Steinreich

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7-Glücksfee-

Das eiskalte Badewasser und ein Weltmeister-Kater waren am anderen Ende des Zeitlochs. Immerhin hatte die Wassertemperatur meine Gehirnzellen heruntergekühlt und den noch funktionierenden Restzellen ein Stückchen Vernunft eingehaucht. Der Rest war ein gedanklicher Blitzeinschlags, der eine Million Gründe in meinem Hirn spontan entzündete, weshalb ich endlich aus der Wanne raus und mich in einen vorzeigbaren Menschen verwandeln musste, so schwer mir das in meinem miserablen Zustand auch gefallen war.

Hast du schon einmal versucht, mit einer klitschnassen Vollbekleidung aus einer Wanne zu kommen? Das ist alles andere als einfach, wenn die Textilien wie Blei an deinem Körper zerren wie das Biest aus der Tiefe eines Horrorfilmes. Ich gewann den Kampf mit diesem Biest und stand eine entsprechende Weile später vor dem optischen Resultat meiner Badewannennacht.

Dem Lichtschalter hatte ich es zu verdanken, dass er das sprichwörtliche Licht ins Dunkel meiner geistigen Wiederauferstehung brachte. Die Rollos waren ritzenlos geschlossen, das schwachrote Standby-Lämpchen des unverwüstlichen Dual-Plattenspielers war mein winziger Orientierungspunkt. Ich hatte verdammtes Glück gehabt, dass die Kerzen abgebrannt waren, ohne mich dabei selbst abgefackelt zu haben. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Auch das wertete ich als ein Zeichen für den Beginn meiner Glücksserie. Über den zugemüllten Boden kugelten leere Flaschen. Geschirr- und Kochutensilien standen, lagen wahllos verteilt im Irgendwo des Wohn-Schlafzimmers herum, die Küchenspüle war gefüllt mit dem Inhalt des Papierkorbes, den ich auf meiner Lottoquittungssuche umgestülpt hatte. Kurz, es sah aus wie nach einer Straßenschlacht in Bagdad. Eigentlich war das verdammt egal, eigentlich wollte ich schon vor einer Woche ausziehen, aber dann hatte es sich wegen Strapsi von selbst erledigt.

Eine komplette Kanne Kaffee, zwei Schmerztabletten und drei Rühreier später kapierte ich, dass aus dem Montag- Morgen-Vormittag ein Dienstag-Mittag geworden war. Mehr als Vierundzwanzig Stunden traumloses Niemandsland lagen hinter mir, hoffentlich mehr als vierundzwanzig Jahre in Saus und Braus vor mir. Aber davor hatte ich noch die wichtigste Aufgabe meines Lebens zu erledigen und das in meinem desolaten Zustand.

Die warme Dusche und die notgedrungene Auswahl aus dem bescheidenen Inhalt meiner Kleiderstange machten wieder ein menschliches Wesen aus mir. Erst jetzt fiel mir auf, dass ein einziges Möbelstück von der Unordnung verschont geblieben war. Der kleine Beistelltisch war fein säuberlich aufgeräumt, nur der Lottoschein lag dort wie auf dem Präsentierteller und lachte mich an, oder lachte er mich aus? Nein, er stellte mir Fragen. Brauche ich einen Tresor, eine Alarmanlage, oder eine Diebstahlversicherung und wo verstecke ich die Kohle? Ein ganzer Fragenkatalog ratterte plötzlich durch meinen angeschlagenen Brummschädel und versuchte mir Angst einzujagen. Stopp, Alexa, hol das Geld ab, bring es in Sicherheit… Quatsch, am liebsten hätte ich noch schnell einen kleinen Schluck als Relaxer zu mir genommen, aber das Getränkefach im Kühlschrank war so was von ausgetrocknet wie ein Bachbett im Hochsommer. Kein Tropfen Alkohol auf Sechzig Quadratmeter, selbst der alte Flachmann war staubtrocken. Nein und gut so. Ich musste kühlen Kopf bewahren, entschied mich, die Stones-Platte, die noch auf dem Plattenteller lag, abzuspielen und mich wieder zu beruhigen. Das Album „through the past darkly“ passte irgendwie zur Situation und war die gedankliche Ausgangstür meines Unglücksraben-Lebens.

Ich erinnere mich, dass ich noch ein letztes Mal die Lottozahlen verglich, bevor ich mich auf den Weg in mein neues Leben machte. In der Gewissheit, dass ich diesen Abend völlig neu eingekleidet in einem schönen Hotel verbringen würde, verließ ich mein heruntergekommenes Etablissement mit einer leeren Reisetasche in der Hand, so wie es die Bad Boys in den Action-Streifen immer machen, wenn sie ihre Beute einsacken. Und dann stand ich endlich vor dem Lottoladen, immer noch mit flauem Magen, aufgewühlt wie ein grummelnder Vulkan, extrem nervös und angespannt, ohne zu wissen, wie ich genau dahingekommen war. Nur der Stones-Song -Good bye ruby Tuesday- klang noch immer in meinen Ohren.

Ich wartete und wartete, sie kam nicht. Auch nicht Fünfzehn Minuten, nachdem der Film bereits begonnen hatte. Ich war die arme Sau, die nicht glauben wollte, dass Strapsi mich versetzt hatte. Deprimiert stand ich vor dem Kino mit meinen unerfahren sechzehn Jahren und hatte nicht begriffen, dass noch jemand scharf auf meine pretty woman gewesen war. Ausgerechnet mein Freund, Blutsbruder und Kumpel, dieser dreckige Hundesohn. Musste ja so sein. Sie hatte mir ungeniert am Tag darauf erzählt, dass sie sich lieber mit Fix verabredet hatte, weil er damit angegeben hatte, dass er ein paar Leute aus dem Showgeschäft kennt, die ihr vielleicht bei ihrer Modelkarriere behilflich sein könnten.

Diese Enttäuschung ging tief in mich hinein, tief genug, um die Freundschaft mit Fix abzubrechen. Damals konnte ich nicht wissen, dass es nicht das einzige Mal bleiben sollte. Erst ein ganzes Jahr später habe ich ihn dann doch zur Rede gestellt, mit welchen angeblichen Kontakten er so eine große Lippe riskiert hatte. Was sollte es mich eigentlich wundern, es war tatsächlich nur die steinzeitalte Geschichte von seinem Vater, der aushilfsweise als Roadie auf der zweiundachtziger Tour der Stones Keith Richards kennengelernt hat und ein T-Shirt von ihm geschenkt bekam. Ich habe ihn ausgelacht „Mann, die Geschichte ist doch uralt!“

Fix musste genauso lachen „Ja, das hat Strapsi auch gemeint und ist beleidigt abgezogen“

Es war die Stunde des Siegers, es war meine Stunde. Dazu hatte ich eine Million Gründe, mit leuchtenden Augen und erwartungsverheißender Zuversicht das Lottogeschäft zu betreten. Doch in Wahrheit fühlte ich mich trotz meiner dreiundvierzig Lebensjahre unbeholfen wie ein kleiner Junge, der gerade seine Mutter verloren hat und bar jeder Vorstellung, wie das nun alles ablaufen wird.

Ich war einzig und allein ein fieberndes Nervenbündel, das gerade vor der Lottotante stand wie vor der Lehrerin, der ich auswendig ein benotetes Gedicht aufsagen sollte, das ich vergessen hatte. Und scheiße nochmal, auch meine größte Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Ausgerechnet an diesem Dienstag war die Lotto-Tussi im Laden, die mich nicht leiden konnte. Du spürst das, wenn dich jemand nicht leiden kann. Sie tat es sogar mit ausgesprochener Leidenschaft, jedes Mal, wenn ich regelmäßig wie der Vollmond alle vier Wochen aufgekreuzt bin. Von wegen Susanne Glück, wie auf ihrem Namensschild stand, bei ihr hatte ich noch nie Glück gehabt. Diese Kröte war alles andere als meine Glücksfee. Ich konnte es an ihrem Brillengesicht ablesen, dass ich in ihren Augen nur ein hoffnungsloser Fall in der Armee der einkommensschwachen Unglücksritter war, der seinen zwecklosen Lottoeinsatz besser in einem Pappbecher sammeln sollte. Okay, vielleicht hatte sie damit gar nicht so unrecht bei meinem beschissenen Karma. Es war auch nicht meine Idee gewesen, Lotto zu spielen, sondern die glorreiche Schnapsidee von Fix. Aber das lag schon eine Weile zurück.

Nun war das alles egal. Nur zu gerne hätte ich ihre Gedanken lesen wollen, als ich wie immer am Lottoschalter auftauchte. Dabei bin ich mir mit meiner lächerlichen Reisetasche eher wie ein dämlicher Bankräuber vorgekommen als ein Lottogewinner. Ohne die geringste Spur von Souveränität -das Gefängnis der Vergangenheit war noch immer in meinem Kopf gegenwärtig- kramte ich meine Lottoquittung umständlich aus der Hosentasche. Weder konnte ich meinen Schweißausbruch noch das Zittern meiner heiser gewordenen Stimme unterdrücken. Wie ein programmierter Roboter schob ich das lädierte Stück Papier über die verglaste Ladentheke und versuchte dazu artig meinen Text abzuspulen. Aber mehr als ein viel zu zaghaft verkümmertes „ ... ich habe sechs Richtige…“ kam nicht über meine Lippen.

Ich kannte das übliche Susanne-Glück-Ritual nur zu lange und zu gut. Es war stets ein kurzer konzentrierter Blick durch die Brillengläser auf meinen Schein gewesen -die Zahlen kannte sie offensichtlich immer auswendig- und noch bevor sie den Schein in den Scanner steckte, sagte sie mit unverhohlener Genugtuung ihr monotones Sprüchlein auf: „Kein Gewinn, nochmal spielen?“

Dieses Mal sagte sie gar nichts, nicht eine einzige piepmatzkleine Silbe. Dafür galt ihr abfälliger Blick dem Zustand des zerknitterten Lottoscheins. Und anstatt endlich etwas zu sagen oder einfach nur zu gratulieren, streifte Frau Lottoglück unablässig mit ihrer Hand bügeleisenartig über des weiße Zettelchen, das sich vehement dagegen wehrte, das Aussehen eines frisch gebügelten Herrenhemdes anzunehmen. Sie war noch immer ungewöhnlich still geblieben, als sich das sonnengebräunte Susanne-Glück-Gesicht mit ihrem dunkelhaarigen Pferdeschwanz in ein leichenblasses Schaufensterpuppengrau verwandelte.

„Zusatzzahl! …„mein Gott, der Jackpot!“

Keinen einzigen Buchstaben von dem, was sie gerade gesagt hatte, konnte ich auf Anhieb einordnen. Ich war immer noch der stupide Roboter, der programmiert war, einfach diesen Schein abzugeben und als Gegenleistung eine Million mitzunehmen.

Sie stupste nervös an ihrer Brille herum, während ich immer noch wie festgeschraubt dastand, unfähig, das zu kapieren und ergänzte ihre Feststellung nach einem hörbaren Schnaufgeräusch.

„Achtzehn Komma zwei Millionen!“

Ich begriff gar nichts, oder doch? Sagte sie nicht gerade etwas von Achtzehn Millionen Komma nochwas oder so? Was sollte ich nun zuerst tun, die Reisetasche öffnen und auf den Schalter stellen, einen Freudentanz aufführen und den Tarzanschrei versuchen? Nein, ich tat nichts von dem. Mein Körper reagierte auf seine Weise, nur eine winzige Unpässlichkeit und auch nur ein paar kleine Tröpfchen Pisse, die mir unbemerkt entwichen waren.

 

Ungeachtet davon und jeglicher Sprechfähigkeit beraubt sah ich auf die schmalen Susanne-Glück-Lippen. Sie bewegten sich unaufhörlich. Zu viele Buchstaben schleuderten mir entgegen, so, als ob sie auf eine altmodische Schreibmaschine einhacken würde. Doch meine Fähigkeit, noch irgendetwas davon zu verstehen, geschweige denn zu begreifen war längst verloren gegangen. Völlig wehrlos und ungeschützt ließ ich das Gewitter von Wortfetzen auf mich niederprasseln. Worte wie Form… lar… aus… fü…en Adre… U…schrift Ko… numm… Bera… stelle ...gaben Post …sendung …Zehn … Komma … Millionen … hatten keinerlei Bedeutung und flogen an mir mit der Geschwindigkeit einer Flipperautomaten-Kugel vorbei. Das einzige, was ich festhalten konnte, waren die beiden Wörter: Achtzehn Millionen. Sie hatten sich in meinen Gehörgang festgebohrt. Mein Gott, eine ganze Million und das Achtzehn mal. Ich fieberte, ich fühlte eine aufkommende Schwäche in meinen Beinen, meine Motorik funktionierte nur mehr eingeschränkt, ich begriff gar nichts mehr. Was sollte es mich im Zustand meiner geistigen Vollbremsung auch kümmern, dass Susanne Glück plötzlich ganz anders aussah und warum sich ihr letzter Satz wie ein Fluchen angehört hatte und dass sie danach stumm wie ein Fisch geworden war.

Die ganze Szenerie überrollte mich wie eine gewaltige Lawine. Mir war schon eine ganze Weile schummrig gewesen und nur meine aufgestützten Ellbogen verhinderten, dass ich nicht schon längst weggekippt war. Doch dann ist mir endgültig schwarz vor den Augen geworden, Licht aus.

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen echten Vater hätte haben wollen. Ganz ehrlich, einen Vater, der sich nicht aus dem Staub gemacht hat und einen Vater, der mehr als ein Fragezeichen gewesen wäre. Ich hätte nur einen stinknormalen Vater haben wollen, einen zum Anfassen, einem, dem ich das alles erzählt hätte, den ich um seine Meinung gefragt hätte. Doch das konnte ich eben nicht.

Auch nicht meinen Opa, der war tot. Und meine Mutter? Nein, die hörte doch nur auf diesen Arsch von Stiefvater Willi, der King Kong aller Arschlöcher. Mein kleiner Stief- … nein er war sogar mein Halbbruder, das Herzigrazzi meiner Halbeltern, danke und auch oh nein. Mit ihnen allen hatte ich schon lange mehr kein Wort gesprochen und das aus gutem Grund. In ihren Augen war ich immer nur der Problem-Stephan, das Sorgenkind, der blöde Bengel. Echt scheiße Leute, ausgerechnet jetzt hatte dieser blöde Bengel aber verdammt viel Geld, echt blöd für Euch, dass ich Euch alle genau so wenig leiden kann…

Warum fummelte dieser Mann mit der orangefarbenen Weste an mir herum? Das war das erste gewesen, was ich mir dachte, als ich nach meinem kurzen Knock-out versuchte mich hochzurappeln. Dann bemerkte ich auch die anderen Leute, die um mich herumstanden, sehr neugierig und sehr tatenlos. Die Lotto-Susi dagegen war aus meinem Blickfeld verschwunden.

Restalkohol, es war der verfluchte Restalkohol, der mich im Lottoladen einen undefinierbaren Zeitraum lang zu Boden geschickt hatte. Warum hatte ich einen Kugelschreiber in der Hand? Ach ja, ich habe etwas unterschrieben oder ausgefüllt, aber keine Ahnung was und wie. Gerade noch hatte sich alles gedreht, das Susanne-Glück-Gesicht, das Formular, der Lottoschein, meine Kontonummer, alles ist plötzlich in meiner Gedanken-Wasch-maschine durcheinander gewirbelt worden mit dem Ergebnis, dass am Ende einige Erinnerungsteile verschwunden waren wie die berühmte fehlende Socke nach dem Schleudergang.

Ich musste mir eingestehen, dass ich diese kleinen Aussetzer schon öfters gehabt habe. Es war also nicht das erste Mal und auch keine Seltenheit. In der Suchtklinik haben sie es Begleiterscheinung genannt. Verdammter Blödsinn, es kommt nicht vom Begleiten, sondern vom Saufen. Egal, ein Anlass wie dieser, Entschuldigung, das war etwas ganz -nämlich achtzehn Millionen mal- anderes.

Immer noch quatschte der Sanitäter unnachgiebig wie ein kommunaler Parkplatzüberwacher auf mich ein. Dann sah es für einen dramatischen Moment lang so aus als ob er mir mit seiner Taschenlampe ein Auge ausstechen wollte. Aber zum Glück leuchtete er damit nur direkt in meine Augen und dann hatte ich eine Idee, warum diese Lotto-Susanne so eigenartig geworden war. Natürlich, sie hatte bestimmt deshalb geflucht, weil ich mich so idiotisch angestellt habe als ich dieses Gewinnformular ausfüllte. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, dass ich sie damit an die Verzweiflungsgrenze gebracht habe. Im Nachhinein empfand ich das sogar verflucht geil, auch wenn es genau in meinem Erinnerungsschatten passiert war. Es war meine kleine Rache für ihr jahrelanges Gehabe gewesen. Aber darauf war geschissen, ich wollte endlich weg, die Millionen spazierten von selbst auf mein Konto, was sollte mich also diese Glück-Susanne, dieser Sanitäter mit seiner Taschenlampen-Waffe und der verdammte Rest noch großartig jucken. Es war höchste Zeit für meinen Abgang.

Ich hatte das, was ich wollte, nämlich soviel Geld, dass ich es gar nicht zählen konnte. Für jemand wie mich, dessen einziges Kapital eine XXL-Mülltonne voller überflüssiger Erfahrungen gewesen war, war das einfach irr und absolut überwältigend wie ein achtes Weltwunder. Keine Überraschung also, dass mir das alles den Boden unter den Füssen weggezogen hatte. Die Wende in meinem Leben hatte in diesem Moment begonnen, der sagenhafte Moment der absoluten Freiheit. Mir war immer noch etwas schwindelig gewesen und ich war noch etwas unsicher auf den Beinen. Aber das alles war ohne Belang. Ich wollte nur weg, nur vorbei an dem Krankenwagen, der mit eingeschaltetem Blaulicht vor dem Eingang zwecklos auf einen Mitreisenden wartete. Ich hatte nur ein einziges Ziel vor Augen.

8-Kneipinger-

Endlich war ich dort, wo ich hin wollte. Meine staubtrockene Kehle bekam das, was dem Rest meiner motorischen Funktionen wieder so etwas wie Leben einhauchte. Und ich war nicht alleine, alles andere als das. Zu meiner Überraschung war beim Kneipinger bereits die halbe Hölle los. Alles, was so ein wahrhaft sündiger Ort zu bieten hatte. Ein krasses Gruselkabinett eigenartiger Halbwelt-Gestalten, der Franz Schwanz, er hatte bereits die vierte Lokalrunde geschmissen, der warme Ossi und ein paar heiße Hasen, die Wuschi-Mausi, die Pamela Lippinger, die Silikon-Uschi und die Irina Vaginarovka. Die Mädels waren gekleidet wie immer, ziemlich wenig und ziemlich locker. In diesem illegalen Gruftikeller ging so richtig die Post ab, schon am hellichten Tag. Das war hier immer so. Hölle und Paradies in einem, die allererste Adresse für Alkoholleichen und solche, die es werden wollten und die Junkies, die in den anderen Kneipen nicht gern gesehen waren. Kurzum dieses unterirdische Etablissement war schlechthin die Institution für die Creme de la Creme des gesellschaftlichen Abschaums.

Ich bin oft und trotzdem hier gewesen, weil der Kneipinger der einzige war, bei dem ich anschreiben lassen konnte. Klar, dass diese Spelunke in keinem Gastroführer zu finden war. Das war ein Geheimtipp in der Szene. Niemand kannte den Namen des Wirtes, Diabolo, Luzifer, Teufelberger, Satan oder Jesus? Das war auch völlig unwichtig, er wurde nur Kneipinger genannt, das reichte. Ich wäre bestimmt nie hier gelandet, wenn meine Kumpels aus der Klinik mich eines Tages nicht hierher geschleppt hätten.

Kurz nach meinem Eintreffen ist noch der makabre Rest der Alkohol-Zombies aufgekreuzt, der Lukas Trinkaus, der Juri Becherovka, der Konrad Biermüller, die andere Hälfte der Hölle mit ein paar weiteren zweifelhaften Gestalten im Schlepptau. Die Hütte war voll, der Alkohol floss wie aus einer Regenwasser-Dusche und ich war mittendrin. Das Kalt-Bad mit meiner Wodka-Flasche war längst Vergangenheit und vergessen wie der Blackout bei der Lotto-Susanne. Ja, jetzt wollte ich am liebsten den Bleifrei anrufen. Jetzt genau war ich in der Stimmung dazu … Aber dann habe ich mir statt dessen doch lieber einen doppelten Gin bestellt. Ich spielte mit der Visitenkarte der Lottoberatungsstelle, Norbert Schlaumann-Armleuchter. Komischer Name, vielleicht konnte ich es auch nicht mehr richtig entziffern, vielleicht war mein Promille-Pegel schon weit fortgeschritten. Egal, achtzehn Millionen mal egal.

Es hätte nur eine Zwei-Mann-Spontan-Party mit Bier und einem ausführlichen und vertrauensvollen Gespräch werden sollen, nur Fix und ich. Der Rest sollte sich dann von selbst ergeben. Immerhin waren wir trotz der Rivalitäten in Bezug auf ein einziges Mädchen über die Jahre dicke Freunde geworden, mal Tom und Huck, dann Tom und Stone und wieder später Fix und Steini. Kein Wunder, wir haben als Sandkastenkinder kiloweise Sand gefressen, wohnten im selben Haus, sind zusammen aufgewachsen, besuchten dieselbe Schule -wenn wir nicht gerade schwänzten- und hatten sogar am gleichen Monatstag Geburtstag. Wir waren total verrückt auf Autos, Formel Eins und die Rolling Stones und blöderweise auch auf das gleiche Mädchen.

Ich hatte meinen Vorsatz, mit Niemandem über das Millionen-Ding zu plaudern, über den Haufen geworfen. Fix war der einzige, mit ihm und keinem anderen. Ich brauchte jemand mit dem ich mich austauschen konnte und dieser Honky-Tonky-Keller war unser konspirativer Treffpunkt, hier und nirgendwo anders. Irgendwie war diese versiffte Spelunke trotz allem immer ein vertrauter Ort gewesen, irgendwie bin ich hier nie aufgefallen und nirgend wo anders konnte ich mit ihm die Millionen-Sau herauslassen, ohne dass es aufgefallen wäre.

Die Reisetasche stand unter dem Tresen, sie war leer. Dafür hatte ich nun ein künftiges Bankkonto, fett beladen wie ein Containerschiff. Doch je länger wie ich auf Fix warten musste, umso mehr plagten mich neue apokalyptische Gedanken von Einbrechern, die meine Kohle klauen wollten, Kidnappern, die mich gegen Lösegeldzahlung entführen könnten, Verwandte und Penner, die mich um Geld anpumpen würden und hypothetische Kreditkartenabrechnungen mit unvorstellbar teurem nicht nachvollziehbarem Kram, den ich angeblich gekauft haben soll.

Unglaublich, aber ich war nahe am Verzweifeln, wie ich mit diesen ganzen neuen Gefahren umgehen sollte, als Fix endlich und viel zu spät eintraf. Er hörte mir zu, sagte mal „hm“ und mal „na ja“ und sein ganzer Kommentar am Ende war ein Grinsen -was immer es auch zu bedeuten gehabt hatte- und sein „Meine Fresse, lass uns saufen!“ Mehr gab es nicht zu sagen, dafür umso mehr zu trinken und übergangslos war die zweite Halbzeit der Kanakenparty voll in Gang gekommen. Fix hatte Recht behalten und meine Sorgen lösten sich mehr und mehr in der rekordverdächten Menge von Gin und Whiskeys auf. Statt in ein tiefgründiges Gespräch vertieften wir uns in den beispiellosen Irrsinn des Hier und Jetzt, bis alles egal war. Danach hatte ich ein paarmal ins Waschbecken gepinkelt und mir die Hände im Pissoir gewaschen.

Das Geschehen wurde immer unkontrollierbarer, die Mädchen immer reizender, eine wie die andere. Wild ausgelassen haben sie alle getanzt und irgendwie war ich mittendrin, mal am Boden, mal auf dem Tisch, mal habe ich nackte Brüste im Gesicht gespürt oder war es das Hinterteil meines Nachbarn, als sich der Barhocker unter meinen Füssen selbständig gemacht hat? Zuerst sind BHs versteigert worden. Kurz darauf hat eines der Girls auf dem Tresen gestrippt, dann hatte ich ein Höschen über dem Kopf und alles hat gebrüllt „ausziehn, ausziehn“. Der Joe-Cocker-Song -you can leave your hat on- plärrte dazu verzerrt aus den Lautsprechern und plötzlich tauchte ein üppiges Mösengebüsch direkt vor meiner Nasenspitze auf. Längst war es klar geworden, dass der Irrsinn keine Grenzen kannte und mein Alkoholkonsum eine neue Rekordmarke erreichen würde. Das war keine Party mehr, das war eine ausgewachsene Wahnsinns-Orgie und noch lange nicht am gnadenlosen Höhepunkt angekommen.

Fix stand plötzlich mit einer Sektflasche auf dem Tresen und schüttelte die Flasche wie einen Cocktail-Shaker. Dann klemmte er sich die gleich explodierende Schampuskanone zwischen die Oberschenkel, ließ den Korken an die Decke knallen und spritzte die Sektsalve gezielt in den Ausschnitt der Silikon-Uschi, dass sich ihre Nippel wie strammstehende Soldaten gegen die Innenseite der Bluse drückten. Wie auf Kommando folgten alle anderen berauscht seinem Beispiel, besessen wie ein ganzer Stall durchgeknallter Feuerwehrhäuptlinge. Jeder spritzte nur noch exzessiv um sich was das Zeug hielt, Gläser klirrten, Barhocker gingen zu Bruch, es roch nach Schweiß, sämtliche Sorten von Alkohol, Kotze, abgestandenem Parfüm und mehr.

 

Die Geräuschkulisse vermischte sich mehr und mehr in ein schräges Gewummere aus Techno-Beat, Gegröhle, Frauenkreischen, undefinierbaren Sequenzen menschlicher Laute bis nur noch ein akustischer Brei und ein schrilles Pfeifen in meinen Ohren war, das schlussendlich zu einem Piepston verkümmerte. Das ultimative Finale war eine irre Höllenfahrt ins Universum, kreisend, schrill und überirdisch. Die Erdanziehungskraft hat mich zuerst durchgeschüttelt, aber dann habe ich mich endlich von der Schwerkraft befreit. Es wurde auf einmal leicht, federnd, wie ein schwebendes Dahingleiten. Überall konnte ich unbeschreibliches blaues schemenhaftes blinkendes Licht erkennen, als ob ich in einem Raumschiff unterwegs in den Weltraum wäre.

Die nächste Erinnerung waren die außerirdischen Lebewesen. Sie hatten kein Gesicht, nur weiße Kleidung. Sie trugen mich wie einen König mit einer Sänfte ins Nichts. Ich konnte mich plötzlich selbst sehen, ruhig schlafend auf einem Bett, das im Raum schwebte. Dann kam ein neues Licht auf mich zu, außergewöhnlich hell. Es trug mich in eine andere Welt. Eine Art Zwischenwelt? Ich konnte es nicht erklären, nichts davon, was sich in meiner Fantasie abgespielt hatte, es war so unglaublich echt.

Dieser Wahnsinns-Trip war eine völlig neue Erfahrung gewesen, unbeschreiblich intensiv. Angesichts meines persönlichen Alkohol-Weltrekordes hatte ich keine Ahnung, ob und mit welcher krassen Art von Drogen ich abgefüllt war oder ob das alles nur eine Mega-Halluzination gewesen war. Das Ende der Party hatte ich nicht mehr mitbekommen, weder wusste ich wie und ob ich nach Hause gekommen war noch, was nach meinem Ausflug mit dem Raumschiff mit mir passiert war.

Ich kannte meine Blackouts, Filmrisse mit Überlänge, Vierundzwanzigstunden-Auszeiten, das alles war nicht neu, aber das Zeitloch in das ich nach der Party gefallen war hatte eine neue Dimension, so wie ich es noch nie erlebt hatte, nicht einmal annähernd. Das Einzige, was mich im zeitlosen Raum begleitete, war dieses eigenartige Grinsen von Fix.