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Das blaue Mal

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Unweit des Palace Hotel glitt nun die Gondel in den Sand. Der Gondoliere hatte noch die Unverfrorenheit, dabei zu sagen: »Ich bekomme fünf Lire, mein Herr.« Da war Zeller auch schon mit einem Sprung aus dem Fahrzeug draußen, und sich unterhalb des Schnabels anklammernd – in der Meinung, durch den hohen Schnabel gedeckt zu sein – schrie er aus Leibeskräften: »Hilfe, Hilfe!«

Aber er mußte sich allem Anschein nach doch nicht gut gedeckt haben. Der Gondoliere hob das schwere Ruder in die Höhe, und mit der ganzen Kraft, die ihm seine tödliche Angst jetzt eingab, ließ er es auf Carlo niedersausen. Er traf ihn auf den Kopf. Ohne noch einen Laut von sich zu geben, sank Carlo nieder. Schnell entfernte sich die Gondel, die nach einigen Sekunden bereits wieder draußen im Meere schwamm.

* * *

Das Hotel lag im tiefen Schlafe. Ein einziger Mensch wachte noch, der auch die Hilferufe vom Strand herauf gehört hatte. Der hünenhafte, schwarze Portier war es, der eben das Haustor zu versperren im Begriffe war. Jetzt lauschte er hinaus: kein Ruf mehr, nichts; aber es war ihm, als ob er das Knirschen des Sandes unter einem abstoßenden Boote vernehme. Furchtlos, ohne Zaudern, griff er nach einer in seiner Loge hängenden Handlampe und nach einem starken Stock und stürzte hinaus, in jene Richtung, aus der die Schreie ertönt waren. Der starke Schein der Lampe leuchtete vor ihm den Boden ab. Und da, fast hätte er vor Schreck aufgeschrien, sah er eine Gestalt vor sich auf dem Boden liegen, die Füße beinahe schon bedeckt vom Meer, denn es nahte die Flut. Er beugte sich über den Ohnmächtigen und erkannte Carlo Zeller. Über die Stirn sickerte Blut.

»Armer, armer junger Mensch,« entfuhr es Tommy, der mit ungeschickten Fingern nach dem Puls des Ohnmächtigen suchte. Als er dabei mit seiner Lampe die Hand Carlos ableuchtete, fiel sein Auge auf die blauen Monde an den Nägeln des Terzeronen. Tief erschüttert zog er die schmale Hand an seine Lippen, und in einer unwillkürlichen Regung küßte er sie, die Hand des Bruders.

Nun war sein Eifer, zu helfen und Rettung zu bringen, ein verdoppelter. Er hob mit seinen starken Armen den Jüngling in die Höhe und, die Lampe zwischen den Zähnen, trug er ihn hinauf in die Hall des Hotels, wo er ihn auf eine Lederbank bettete. Er weckte sofort einen Groom, dem er befahl, einen im Hotel wohnenden Arzt zu holen und auch Herrn von Ströbl, von dem er wußte, daß er der Reisegefährte und vertraute Freund des Verunglückten sei. Der Arzt, ein Herr aus Berlin, erschien sehr bald, etwas später erst Ströbl, der am Abend wieder ziemlich viel getrunken hatte und nicht so leicht aus seinem schweren Schlaf zu reißen gewesen war.

Gemeinsam trugen sie Zeller in sein Zimmer, wo ihn Tommy mit einer Behutsamkeit, die man dem plumpen Riesen gar nicht zugetraut hätte, entkleidete und bettete.

Darauf wusch der Arzt das Blut ab und untersuchte die Wunde. Er fand eine Rißquetschwunde, die sich links vom vorderen Schädeldach bis in die Stirn knapp über das Auge hinzog. Der Knochen war aber nirgends verletzt, und der Arzt konnte Ströbl die Versicherung geben, daß es sich, zumindest, was die blutige Verwundung anbelangte, um einen harmloseren Fall handle, als es im ersten Augenblick geschienen hatte.

Clemens von Ströbl übernachtete auf dem Sofa im Zimmer. Carlo, der bereits zu fiebern anfing, erzählte in abgerissenen Worten das Abenteuer. Ströbl machte sich bereits seine Gedanken darüber, wer der Urheber des Attentates sein könne, und wollte im Interesse Carlos einen Skandal vermieden wissen.

Zeller erwachte am Morgen noch immer mit Fieber.

»Ich würde empfehlen, eine Krankenwärterin zu nehmen, wenn es sich bisher auch nur um Erscheinungen des gewöhnlichen Wundfiebers handelt,« sagte der Arzt, der bereits um 8 Uhr wieder an dem Bette Carlos erschienen war.

Ströbl ging nun hinüber zu Kehlhausen, dem er Bericht erstattete über das, was sich in der Nacht zugetragen. Sodann suchten sie gemeinsam die Salagna auf. Als Beate von dem Unglücksfall erfuhr, erblaßte sie und begann zu zittern. Nachdem sie sich erholt hatte, erfaßte sie maßlose Empörung gegen Capitano Alberti, der, das stand bei ihnen allen fest, hinter der Untat stand.

»Wenn der Kerl es wagt, heute vor meine Augen zu treten, so ohrfeige ich ihn öffentlich ab und übergebe ihn der Polizei.« Ströbl und Kehlhausen hatten große Mühe, sie zu beruhigen.

»Wir müssen uns jetzt nach einer Pflegerin umsehen,« sagte Clemens von Ströbl, mit Kehlhausen sich zum Gehen wendend.

»Warum eine Pflegerin?« hielt Beate Salagna die beiden zurück. »Ich werde ihn pflegen,« erklärte sie fest. Und als sie den Blick merkte, der zwischen den zweien jetzt getauscht wurde, fügte sie mit verächtlichem Lachen hinzu: »Denken Sie, was Sie wollen, das ist mir gleichgültig.«

Sie führten sie hinüber zu dem Verunglückten. Als dieser Beates ansichtig wurde, leuchteten seine Augen auf und er sprach die ersten Worte: »Ich freue mich, ich freue mich ...« wobei er versuchte, ihre Hand zu küssen.

Dies wehrte sie aber ab: »Lassen Sie das, ich werde Sie pflegen, bis Sie gesund sind.« Zu Ströbl und Kehlhausen gewendet, sagte sie: »Ich glaube, daß es nicht gut tut, wenn so viele im Zimmer anwesend sind. Vielleicht will Carletto wieder schlafen. Schicken Sie mir aber den Arzt gleich herauf, damit er mir Verhaltungsmaßregeln geben kann.«

Sie richtete mit sanfter Hand Carlos Polster, ließ die Jalousien wieder herab, und sich mit einem Roman, den sie auf den Tisch fand, hinaus auf den Balkon setzend, überwachte sie den Schlaf, in den Carlo, ein zufriedenes, verklärtes Lächeln auf den Lippen, bald darauf verfiel.

Die beiden Rheinsperg, empört wie sie waren, andererseits aber zu korrekt, um einen Menschen ohne Beweise eines so schweren Verbrechens zu bezichtigen, fuhren nach Venedig, um auf eigene Faust zu recherchieren. Was sie ans Licht brachten, erlaubte jedoch fast keinen Zweifel mehr daran, daß der Gondoliere, der Zeller geführt hatte, eine gedungene Kreatur gewesen war. Und Carlo Zeller hatte ja ringsum keinen anderen Widersacher als den Capitano Alberti. Die beiden Rheinsperg erfuhren nämlich durch Umfragen bei den Gondolieren der Piazetta, daß der Ruderer, der sich Carlo geradezu aufgedrängt hatte, unter ihnen völlig unbekannt sei und noch niemals an der Piazetta gelegen hatte. Er habe gegen halb zwölf Uhr nachts an den Stufen angelegt; Passagieren, die ihn angesprochen hätten, habe er unter allen möglichen Vorwänden die Fahrt verweigert. Aus der Gruppe der drei Herren, die vom Danieli her nach Mitternacht an den Halteplatz gekommen seien, hätten schon von weitem ein paar Pfiffe ertönt, die ersten Takte eines bekannten Gassenhauers. Auf diese Pfiffe hin habe sich der Gondoliere sofort erhoben, um dem Herrn in Zivil seine Dienste anzubieten.

Diese Nachrichten brachten die Barone in der Mittagsstunde mit. Vor Zeller wurden sie geheim gehalten, um ihn nicht zu erregen.

Alberto Alberti hatte die Kühnheit, zur Stunde des Tees im Terrassencafé des Hotels zu erscheinen. Der Kreis, soweit er eingeweiht war, empfing ihn mit auffallender Reserve. Als der Kapitän vom Unglücksfall Carlos hörte, gebärdete er sich überaus entrüstet und sehr teilnahmsvoll, versprach selbst eine Untersuchung bei der Polizeidirektion anzuregen und wünschte, von Fräulein Salagna Information über das Befinden des Herrn Zeller zu erhalten. Da sich niemand anschickte, ihn zu begleiten – auch die anderen der Gesellschaft, Obolensky, Liane Lenoir und Miß Pearson, wahrten Alberti gegenüber, als sie das Benehmen der übrigen bemerkten, das ihnen zu denken gab, frostige Zurückhaltung – ging er allein hinauf. Durch das Stubenmädchen ließ er die Salagna herausrufen. Eine Sturzwelle von Fragen wollte sich über sie ergießen. Aber nach den ersten Ausdrücken seiner Teilnahme fuhr sie ihm ins Wort, ihn vom Scheitel bis zur Zehe messend.

»Ich bewundere Ihre Frechheit! – Verschonen Sie mich gefälligst in Zukunft mit Ihrer Anrede.« Sie drehte ihm den Rücken zu, um ins Zimmer zurückzukehren.

Capitano Alberti verfärbte sich: »Was soll das heißen, mein Fräulein?« fragte er mit heiserer Stimme.

Aber hinter Beate war bereits die Tür ins Schloß gefallen.

Ohne der Gesellschaft im Café Adieu zu sagen, verließ der Capitano das Hotel, und zwei Tage später auch Venedig.

Langsam legte sich Carlos Fieber, er wurde wieder munter und ging seiner Genesung entgegen. Beate pflegte und betreute ihn unermüdlich und auf das sorgfältigste, nicht nur von ihrer erwachenden Liebe geleitet, sondern auch aus ihrer Reue heraus. Denn sie klagte sich selbst an, durch ihre Koketterie mit Alberti diesen in falsche Hoffnungen versetzt und auf eine törichte Weise eifersüchtig gemacht zu haben, an dem schweren Mißgeschick, das Carletto getroffen hatte, indirekt schuldig zu sein.

Der Zwischenfall hatte dem ganzen Kreis die Lust an einem weiteren Aufenthalt genommen. Man hatte nur rücksichtsvoll Zellers Gesundung abgewartet, um sodann den Lido zu verlassen und sich in alle Winde zu zerstreuen.

Carlo und Beate waren übrigens die ersten, die abreisten. Um einem umständlichen Abschied zu entgehen, stahlen sie sich eines Tages mit frühester Morgenstunde fort, den Freunden heiter gehaltene Grüße hinterlassend. Sie fuhren an den Gardasee, nach Riva. An den stillen Ufern dieses Sees von wunderbarster Bläue, unter Platanen und Zypressen und vor Reife geschwellten Trauben, genossen sie unbelauscht und ungestört die ersten Wochen ihrer jungen Liebe. Erst ein Schreiben an die Sängerin von ihrem Direktor, das sie nach Wien zum Studium einer neuen Rolle zurückrief, machte anfangs September diesen Tagen vollkommensten Glückes, hochaufwogender Leidenschaft, ein Ende.

In Wien überschüttete Carlo Beate mit kostbaren Geschenken. Er fühlte sich für so viel genossene Wonnen tief in ihrer Schuld, und es war ihm Bedürfnis des Herzens, seinem Dank auch äußeren Ausdruck zu verleihen.

 

Mit dem Ende des Monats brach dann allerdings eine Zeit böser Sorgen für ihn an. Vor allem war die Schuld an Herrn Herlinger zu begleichen, der nicht darnach aussah, als ob er auf eine Prolongierung eingehen würde.

»Ja, mein Lieber, – jetzt heißt es einmal nach Graz fahren und beichten,« sagte Ströbl, innerlich nicht ohne Schadenfreude, Carlo in solcher Klemme zu sehen. Denn allmählich erweckten die Erfolge des Freundes doch seinen Neid, und er spürte auch, wie Zeller der Abhängigkeit langsam entwuchs, wie der Schüler langsam über den Meister hinauswuchs. »Ich möchte dir empfehlen, lieber gleich 15.000 zu beichten, denn mit so viel, kalkuliere ich, wirst du jetzt hängen.«

»Mit mehr,« gab Zeller niedergedrückt zur Antwort. Er hatte eine Aufstellung seiner Schulden gemacht, war zu einem Betrag gekommen, der sich nicht weit unter 20.000 Kronen hielt. Im Augenblick bestritt er seine Lebensführung, die sich aber in nichts von seiner sonstigen unterschied, von dem Geld, das ihm der Diener Franz, die gute Seele, vorgestreckt hatte.

Er fuhr also nach Graz.

Professor Wendrich – im letzten Jahre stark gealtert und verfallen, war von dem Besuch ebenso überrascht als erfreut. Und Carlo, beschämt, von Wendrich als braver Junge gelobt zu werden, traute sich zwei Tage lang mit der Wahrheit nicht heraus. Es war für ihn eine wahre Qual, von dem Fortgang seines Studiums, seinem Umgang, seinem Lebenswandel, Absichten, Plänen berichten zu müssen. Schließlich aber kam der Augenblick, wo er Farbe bekennen mußte: Seine Sommerreise habe viel Geld verschlungen, sein Unglücksfall, der Sturz aus dem Boot, habe ihn auch genug gekostet, die fremden Arzte seien ja so teuer, auch sei ihm während der Reise ein Koffer mit wertvoller Garderobe, die ersetzt werden müsse, abhanden gekommen, in der Wohnung seien einige Reparaturen und Neuanschaffungen bereits sehr nötig – kurz, er brauche dringend 20.000 Kronen.

Blaß bis in die Lippen, beinahe nach Atem ringend, lehnte der Alte in seinem Armstuhl. 20.000 Kronen, das war für seine Begriffe ein kleines Vermögen. Als er sich vom ersten Schreck erholt hatte, sparte er nicht mit schweren Vorwürfen und wurde so heftig, wie ihn Carlo noch nie gesehen hatte.

»Du scheinst mir ja ein recht nettes Leben zu führen! Du bist ein Taugenichts geworden, ein Verschwender, mit dem es ein böses Ende nehmen wird. Nein, nichts da, du bekommst nichts!«

Carlo trat der Angstschweiß auf die Stirne. Er hatte nach allen Seiten sein Ehrenwort verpfändet. Herlinger würde sich prompt an Professor Wendrich wenden, und selbst wenn er sein ganzes Mobiliar verkaufte, würde er nicht imstande sein, seine Schulden zu tilgen.

»Na, was machst du jetzt, wenn ich dir die 20.000 Kronen nicht zur Verfügung stelle, he, was machst du? Revolver, wie?«

Carlo gab keine Antwort. Er fühlte die lauernde Angst aus Wendrichs Frage heraus und machte sich dies zunutze. Er nickte, den Kopf gesenkt.

»Du hast da und dort Geld aufgenommen, natürlich, jetzt rückt man dir auf den Leib!«

Carlo begann zu bitten und zu betteln, versprach Einkehr, Besserung. Nach langem, langem Bemühen gelang es ihm endlich, Wendrich zu erweichen und einen Scheck auf 20.000 Kronen zu entlocken.

Am nächsten Vormittag trat Carlo die Rückreise an. Professor Wendrich hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn auf die Bahn zu begleiten. Nun schritt er, ein altes, gebücktes Männchen, mit einem schlohweißen Spitzbart, auf dem silberweißen, langen Haar einen großen, schwarzen Kalabreser, am Arm des Jungen auf und ab, ihm Ermahnungen und Belehrungen mitgebend und ihm nochmals das Versprechen einer gründlichen Besserung abnehmend. Plötzlich, mitten in seiner Rede abbrechend, blieb er stehen und zog vor zwei Damen, einer älteren, großen, ziemlich korpulenten mit grauem Haar und einer jungen, hübschen, frischen, blauäugigen Blondine, den Hut.

»Welche Überraschung! Sie wieder einmal hier in Graz, Frau Oberst? Vor der Abreise? – Und Sie haben es nicht der Mühe wert gefunden, den alten Freund Wendrich aufzusuchen?« – Er drohte mit dem Finger. »Das Fräulein Lisl sieht ja glänzend aus, immer hübscher wird das Kind, immer hübscher.«

»Sie müssen die Vernachlässigung entschuldigen, lieber Professor,« sagte Frau Oberst Ortner. »Wir haben uns nur zwei Tage aufgehalten und sind aus dem Hause meines Vaters nicht herausgekommen.«

»Ja, ja, ich hörte, der Herr Hofrat Braun fühlte sich leidend. Aber gestatten die Damen, daß ich Ihnen mein Mündel, Herrn studiosus juris Carlo Zeller vorstelle.«

Die Damen reichten Carlo, der ziemlich gelangweilt bis jetzt daneben gestanden hatte, die Hand.

»Ach, der Sohn Ihres Jugendfreundes, von Professor Rudolf Zeller?« meinte Frau Oberst wohlwollend.

»Jawohl, das ist er.«

Man promenierte nun zu viert auf dem Perron, die Einfahrt des Schnellzuges abwartend.

»Carlo, der auch nach Wien fährt, wird sich den Damen sicherlich gern zur Verfügung stellen,« meinte Professor Wendrich, der mit einer solchen Bemerkung Zeller freilich keine besondere Freude machte. Denn für sogenannten Familienanschluß, den Umgang mit ehrsamen, spießbürgerlichen Offizierswitwen und deren Töchter, hatte er wenig Vorliebe. Auch war er gewöhnt, erster Klasse zu reisen, und man sah es den beiden Damen an, daß sie sicherlich nur zweite Klasse fuhren. Doch blieb ihm nun nichts übrig, als zu sagen: »Gewiß, es wird mir eine Ehre sein!«

Carlo ging mit Fräulein Ortner jetzt voran. Sie erzählte ihm, daß sie für gewöhnlich in Wien lebten, wo der vor einigen Jahren gestorbene Vater Abteilungsvorstand im Kriegsministerium gewesen sei; ihren Bruder erwähnte sie, der den letzten Jahrgang der technischen Militärakademie frequentierte, und ihre kleine Schwester, die fünfzehnjährige Elly, die eine Handelsschule besuchte. Sie plauderte recht nett und Carlo fand sie auch äußerlich gar nicht übel. Sie hatte ein echtes Wiener Gesichtel, voll Liebreiz und Lebendigkeit, und ihre kleinen Füße und Hände wie ihre geschmeidige, knospende Gestalt konnten selbst seinen verwöhnten Ansprüchen genügen. Aber wie sie gekleidet war, wie unmodern, wie dürftig, – dieses billige, verwaschene Leinenkleidchen, dieser armselige Strohhut mit Margueriten, offensichtlich alles zu Hause verfertigt! Da er sie so genauer betrachtete, schämte er sich beinahe, in seiner tadellosen Eleganz an ihrer Seite gesehen zu werden.

Eben rollte der Zug ein. Er half den beiden Damen ins Coupé, mit einem ironischen Lächeln verstaute er ihr Gepäck, den kleinen Reisekorb, der schon ziemlich viele Jahre im Dienst zu stehen schien, die mit einem Lederriemen zusammengehaltenen Schirme und die fadenscheinigen Mäntel. Natürlich fuhren sie in einem Abteil zweiter Klasse, in dem sie gerade noch die letzten Plätze sich erobert hatten. Ringsherum saßen Reisende minderer Sorte, eine kinderreiche Frau darunter, die ihre Kleinen eben mit Eiern und Butterbrot fütterte. Diese Umgebung verstimmte Carlo recht nachhaltig und es dauerte eine geraume Weile, bis er wieder besserer Stimmung wurde und mit den beiden Damen ein Gespräch in Gang zu bringen vermochte.

Eine ganze Welt war es, die ihn bei seinen mondänen Anschauungen und Allüren von dem Daseinskreis der Ortner trennte. Aber er war doch nicht so stark in seinen Vorurteilen befangen, um nicht zu erkennen, daß die Frau Oberst eine Frau von Takt und Bildung und Herzensgüte war und Lisl ein ganz prächtiges und lustiges Geschöpf. Er lernte eine ihm bis dahin ganz unbekannte Sphäre der Gesellschaft kennen, mit all ihren großen Sorgen und Bedrängnissen und ihren bescheidenen Freuden. Doch den Kopf trug man hoch, ließ sich von den Schikanen des Tages nicht niederdrücken und hoffte auf eine bessere Zukunft. In einem Jahr wurde ja Artur als Leutnant ausgemustert, der dann schon auf eigenen Füßen stehen konnte, Elly hatte Aussicht auf eine Stellung bei der Staatsbahndirektion.

»Nur ich, ich bin ein fauler Fratz und unnützer Esser, nicht wahr, Mama?« lachte Lisl und biß gerade mit Herzenslust in eine saftige Birne, die ihr Carlo in einer Station besorgt hatte.

»Na, es ist nicht so arg mit dir, ich bin ganz zufrieden,« meinte die Frau Oberst und tätschelte liebevoll die Wange der Tochter. »Schließlich bist du ganz brav in der Wirtschaft und machst sehr hübsch deine Holzmalereien, die uns ja auch etwas abwerfen.«

»Ja, Lisl könnte es viel besser gehen, sehr gut könnte es ihr sogar gehen.« – Frau Ortner hatte in New York einen Schwager, den Bruder ihres verstorbenen Gatten, der es zum Direktor einer großen Aktiengesellschaft gebracht hatte. Vor fünfundzwanzig Jahren, als ganz junger Ingenieur, war er hinübergegangen. Er hatte nur ein einziges Kind, eine Tochter, im Alter Lisls, und oft schon hatte er sich erbötig gemacht, Lisi ganz in seine Familie aufzunehmen.

»Aber man trennt sich ja so schwer,« sagte Frau Ortner mit einem leisen Seufzer. »Vielleicht in ein paar Jahren, wenn Elly schon erwachsen ist und ich an ihr eine Stütze habe.«

»Und möchten Sie hinüber, Fräulein, hätten Sie die Courage?« fragte Carlo Zeller.

»Warum nicht? Wenn es mir nicht wegen meiner Mutter wäre, lieber heute statt morgen hinaus in die neue Welt.«

»Eigentlich sollte ich auch einmal hinüber fahren, um mir die Heimat meiner Mutter anzusehen,« meinte Carlo nachdenklich.

»Wirklich, Ihre Mutter war Amerikanerin?« erkundigte sich Lisl neugierig.

»Ich erinnere mich jetzt, Professor Wendrich hat mir einmal das Schicksal Ihres Herrn Vaters erzählt,« meinte Frau Ortner. »Ein Schicksal, das beinahe wie ein Roman klang.«

»Kann man das nicht auch erfahren?« fragte Fräulein Ortner. Sehr gespannt folgte sie seinen Worten. Ihre großen, blanken, veilchenblauen Augen hingen geradezu an seinen Lippen, mit einem Ausdruck, der mehr verriet, als bloß Neugierde: Teilnahme und aufkeimendes Gefühl.

»Vielleicht fahre ich hinüber, wenn ich meinen Doktor gemacht habe. Meine Studien will ich nicht durch eine längere Reise unterbrechen,« schloß Zeller, der es instinktiv für besser fand, in Gesellschaft der beiden Damen mehr den fleißigen und strebsamen Studenten als den Flaneur und Lebemann zu betonen.

Als man am Spätnachmittag in Wien eintraf, hatte man einander eine angenehm verbrachte Reise zu verdanken und fühlte sich schon recht vertraut. Lisl Ortner hatte Carlo immer besser gefallen, so daß er sich beinahe mit ihrer so wenig mondänen Toilette ausgesöhnt hatte. Es hatte ihm eben doch einmal wohlgetan, mit einem jungen, frischen, unverdorbenen Geschöpf zu sprechen, dem Harmlosigkeit und Reinheit aus den Augen leuchtete.

Die Ortners luden Carlo Zeller sehr warm ein, sie doch einmal zu besuchen, was dieser ihnen auch, im Augenblick vielleicht wirklich von dem besten Vorsatz erfüllt, versprach.

Noch klangen die Erlebnisse in Graz, die Ermahnungen des Vormundes und die Begegnung mit Lisl Ortner in ihm nach, während er im Wagen den Weg nach Hause zurücklegte.

Eine besinnliche Stimmung umfing ihn, und er dachte, es wäre hübsch, heute abend einmal zu Hause zu bleiben, die Bibliothek zu ordnen, Lehrbücher und juristische Schriften bereitzulegen und Arbeitspläne zu entwerfen.

»Herr von Ströbl wartet drin und das Fräulein Salagna,« begrüßte ihn Franz. »Sie haben mittag angerufen, wann der gnädige Herr kommt. Sie sind sehr lustig und ich habe eine Flasche Champagner kaltstellen müssen zur Begrüßung des gnädigen Herrn.«

»Evviva, hoch!« schallte es ihm auf der Schwelle entgegen. Die beiden Gäste standen vor ihm, die gefüllten Kelche in der Hand. Ein großer Bund Rosen prangte auf dem Tisch. Die Salagna hing sich rechts, Ströbl links an seinen Arm: »Haben wir dich wieder!« lachte sie.

»Wo ist aber der goldbeladene Esel?« rief Ströbl.

»Alles in Ordnung!« erwiderte Carlo. Er dehnte sich, als ob Ketten von ihm abfielen. Er roch den süßen Duft einer schönen Frau und den Rauch englischer Zigaretten, sah perlenden Champagner, hörte das leise Knistern seidener Dessous: »Ja, ihr habt mich wieder.«

Dezember war gekommen. Fröhlich schwamm Carlo im alten Fahrwasser. An der Seite der Salagna, umgeben von seinen Freunden, setzte er das Leben von ehedem fort, immer flotter und ungezügelter.

Lisl Ortner, zu der seine Gedanken anfangs häufig in unbestimmter Sehnsucht zurückgekehrt waren, auch sie war vergessen oder beinahe vergessen. Nur verblaßt tauchte noch hie und da ihr Bild vor seinem inneren Auge auf, wenn er irgendwo einem hübschen, blonden Mädel begegnete, das ihr ähnelte.

Natürlich befand er sich wiederum in Geldkalamitäten. Diesmal brauchte er jedoch nicht mehr die Hilfe Ströbls: Er suchte allein Herrn Friedrich Herlinger auf, mit bedeutend sichererem Auftreten denn damals, und da er sich als pünktlicher Zahler erwiesen hatte, gelang es ihm nicht allzu schwer, neuerlich ein ziemlich beträchtliches Darlehen zu erlangen. Seine Beziehungen zur Salagna stellten an sein Portemonnaie eben große, allzu große Ansprüche. Nicht, weil die Sängerin Geschenke von ihm gefordert hatte. Doch die Bereitwilligkeit, mit der sie sie annahm, zeigte, daß sie solche erwartete. Und wenn auch seine Gefühle für Beate Salagna bereits im Abflauen begriffen waren, ihre Künstlerinnenlaunen und ihre nervöse Art bereits manche heftige Szene zwischen ihnen hervorgerufen hatte, so war er doch zu eitel, von seinem viel beneideten Platz neben der bekannten Soubrette abzutreten.

 

Er sah sich daher nach einer Einnahmequelle um und griff zu jenem Auskunftsmittel, das den Menschen seines Kreises sich am leichtesten darbot; er begann zu spielen. Und zwar anfangs mit Glück. Er riskierte nicht viel und begnügte sich mit dem bescheidenen Gewinn, der ihm gerade gestattete, sich über Wasser zu halten.

Just das Spiel aber war es, was ihn schließlich mit der Salagna entzweite. Er begann nämlich, sie zu vernachlässigen. An einem Redoutenabend im Februar kam es zum Bruch zwischen den beiden. Die Salagna erwartete Carlo nach der Vorstellung in ihrer Garderobe, sie wollten zusammen eine Redoute, ein Glanzfest der Saison, besuchen. Sie wartete vergebens. Längst war das Theater leer, die Kollegen und Kolleginnen hatten sich entfernt, Carlo aber ließ sich noch immer nicht blicken. Beate telephonierte in den Klub und erhielt durch den Diener den Bescheid, Herr Zeller könne im Augenblick das Spiel nicht abbrechen, da er die Bank halte, er bitte, das Fräulein möge ihn abholen. Übel gelaunt, erschien Beate im Klub, wo man sie sich einige Minuten im Empfangszimmer zu gedulden ersuchte. Es verging aber wieder eine hübsche Weile, ehe Carlo kam.

Ganz fahl war sein Gesicht, als er eintrat, was bei seinem brünetten Teint sehr häßlich, beinahe aschgrau wirkte. Die Salagna empfing ihn mit den heftigsten Vorwürfen wegen seiner Rücksichtslosigkeit. Carlo, desgleichen in großer Erregung, erwiderte, sie sei schuld daran, daß er eben eine große Summe verloren habe, denn er sei ihrethalben nervös gewesen und habe unaufmerksam gespielt.

»Ja, wer schafft dir denn überhaupt zu spielen?« fuhr sie ihn an. »Laß lieber deine Hände von den Karten.«

»Wer mir zu spielen schafft?« brauste er auf, und mit zornblitzenden, tierisch rollenden Augen schleuderte er ihr entgegen: »Für dich spiele ich!«

Die Salagna, die sich vor seinem wilden, so ganz veränderten Aussehen beinahe fürchtete, trat unwillkürlich einen Schritt zurück: »Für mich? Dann brauchst du in Zukunft keine Karte mehr anzurühren. Ich will nicht dabei die Hand im Spiel haben, wenn ein unreifer Junge sich um sein bißchen Geld und, wie mir scheint, auch Verstand bringt. Wir beide sind fertig, adieu.«

Sie rauschte hinaus und ließ Carlo verblüfft und ziemlich beschämt zurück. Im ersten Augenblick wollte er ihr nacheilen. Aber gleich besann er sich. Nun war wenigstens ein Ende da! dachte er mit Gefühlen der Erleichterung. Mancherlei Verpflichtungen, gesellschaftlicher wie auch pekuniärer, war er nun ledig. Geradezu befreit atmete er auf, und die leise Wehmut, die ihn denn doch anwandeln wollte, verscheuchte er schnell mit dem Gedanken an neues Erleben, neue Abenteuer. Nur kurz schwankte er, ob er in das Spielzimmer zurück oder auf den Ball sollte. Er entschied sich, gleich jetzt, heute abend noch, die neue Freiheit zu genießen.

* * *

Es ging schon nahe an Mittag, durch die Jalousien fiel ein goldener Frühlingstag, als Carlo erwachte.

Spät erst im Morgengrauen war er heimgekommen. Eine neue Freundin, Germaine de Vermaingaut, und er hatten einen Ausflug nach Rodaun gemacht, fast bis Mitternacht waren sie draußen geblieben, die mondbeglänzte, linde Frühlingsnacht hatte sie berauscht. Und hier, in diesem Raum, hatte sie dann bis vier Uhr morgens noch geweilt. In allen Winkeln echote noch ihr silbernes Lachen. Dann hatte er sie nach Hause geleitet. Um diese Stunde aber saß sie wohl schon im Expreß nach Konstantinopel.

Was war diese Frau für ein herrliches Weib! Eine süße Hexe, der er rettungslos verfallen war. Er wußte es, und in den Stunden, da er frei von dem unmittelbaren Einfluß ihrer Persönlichkeit war, erschrak er oft darüber.

Die Baronin de Vermaingaut war die Gattin eines französischen Legationsrates, der dem Ministerium des Äußeren zugeteilt war und in dessen Ressort die Inspektion der osteuropäischen und kleinasiatischen Konsulate fiel. Einen großen Teil des Jahres weilte er daher fern von Paris auf Reisen und traf sich mit seiner Gattin nur zeitweilig in irgend einer großen Stadt, die auf dem Wege zwischen dem Orient und Paris lag. So hatte er mit ihr seinerzeit in den ersten Tagen des März ein Rendezvous in Wien gehabt. Über seinen Aufenthalt hinaus war Germaine noch vierzehn Tage geblieben, die sie Carlo geschenkt hatte. Mitte April war Carlo dann zu ihr nach Paris zu einem achttägigen Besuch gefahren. Und nun hatte sie wieder fast zwei Wochen in Wien geweilt.

Ja, er erschrak mitunter, wenn er an diese Liebe dachte. Denn in nüchternen Momenten bedrängte ihn die Frage: Wohin rollt mein Schicksal? Keinen anderen Gedanken hatte er mehr als den an Germaine, die ihm im Blute lag, wie keine Frau zuvor. War er mit ihr zusammen, so verschlang ihn ganz seine Leidenschaft, war er fern von ihr, verzehrte ihn die Sehnsucht. Aber es war Zeit, an eine Zukunft zu denken, eine bürgerliche Existenz sich aufzubauen. Schließlich war er auch schon übersättigt des Libertinerlebens, das er nun bereits bald vier Jahre führte. Sah er doch auch in seinem Kreise, wie einzelne, die besseren Elemente, in andere Bahnen einlenkten. Aber wie sollte ihm das gelingen, solange er in den Fesseln von Germaine schmachtete ...?

Es war ihm etwas katzenjämmerlich jetzt zumute.

Er erhob sich aus dem Bett und läutete Franz, damit ihm dieser ein erfrischendes Bad richte. Auf einem Tablett reichte ihm der Diener die Post, verschiedene Briefe und ein Telegramm.

Die Depesche war von der Wirtschafterin Wendrichs, der Professor sei schwer erkrankt und Carlo möge sofort nach Graz kommen.

Zeller war nach dem Ton des Telegramms nicht im Zweifel darüber, daß es sich um die Auflösung des alten Herrn handle.

Mit dem nächsten Schnellzug reiste er. Als Carlo im Hause Wendrichs eintraf, lag dieser bereits in Agonie. Er erkannte das Mündel nicht mehr.

Gegen Morgen hatte Adalbert Wendrich noch einige lichte Augenblicke, in denen er Carlo ermahnte, dem Namen seines Vaters keine Schande zu bereiten und ein rechter Mann zu werden. Mit Tränen in den Augen gelobte Carlo dem Alten und sich, diese Ermahnungen endlich zu beherzigen.

Zwei Tage später trugen sie Professor Wendrich zu Grabe.

Einem Grazer Advokaten übertrug Carlo die Abwicklung seiner Angelegenheiten. Da er von seinem vierundzwanzigsten Geburtstag nicht mehr weit entfernt war, wollte er es erreichen, daß er bereits für majorenn erklärt und ihm sein Vermögen ausgefolgt werde.

Nach Wien zurückgekehrt, fand Carlo zahlreiche Beileidsbriefe vor. Ein Brief von Frau Oberst Ortner und ihrer Tochter Lisl war darunter, in dem ihm Lisl zum Schlusse vorwurfsvoll fragte, warum er sein Versprechen, sie zu besuchen, nicht gehalten habe.

Irgendwie warm und wohl wurde ihm bei dem Gedanken an dieses frische, blankäugige Mädel. Aber dann fiel sein Blick auf die Photographie von Germaine de Vermaingaut dort über seinem Bett im Silberrahmen und schnell waren die Farben der Erinnerung an Lisl verblaßt.