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Bobbie oder die Liebe eines Knaben

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»So,« meinte Bob scheinbar gleichgültig, während seine Pulse klopften, »ist wohl ein Arzt, dieser Doktor Morton?«

»Nein, ist er nicht, wenigstens praktiziert er nicht. Sum und Sarah, die bei ihm sind, sagen, er sei ein großer Gelehrter, der seine Studien hier macht. Mehr ist aus ihnen nicht herauszukriegen! Wenn man sie ausfragen will, so werden sie grob und frech. Aber reich muß er sein, der Doktor Morton, er hat ein wundervolles Automobil.«

»Einen Benz mit achtzig Pferdekräften,« fiel Mary ein, die ununterbrochen bewundernd den schönen Knaben anstarrte.

»Ah, ja,« sagte Bob, »hab‘ ja vorhin einen großen, weißen, offenen Wagen stehen gesehen.«

»War nicht der von Doktor Morton, junger Herr; sein Wagen ist geschlossen und dunkelblau.«

Bob lehnte sich in den Stuhl zurück, beobachtete scheinbar den Hund, der sich mit hündischer Inbrunst gerade kratzte, und sagte dann leichthin:

»So ein alter Sonderling, dieser Doktor Morton, wie man ihn von Dickens her kennt?«

»Nein,« sagte Frau Angerlein, die nicht wußte, ob Dickens ein Ort oder eine Torte sei, und half dem Hunde beim Kratzen, »alter Sonderling kann man eigentlich nicht sagen. Hat noch ein sehr gutes Aussehen, kann kaum viel über fünfzig sein und genießt auch sein Leben, kommt gewöhnlich erst spät nachts heim. So um fünf Uhr herum fährt er immer mit dem Auto fort, wohl nach dem Klub.«

Mary, ein recht hübsches, munteres Mädel, war anderer Ansicht. »Tante, das mit den Fünfzig glaube ich nicht. Einmal, vor ein paar Wochen, hab‘ ich ihn gesehen, wie er sich aus dem Fenster des Autos herausbeugte, da sah er wie ein richtiger Mummelgreis aus. Und das Stubenmädchen von Nr. 14 in der Blumenstraße hat mir auch einmal gesagt: ›Der Doktor Morton,‹ hat sie gesagt, ›bei dem kennt man sich gar nicht aus. Einmal könnte man ihn für vierzig oder noch jünger halten, und dann wieder gibt es Tage, wo er wie ein Siebziger aussieht. Wahrscheinlich schluckt er Arsen oder so etwas, was jugendlich macht.‹«

»Na,« meinte Bob, »wozu braucht denn der Doktor Morton ein so großes Haus für sich allein? Wann hat er es denn gekauft? Gibt wohl große Gesellschaften?«

Frau Angerlein und Mary schüttelten die Köpfe und begannen lebhaft zu sprechen. »Eigens für sich hat er den Kasten vor fünf Jahren bauen lassen. Und kein hiesiger Architekt hat ihn gebaut, sondern einer aus Frankreich, den er sich kommen ließ. Von Gesellschaft keine Spur! Kein fremder Mensch betritt die Villa, immer sind die Fenster dunkel, und wenn aus der Nachbarschaft jemand einmal neugierig war und sich gerne die Einrichtung ansehen wollte, dann haben ihn der Sam und die Sarah angefaucht wie Wildkatzen.«

Indessen war mehrmals die Ladentüre auf und zugegangen; das Hinterzimmer betrat jetzt ein Student mit einem holden Backfisch, die gar nicht erbaut darüber zu sein schienen, hier die Wirtin, einen Knaben und einen Hund zu finden, und da es auch schon auf halb fünf ging, zahlte Bob seine Zeche und ging, von den wohlwollenden Abschiedsgrüßen der Frau Angerlein und ihrer Nichte begleitet, die es sich nicht nehmen ließ, Troll noch einmal eine Makrone als Geschenk zu überreichen. Troll aber sah als wohlerzogener Hund erst seinen jungen Herrn fragend an und steckte den Leckerbissen nicht ins Maul, bevor Bob nicht sein zustimmendes »Nimm!« geäußert hatte.

Bob schlenderte langsam durch die Blumenstraße und mußte Troll strenge zu sich rufen, da der Hund sich vom Gitter des Hauses Nr. 12 nicht entfernen wollte. Troll folgte schließlich, sah ihn aber verwundert und verärgert an, als wollte er sagen: »Du zwingst mich, tagelang an einem Strumpf zu riechen, rennst mit mir in der Hitze umher, so daß meine Hundeseele stöhnt, und endlich, wo ich die Geruchsquelle entdeckt habe, darf ich ihr nicht nachjagen! Was sind das für Ungereimtheiten?«

Dem Knaben wirbelten die Gedanken im Kopfe herum. Was für Geheimnisse barg dieses verschlossene Haus? Wer war Doktor Morton? Was konnte er von einem armen, kleinen Mädchen wollen? Befand sich Gertie lebend in der Villa des Mannes, der nie jemanden bei sich empfing und einmal alt und dann wieder jung aussah? Oder – aber das mochte er gar nicht ausdenken. Und was sollte nun geschehen? Wieder zur Polizei rennen und dem Herrn Crispin von Erlebnissen erzählen, die eigentlich gar keine Erlebnisse waren? Herr Crispin würde ihn diesmal auslachen und seinen Vater anrufen. Und dann würde sein Vater furchtbar böse werden und ihn sofort aufs Land schicken und jedenfalls dafür sorgen, daß sein Junge nicht mehr die Straße betrat. Nein, er mußte allein, nur mit Hilfe Trolls, der Spur nachjagen, mußte allein das Geheimnis des Doktor Morton und seines Hauses ergründen!

XIX. Kapitel. Doktor Frederic Morton

Voll Unruhe, und von einer Nervosität erfüllt, die dem frischen, gesunden Knaben bis dahin unbekannt war, zog Bob unauffällig die Blumenstraße hinauf und hinunter, dabei aber immer wieder vor- oder zurückblickend, um das Haus nicht aus den Augen zu lassen.

Jetzt regte es sich dort. Rasch eilte Bob bis zu dem Nebenhause. Eine lange, dürre Frau, die das Negerblut noch deutlicher verriet als ihr Bruder, war damit beschäftigt, das Gartenportal aufzuschließen und beide Flügel zu öffnen. Bob wußte sofort, was dies zu bedeuten habe. Im nächsten Augenblick würde Doktor Morton seine Ausfahrt antreten. Und richtig, kaum war das Gartenportal offen, als sich auch scheinbar automatisch die Eisentüre des unten und neben der Treppe befindlichen Automobilschuppens beiseite schob und das große, fürstliche, blaue und geschlossene Automobil des Doktor Morton herausfuhr. Langsam fuhr es den Kiesweg im Garten entlang, geschickt wurde es aus dem Gartentor herausgesteuert und bog nun an Bob vorbei in die Straße ein. Die beiden Fenster der Karosserie waren heruntergelassen, so daß Bob blitzschnell einen flüchtigen Blick auf Doktor Morton werfen konnte. Ein glattrasiertes Gesicht mit scharfem Profil, graue, kalte Augen – das war alles, was Bob gesehen hatte. Nicht genug, um sich ganz ein Bild von ihm zu machen, aber genug, um sich die Züge einzuprägen und die eisigen Augen nicht zu vergessen.

Nun galt es zu handeln, nicht den Bruchteil einer Sekunde zu verlieren, denn schon hatte der riesige Mulatte, der jetzt Chauffeur war, angekurbelt, so daß der Wagen pfeilgeschwind dahinglitt. Ein Blick auf die Frau, die sorgsam das Portal verschloß, dann ein paar mächtige Sätze hinter dem Auto her, und mit einem Ruck hatte sich der Knabe auf das rückwärtige Ende des Laufbrettes geschwungen, so daß er nun keuchend hinter dem offenen Fenster stand, während Troll lautlos dem Wagen nachjagte.

So war es am besten, überlegte Bob. Was konnte weiter geschehen? Schlimmstenfalls würde Doktor Morton sich aus dem Wagenfenster beugen, nach rückwärts schauen und ihn entdecken. Dann würde er ihn eben für einen Gassenjungen halten, der sich das Vergnügen einer Freifahrt leistet, und er könnte abspringen. Einen Polizisten, der ihm drohend winken würde, könnte er durch eine herausgestreckte Zunge abtun. Aber nichts dergleichen geschah. Mit Windeseile sauste das Auto dahin, so daß Troll längst nicht mehr mitkam, sondern weit, weit zurückblieb. Bob tat dies furchtbar leid, aber es ließ sich nicht ändern. Er empfand, daß es jetzt um Tod und Leben gehe, um alles oder nichts. Und Troll würde eben schließlich beleidigt den Weg nach Hause antreten.

Das Auto des Doktor Morton hatte die Altstadt erreicht, fuhr jetzt etwas gemäßigter und hielt bald vor dem prunkvollen Palast des Lunaklubs, den Bob vom Hörensagen und aus Zeitungsberichten als einem der vornehmsten Spielklubs der Hauptstadt kannte. Rechtzeitig war Bob abgesprungen und pfeifend stand er vor einer Auslage des Hauses neben dem Klubgebäude.

Was aber nun? Doktor Morton war oben im Klub, Bob unten auf der Straße – damit war nichts geschehen. Und der unheimliche Doktor Morton würde bis spät nachts im Klub bleiben, also konnte er nicht auf ihn warten. Bob runzelte die Stirne: »Ach was,« sagte er sich, »nun heißt es frech sein, sehr frech sogar. Ich werde in den Klub gehen! Einen Erwachsenen würde man nicht einlassen, einen kleinen Jungen vielleicht. Ja, wenn er es geschickt anstellt.« Und angestrengt dachte er nach, wie es am geschicktesten anzustellen wäre. Hatte er nicht neulich seinem Vater am Sonnabend in den Klub der Industriellen Theaterkarten bringen müssen? Wie war er an dem Portier vorbei hineingekommen? Sehr einfach; er hatte dem Portier, der ihn fragend angesehen, gesagt, er suche seinen Vater auf, worauf der Portier genickt hatte. Und Bob hatte damals nachher lachen müssen, weil ihm eingefallen war, daß er seinen, beziehungsweise seines Vaters Namen gar nicht genannt hatte. Also konnte es ebenso auch hier versucht werden und im schlimmsten Falle mißglücken.

Gerade aber, als Bob mit der Hand seinen Rock abstaubte und seinen Schlips ordnete, erlebte er eine freudige Überraschung. Mit langen Sätzen kam Troll angerannt, sprang an ihm herauf und leckte ihm unter jubelndem Gebell das Gesicht. Bob klopfte zärtlich das dampfende, erschöpfte Tier ab, hieß ihn ruhig warten und betrat das Portal des Lunaklubs.

Breitspurig stand der Portier in goldbetreßter Uniform da und musterte von oben herab den Knaben, der aufrecht und sicher an ihm vorbei zur Treppe ging. Mit geübtem Auge stellte er fest, daß dieser gut gekleidete kleine Herr sicher der Sprößling einer vornehmen Familie sei, und so fragte er denn, stramm an den Mützenrand greifend:

»Wohin, bitte?«

»Mein Vater ist oben,« erwiderte er kaltblütig und ging, ohne eine weitere Entgegnung abzuwarten, scheinbar gemächlich, in Wirklichkeit klopfenden Herzens, die Treppe empor.

Uss! Nun war er oben und lief, da er an dem Zerberus glücklich vorbeigekommen war, kaum noch Gefahr, aufgehalten zu werden. Ohne lange zu zögern, drückte er die schwere Bronzeklinke der mächtigen Eichenholztüre herab, die ihm gegenüber lag, und betrat einen Saal, in dem an mehreren kleinen Tischchen Karten gespielt wurde. Die Spieler schauten kaum auf, und da Bob hier den Doktor Morton nicht sah, ging er durch zwei anstoßende Räume, in denen Billard, Schach, Domino und wieder Karten gespielt wurde. Das letzte Zimmer, das er betrat, war ein Herrensalon mit mächtigen Klubsesseln und schönen Kupferstichen an der Wand, mit Schreibtischen und einem Regal voll Zeitungen und Büchern. Um den Tisch herum in der Mitte des Zimmers saßen mehrere Herren und einer von ihnen war Doktor Frederic Morton. Bob hatte ihn sofort wiedererkannt und ging nun auf dem weichen Teppich fast unhörbar und so geschickt an der Wand entlang zum Zeitungsständer, daß ihn niemand von den Herren, die in eifriger Unterhaltung begriffen waren, bemerkte. Mit raschem Blick hatte der Junge die verschiedenen Zeitungen, die in Rahmen gespannt ordentlich nebeneinander hingen, geprüft, nahm eine jener riesigen holländischen Zeitungen, die man ganz gut auch als Bettdecken verwenden könnte, setzte sich lautlos auf einen niedrigen Ledersessel, versteckte sich fast ganz hinter der Zeitung und hatte so bequem Gelegenheit, über ihren Rand hinweg Doktor Morton zu beobachten und der Unterhaltung der Herren zu lauschen.

 

Durchaus nicht furchterregend sah dieser merkwürdige Doktor Morton aus. Unbedingt ein schöner Mann von etwa fünfzig Jahren, ein Cäsarenkopf mit auffallend frischer Gesichtsfarbe, die Haare ergraut, aber dicht, das Kinn eckig und scharf, und im Verein mit der ein wenig gewölbten Nase und der wuchtigen Stirn Energie und Geist verratend. Aber die Augen! Doktor Morton sah eben seinen Nachbar, der an ihn das Wort gerichtet hatte, scharf und voll an, und Bob schrak zusammen. In ihrem wasserhellen Grün erinnerten die Augen an das Meer, aber sie waren nicht bewegt wie dieses, sondern starr und kalt wie Eis, durchdringend, bohrend wie eine Messerspitze, und der Knabe, der noch so weit von jeder Menschenkenntnis war, empfand unwillkürlich, daß kein guter Mensch solche Augen haben könnte. Und er sagte sich: Wenn ich mit diesem Manne sprechen müßte, so hätte ich nicht den Mut, ihn anzulügen, weil ich glauben würde, daß er mir ins Herz hineinschaut.

Doktor Morton richtete jetzt seinen Blick in die Ecke, in der Bob saß, so daß dieser wieder ganz hinter der Zeitung verschwand und nunmehr angestrengt der Unterhaltung der Herren lauschte. Ein Herr in mittleren Jahren mit einem Monokel sagte eben zu Morton gewandt: »Wirklich ein beneidenswertes Leben, das Sie führen, Doktor Morton! Vormittags basteln Sie ein bißchen in Ihrem Studierzimmer herum, den Nachmittag und Abend verbringen Sie in unserer netten Gesellschaft, und nachts – na, ich bin überzeugt davon, daß Sie, wenn Sie nicht zu Hause sind, ganz gut die Nacht um die Ohren zu schlagen verstehen. Wenn ich dagegen mein Rackerleben betrachte! Sein Gut bewirtschaften, sich mit dem Inspektor herumschlagen, die ödesten Sitzungen im Landtag mitmachen müssen und nebenbei zu Hause den braven Familienvater spielen – brrr!«

Doktor Morton lachte kurz und scharf auf. »Sie irren, verehrtester Herr Baron! Ich bastle nicht in meinem Studierzimmer herum, sondern betreibe sehr ernsthafte Forschungen! Und es gibt einsame Stunden genug, in denen ich das Haus, das ich gebaut habe, zum Teufel wünsche und am liebsten auf und davon möchte.«

»Woran Sie doch niemand hindert, Doktor!« ließ sich ein jüngerer, aber sehr behäbiger Herr vernehmen. »Materiell sind Sie ja wohl ganz unabhängig, da wissenschaftliche Forschungen, soviel ich weiß, nicht gerade viel Gold einzubringen pflegen. Also können Sie sich jeden Augenblick auf die Bahn setzen und irgendwohin nach dem Süden oder Norden, nach China oder Indien gondeln. Ich würde es auch so machen, wenn ich in Ihrer beneidenswerten Lage wäre.«

Morton schwieg eine Sekunde, um dann trocken zu erwidern: »Jetzt kann ich wegen meiner Experimente nicht fort. Und dann bin ich auch genug in der Welt herumgewesen, so daß mich das Reisen kaum noch reizt. Später vielleicht wieder – –«

Ein Herr mit der schnarrenden Stimme des aristokratischen Offiziers unterbrach ihn: »Apropos, lieber Doktor Morton. Neulich war mein alter Herr hier in der Stadt, um ein Mittel gegen Kalk und ähnliche angenehme Chosen zu suchen, und als ich ihm bei einem höchst langweiligen Abendessen von unserem Klub erzählte und auch auf Sie zu sprechen kam, da sagte er, daß er vor etwa vierzig Jahren einen Doktor Frederic Morton in Schanghai kennengelernt habe. Sie können das nun natürlich nicht sein, weil sie damals wohl noch kaum die Schulbank gedrückt haben. Aber vielleicht ein Verwandter von Ihnen.«

»Jawohl, mein verstorbener Onkel, der so wie ich hieß und auch bald da und dort in der Welt herumreiste. War übrigens von Beruf Arzt wie ich. Das heißt, Arzt darf ich mich ja nun wohl nicht nennen. Wenigstens habe ich noch nie einen Patienten gehabt. Aber meinen Doktorhut habe ich als Mediziner doch erworben.«

Der behäbige Herr lachte breit und behaglich: »Das glaube ich, daß Ihnen, lieber Kapitän, das Abendessen mit dem alten Herrn nicht gerade sehr unterhaltend erschien. Ihre schöne Lolo war wohl nicht mit dabei? Wenn ich mich daran erinnere, wie das Mädel damals im Astorhotel mit den Beinen in je einem Sektkübel stand und dabei beide Flaschenhälse im Munde hielt – famoser Kerl das! Und die Beinchen – na, ich muß sagen!«

Die Geschichte von der Dame mit den beiden Beinen in den Sektkübeln kam Bob so spaßig vor, daß er unwillkürlich die Zeitung hatte sinken lassen, um den Sprecher anzublicken. Und plötzlich fielen alle Blicke auf ihn und der dicke Herr rief verwundert:

»Nanu, wohl das jüngste Mitglied des Lunaklubs. Was machen Sie denn hier, holder Knabe?«

Eine Sekunde nur setzte der Herzschlag des Knaben aus, dann sprang er in die Höhe, schwenkte geschickt die Zeitung so, daß man nicht länger sein Gesicht sehen konnte, und lief mit den Worten:

»Ich warte auf Papa, er wird wohl schon gekommen sein!« aus dem Zimmer.

Eine Minute später war er unten bei Troll, der freudig an ihm mit den unerläßlichen Küssen in die Hohe sprang.

XX. Kapitel. Bob schmiedet Pläne

Es ereignete sich der immerhin seltene Fall, daß ein dreizehnjähriger Knabe, statt sich zu Bett zu legen, in seinem Zimmer bis Mitternacht auf und ab ging, um nachzudenken. Wenigstens pflegen Kinder das sonst nicht zu tun. Denn das eigentliche Nachdenken, das Grübeln und Überlegen, ist ein Vorrecht der Erwachsenen, die oft genug aus den Wirrnissen des Lebens nicht ein und aus wissen und dann mit den Händen in den Hosentaschen im Zimmer oder auf der Straße herumlaufen, um eine gewisse Logik in Gedanken und Geschehnisreihen zu bringen. Man kann sogar sagen, daß diese Form des Nachdenkens eine Angelegenheit der Männer ist, denn nur selten pflegt es einem weiblichen Wesen einzufallen, im Zimmer auf und ab zu gehen oder die Straße entlangzulaufen, um nachzudenken. Sie pflegen dazu lieber einen Schaukelstuhl zu benützen, und es geht auch, oder es geht auch nicht.

Bob aber lief wie ein kleiner Mann in seinem Zimmer einher, weil es ihm ganz wirr im Kopf war und er die Bewegung brauchte, um den Knäuel im Gehirn zu entwirren. Schließlich entwickelte der kleine Detektiv, der aber nicht wie in Kriminalromanen dieses schwierige Handwerk aus Passion betrieb, sondern aus tiefem Schmerz und voller Verzweiflung, zwei Gedankenreihen, deren eine in der Frage: »Was weiß ich?«, die andere aber in der Frage: »Wie komme ich in das Haus des Doktor Morton?« gipfelte.

Was weiß ich? Ich vermute vieles und weiß wenig, sagte sich Bob. Ich weiß, daß mein guter Hund, nachdem er tagelang vergeblich den Strumpf meiner Gertie beschnuppert, plötzlich diesen Strumpf im Zusammenhang mit einem Mulatten gebracht hat, der Sam heißt und Diener bei Doktor Morton in dem Hause Blumenstraße 12 ist. Des weiteren weiß ich, daß Gertie und ich unmittelbar vor dem Verschwinden des Mädchens mit diesem Sam zusammengestoßen sind. Ich vermute nun, daß Troll sich nicht geirrt hat, sondern der Mulatte Sam noch immer in Berührung mit Gertie steht. Daß also Gertie sich im Hause des Doktor Morton befindet oder befand. Diesem Wissen und Vermuten steht aber anderes gegenüber: Ich weiß, daß Doktor Morton Mitglied eines vornehmen Klubs, ein reicher und gelehrter Herr ist. Und ich weiß, daß reiche und gelehrte Herren Kinder weder zu essen noch zu verkaufen pflegen; was also sollte Doktor Morton mit Gertie machen? Welches Interesse könnte er an ihr haben? Das arme, süße Mädel zu rauben, zu töten, oder vor ihrer unglücklichen Mutter zu verbergen? Allerdings, ich bin noch sehr jung, und es gibt viele Dinge, die ich noch nicht verstehen kann. Professor Brummel hat wohl recht, wenn er sagt; man muß das Leben von Grund aus kennen, um es richtig zu verstehen. Ich verstehe ja auch nicht, warum dieses Mädchen, das Lolo heißt, in zwei Sektkübeln stand und aus zwei Flaschen auf einmal trank, und warum solche Unart dem dicken Herrn so gefallen hat. Und was er über die Beine dieser Dame sagte, verstehe ich erst recht nicht. Beine hat schließlich jeder Mensch. Allerdings hat zum Beispiel Gertie sehr schöne Beine. Das hat einmal auch Mama zu Papa gesagt. Und viele andere kleine Mädchen haben häßliche und plumpe Beine. Wie aber komme ich in das Haus des Doktor Morton, so daß ich mich gründlich umsehen kann? Was immer ich auch tun würde, dieser Sam oder seine Schwester Sarah werden mich nicht hineinlassen. Ich kann doch unmöglich zu Doktor Morton gehen und ihm sagen: Sie, ich möchte in Ihrem Hause nach Gertie suchen! Ich glaube, er würde mich umbringen. Aber eines ist sicher: ich muß unbedingt in das Haus, weil ich mich überzeugen muß, ob Gertie dort ist. Man sagt: »Wo ein Wille, da ist auch ein Weg.« Nun, ich habe den eisernen Willen und muß auch den Weg finden.

Aber schließlich wurde der arme kleine Junge so müde, daß ihm ganz wirr im Kopf war, und so legte er sich denn endlich nieder und schlief schwer und traumlos, bis ihn Troll nach gewohnter Weise kurz vor acht Uhr weckte. Troll machte dies sehr einfach, indem er mit einer Pfote die Türklinke niederdrückte, sich zum Bette des Knaben begab und mit den Zähnen die Decke von ihm fortzog. Wachte Bob dann noch nicht auf, so leckte ihm Troll die Fußsohlen ab, was sich immer als höchst wirksam erwies.

Die Glutwelle, die nun schon viele Tage lang die Stadt umfangen hielt und ihre Bewohner in die Berge und an die See trieb, hatte in dieser Nacht einem warmen, sommerlichen Regen Platz gemacht. Als Bob zum Fenster hinausguckte, war die Welt mit grauen Fetzen behangen und der Regen rieselte unermüdlich vom grauen Himmel auf die grauen Straßen nieder. Sonst pflegte solches Wetter bei Bob heftigen Unmut auszulösen, da dann die Gefahr bestand, daß er seinen Bücherschrank gründlich in Ordnung bringen und Gertie an die langweilige und prosaische Arbeit des Strümpfestopfens gehen mußte. Aber heute war das alles anders. Gertie war fort, wer weiß wo, und sein Bücherschrank befand sich in tadelloser Ordnung, da er ihn seit vierzehn Tagen nicht mehr geöffnet hatte. Und überdies paßte der Regen ihm sehr in den Kram, da er dadurch Gelegenheit fand, mit dem alten invaliden Parkwächter Matthias ungestört zu sprechen.

So war es auch. Der Alte hatte sich in den Geräteschuppen verkrochen und rauchte eben mürrisch seine Pfeife, als ihn Bob in dem menschenleeren Park aufsuchte. Sofort erhellte sich nun allerdings seine Miene, er lud Bob ein, auf der umgestürzten Karre neben ihm Platz zu nehmen, und fragte bedächtig:

»Na, junger Herr, bringen Sie Neuigkeiten?«

Bob nickte. »Jawohl, große Neuigkeiten, Herr Matthias, ich bin Gertie auf der Spur.«

Matthias zog die Augenbrauen hoch. »Na, na! Daß es uns nur nicht wieder so geht wie vorher!«

»Nein, Herr Matthias, diesmal glaube ich fest daran. Und übrigens war gar nicht ich es, der die Spur gefunden hat, sondern Troll.« Troll bellte bestätigend kurz auf, und Bob erzählte nun alles, was der Tag vorher ihm gebracht hatte.

Der Alte wiegte bedächtig den Kopf. »Scheint was daran zu sein, möchte selbst nicht glauben, daß das mit dem Mulatten nur Zufall ist. Und Troll hat eine gute Nase, das muß ein Blinder sehen und ein Tauber hören. Aber was nun, junger Herr? Wie wollen wir an den Doktor Morton, oder wie der Satan mit seiner schwarzen Brut heißt, heran?«

»Ja, das ist die Frage; ich glaube aber, wir sollten das zusammen mit der lieben Frau Krikl beraten. Sie ist eine kluge Frau und hat mich und Gertie gern, und Troll, der ja eigentlich ihr gehört, weil sie mir das Geld für ihn gab, erst recht! Wie wäre es, Herr Matthias, wenn wir gleich mal zu ihr gehen würden? Ich bin überzeugt, daß es Frau Krikl sehr freuen wird, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

 

Matthias sah recht zweifelnd auf seine alte, abgetragene Uniform hinab und brummte: »Möchte nicht darauf schwören, daß es die gute Dame gar so freuen wird, einen alten Soldaten wie mich kennen zu lernen. Und außerdem darf ich mich eigentlich gar nicht von hier entfernen. Aber verdamm‘ mich, ich tue es doch! Kommt eh‘ keine Menschenseele bei dem Hundewetter in den Park, sogar den Liebespärchen ist es heute zu naß.«

Bob begriff das vollständig und dachte, daß er und Gertie heute auch kein sonderliches Vergnügen daran haben würden, im Freien spazierenzugehen, und so pilgerten sie denn, Bob in seiner Regenhaut wie ein junger Prinz aussehend, der Alte schäbiger als je einherhumpelnd, und Troll, gleichmütig und selbstbewußt, wie es einem Hunde mit zehn Ahnen geziemt, zu Frau Krikl. Bob hatte recht gehabt. Die alte Dame freute sich entschieden, die Bekanntschaft des Invaliden zu machen, was eigentlich nur selbstverständlich war, da sie den kleinen Jungen vergötterte und deshalb alles das, was er tat und liebte, für gut hielt und ebenfalls verehrte. Sogar der Papagei setzte eine freundliche Miene auf und begrüßte die drei mit einem schallenden: »Hallo, guten Morgen, Gesindel.«

Frau Krikl erwies sich durchaus als Dame von Welt und Menschenkenntnis. Für Bob brachte sie ein duftendes Honigbrot nebst einem Stück Schokolade herbei, der Invalide, der sich respektvoll auf die äußerste Stuhlkante gesetzt hatte, bekam ein ordentliches Glas Kognak nebst einem Käsebrot vorgesetzt und Troll labte sich an einer Wurst. Und nun erzählte abermals Bob ausführlich mit allen Einzelheiten von der Jagd hinter dem Mulatten Sam, von dem, was er über Doktor Morton erfahren, und seinem Aufenthalt hinter der holländischen Zeitung im Lunaklub.

Frau Krikl lauschte mit atemloser Spannung und als Bob fertig war, rannen ihr Tränen der Ergriffenheit über die hageren Wangen.

»Bobbie, mein süßer Junge,« rief sie, »du bist klüger als die ältesten Leute! Wie geschickt hast du das in dem Klub gemacht; wirklich, dieser lederne Sherlock Holmes könnte von dir lernen!«

Schon aber tauchte wieder die bange Frage auf: »Was nun?« und peinliche Minuten des tiefsten Schweigens kamen, da sich alle den Kopf zerbrachen, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Frau Krikl erbot sich, das Haus des Doktor Morton aufzusuchen, um dem Mulatten wahrzusagen. »Wie eine Hexe sehe ich ohnedies aus,« sagte sie, wehmütig lächelnd, »und diese ungebildeten halben Heiden sind abergläubisch und lassen sich für ihr Leben gern weissagen.«

Der Vorschlag wurde ernstlich in Erwägung gezogen, aber schließlich von Bob verworfen.

»Hätte wenig Zweck, Tante Sibylle, bestenfalls kämst du in das Dienerzimmer und nicht weiter. Wahrscheinlich aber auch das nicht, denn wenn dieser Doktor etwas zu verbergen hat, so werden die Mulattin und ihr Bruder sicher genau darauf achten, daß sich niemand unbefugt einschleicht, denn dieser Herr Morton sieht mir ganz darnach aus, als ob man gründlich Angst vor ihm haben würde, wenn man sein Untergebener ist. Aber vielleicht könnte sich Herr Matthias unter einem guten Vorwand als Polizeimann verkleidet in das Haus begeben.«

Diesmal erhob der alte Parkwächter energisch Einspruch. »Junger Herr, verlangen Sie von mir, was Sie wollen! Wenn dadurch das liebe, blonde Ding gefunden wird, so bin ich bereit, mich von dem Mulatten zu Brei zerhacken zu lassen. Aber als Polizist verkleiden – nee, das gibt‘s nicht! Das wäre Anmaßung eines behördlichen Titels, Betrug, Hausfriedensbruch, und ich will Ihnen nur sagen, daß ich gerne sterben, aber nicht meine alten Tage im Gefängnis beschließen will! Nee, verlangen Sie das nicht von mir!«

Bob mußte ihm recht geben, und Frau Krikl sprach den Wunsch aus, man solle nichts tun, was gegen die Gesetze verstieße. Und nun fiel allen dreien wieder nichts ein. Bob sah düster durch das offene Fenster auf die Straße hinaus, und eine grenzenlose Mutlosigkeit überkam ihn. Sein Blick fiel auf einen Schornsteinfeger, der eben in das Haus gegenüber trat. Da flog ein Einfall durch seinen Kopf, dem er auch sofort Ausdruck gab.

»Wenn man sich als Kaminfeger verkleiden würde, könnte man am besten in das Haus kommen.«

Der Invalide sprang so jäh auf, daß ihm Joko ein wütendes »Halt‘s Maul!« zurief und auch Troll aus seinem gesättigten Halbschlummer erschreckt erwachte.

»Junge, Junge, das hat dir der liebe Herrgott eingegeben! Schornsteinfeger, das wäre so ein Gedanke! Und läßt sich vielleicht machen, denn mein Neffe, der Sohn meiner Schwester selig, ist Schornsteinfegermeister! Wenn der will, so klappt die Geschichte!«

»Er muß wollen!« schrie Bob erregt, »und er muß mich als Lehrling mitnehmen.«

Nur Frau Krikl schien vorerst nicht begeistert. Sie begann zu schluchzen: »Bobbie, was kann aber daraus werden! Wehe, wenn du entdeckt wirst, dann ist es um dich geschehen und ich sehe dich nicht wieder.«

»Unsinn, Tante Sibylle,« beruhigte sie Bob, dessen Wangen glühten; »tauchen der Herr Schornsteinfeger und ich nach einer Stunde nicht auf, dann weißt du, daß wir in Gefahr sind, und alarmierst eben die Polizei!«

Und nun wurde alles genau besprochen, und es galt nur noch die Einwilligung des Schornsteinfegers einzuholen. Das schien nicht so leicht, denn der hatte bis abends zu tun, kleidete sich dann zu Hause nach gründlicher Reinigung um und war erst gegen neun Uhr abends im Wirtshaus »Zum lustigen Zecher« ordentlich zu sprechen. Bob dachte angestrengt nach, dann leuchteten seine Augen auf. »Es paßt ganz gut heute, Herr Matthias! Vater und Mutter sind auf ein Gartenfest bei Konsul Hallstadt geladen und werden sicher nicht vor Mitternacht zurückkehren. Also kann ich mich nach dem Abendessen leicht fortschleichen.«

Kleine pädagogische Bedenken waren bald zerstreut, und es wurde verabredet, daß der Parkwächter um neun Uhr abends Bob an dem Parkeingang erwarten solle, und weiter wurde verabredet, daß Tante Krikl zur kritischen Zeit, wenn der Plan ausgeführt werden sollte, mit Matthias in der Konditorei in der Gartenstraße warten würde, um im Notfalle Hilfe zu holen.

Nie im Leben hatte Bob gewußt, daß Stunden so langsam verrinnen könnten wie an diesem Tage. Sicher, es gab für einen Jungen oft genug Stunden des Harrens und Bangens, so vor der Zeugnisverteilung oder am Weihnachtsabend, bevor man in das Zimmer mit dem Christbaum hereingelassen wurde, aber das alles war nichts gegen den schleppenden Gang dieses Nachmittags und Abends. Endlich, gegen halb neun Uhr verabschiedete sich Vater und Mutter in festlicher Toilette von ihrem Jungen, der nun rasch sein Abendbrot hinunterwürgte, dann dem Personal »Gute Nacht!« sagte, sich auf sein Zimmer begab, um dieses nach wenigen Minuten leise und vorsichtig, diesmal ohne Begleitung Trolls, der sich wie gewöhnlich vor der Tür zu Bobs Zimmer niederlegen mußte, zu verlassen. Und vor dem Park stand auch schon Matthias und wartete.

Die Untergrundbahn brachte sie rasch nach dem Vorort, in dem der Schornsteinfeger Peter Möller wohnte und in dem auch das Wirtshaus »Zum lustigen Zecher« lag, und für Bob war das ein historischer Tag, denn zum erstenmal in seinem Leben betrat er, und noch dazu zu nachtschlafender Zeit, ein richtiges Wirtshaus, in dem getrunken, geraucht, geflucht und gespuckt wurde. Herr Möller, ein blonder, sympathischer, blauäugiger Herr in mittleren Jahren, dem jetzt sicher niemand seinen schwarzen Beruf angemerkt hätte, saß im Kreise anderer ehrsamer Gewerbetreibender an seinem Stammtisch und machte riesig große und kugelrunde Augen, als er seinen Onkel Matthias mit einem allerliebsten, kleinen Jungen hereinkommen sah.