mich immer wieder neue Zweifel, schrie immer wieder eine innere Stimme mir zu: Thomas Hartwig ist kein Mörder! Schlimme Tage und schlaflose Nächte kamen für mich, ich begann tastende Versuche nach anderen Richtungen zu machen, forschte abermals auf eigene Faust nach Spuren der Verschwundenen — alles vergebens, alles wies auf Hartwig hin, der nicht sprechen wollte, nicht leugnete und nicht gestand.

Eines Tages kam ich dem Rätsel gewaltig näher, nur daß ich leider die Lösung mißverstand. Ich schlich mich in das Zimmer, das Fräulein Lotte bewohnt, hatte aber wenig mehr als drei oder vier Minuten Gelegenheit, mich in ihm allein aufzuhalten. Es fiel mir nichts Besonderes auf: fast instinktiv griff ich nach Büchern, die auf einem kleinen Ständer lagen und bekam zufällig einen alten französischen Roman in die Hand, den, wie ich aus dem Exlibris ersah, Hartwig seiner Geliebten geborgt haben mochte. Ich schlug ohne Zweck und Ziel das Buch auf, stieß an eine Stelle, die mit Bleifeder angestrichen und an der Seite mit einem Ausrufungszeichen versehen war. Blitzschnell las ich den Satz. Er lautete:

‚Damals war ich so weit, daß ich einen Mord hätte begehen können, nur um aus dem Dunkel emporzusteigen.‘

An der Seite aber stand neben dem Ausrufungszeichen mit Bleifeder geschrieben: ‚Vielleicht eine Lösung auch für uns!‘

Nun aber muß ich mich selbst sträflichen Leichtsinnes beschuldigen. Es wäre meine Pflicht gewesen, das Buch einzustecken und auf seinen Inhalt sowohl als auf die Autorschaft der Randbemerkung zu untersuchen. Ich tat dies nicht, weil ich keinen Grund zu haben glaubte, Lotte Fröhlich hereinzuziehen und die Bemerkung, die ich ohne weiteres Hartwig zuschob, nur als kleines Glied in meiner Beweiskette einschätzte. Vielleicht daß er durch dieses Buch auf die Idee, Frauen zu ermorden, gekommen war. Aber wie belanglos wäre dies schließlich der nüchternen Justiz gegenüber gewesen!

Die Untersuchung gegen Hartwig ging ihrem Ende entgegen, die Staatsanwaltschaft erhob die Anklage, der Prozeßtermin wurde festgesetzt. Mir war während dieser ganzen Zeit recht übel zumute, und je öfters mir der Herr Staatsanwalt versicherte, daß das Beweismaterial gegen Hartwig erdrückend sei, desto schwerer wurden meine Bedenken. Immer sah ich die blauen, gütigen Knabenaugen Hartwigs auf mich gerichtet, die mir zu sagen schienen: Du Narr, du, glaubst du wirklich, daß ein Mensch wie ich die Fähigkeit hat, armselige Frauen, die ihm kein Leid getan, zu erwürgen, in den Fluß zu werfen, zu vergraben? Wo bleibt deine Menschenkenntnis? Sagst du dir nicht, daß ein Mann wie ich vielleicht einem Impuls folgend ein großes Verbrechen begehen kann, nicht aber fünf überlegte Morde hintereinander?

Einen Tag vor dem Beginn des Prozesses war ich so weit, daß ich aus dem Polizeidienst austreten und öffentlich meine Überzeugung von der Unschuld Hartwigs erklären wollte. In dieser Stimmung begab ich mich hieher, ließ mir nochmals die Briefe der Verschwundenen geben, um sie Buchstaben auf Buchstaben zu prüfen. Es fiel mir wieder nichts an ihnen auf und gegen meine Überzeugung brachte ich sie einem bekannten Graphologen, der auch vor Gericht oft als Sachverständiger erscheint. Ich halte von Graphologie nicht so viel wie die meisten meiner Berufsgenossen, bin überzeugt davon, daß in zahllosen Fällen die Art der Handschrift viel mehr von dem Schreiblehrer beeinflußt ist als vom Charakter, und weiß, daß mancher Justizirrtum auf graphologische Urteile zurückzuführen ist. Auch Professor Hennes, der Graphologe, den ich aufsuchte, konnte mir nichts Wesentliches sagen. ‚Es sind die manierierten, affektierten Schriftzüge von Frauen, die sorgfältig schreiben, um auch mit ihrer Schrift einen guten Eindruck zu erwecken,‘ sagte Professor Hennes. ‚Würde es sich um Tagebuchblätter, die nicht für eine zweite Person bestimmt sind, handeln, so ließe sich allerlei herauslesen. Immerhin — etwas fällt mir auf: In allen fünf Briefen liegt der Schlußpunkt nach jedem Satz nicht so tief, wie er sollte, sondern um etwa einen Millimeter zu hoch. Aber das ist nicht so selten und gestattet keine weitgehenden Schlüsse.‘

So der Graphologe. Mir aber kamen allerlei seltsame Gedanken, ich ahnte neue Möglichkeiten. Die fünf Briefe waren vom dritten Juni datiert, dem Tag, an dem die Anzeige im ‚Generalanzeiger‘ erschienen war. Die Poststempel hatte ich kaum beachtet, da sie überaus verwaschen und undeutlich waren. Allerdings hatte ich aus drei der Poststempel ersehen, daß die Briefe von dem Postamt Berlin SW 8 behandelt und abgestempelt worden waren, was aber schließlich ganz bedeutungslos ist. Nunmehr aber, durch die Worte des Graphologen auf eine neue Möglichkeit gebracht, nahm ich bei mir zu Hause ein Vergrößerungsglas zur Hand und konnte feststellen, daß alle fünf Briefe Berlin SW 8 aufgegeben waren. Bei drei Briefen konnte ich auch den Datumstempel 3. VI. entziffern, also dritter Juni. Bei den restlichen zwei Briefen war der Datumstempel so undeutlich, daß ich keine genaue Feststellung machen konnte. Je länger ich aber durch mein Vergrößerungsglas auf die blassen, kaum angedeuteten Zeichen sah, desto stärker wurde in mir die Überzeugung, daß es auf diesen zwei Briefen nicht 3. VI., sondern 2. VI. hieß.