Laura im Netz

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Laura im Netz
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Horst Schwarz

Laura im Netz

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

ANHANG

Impressum neobooks

Kapitel 1

Laura im Netz

Jugendroman

von

Horst Schwarz

Vita:

Horst Schwarz Kinder-, Jugend- und Fachbuchautor, Fortbildungsreferent, Stimme zahlreicher Hörbücher, studierte Sozialpädagogik und Theolo­gie, war viele Jahre Dozent an der Fachakademie für Sozialpä­dagogik in Nürnberg, war Online-Berater und Jugendschöffe am Amtsgericht.


Allen Jugendlichen, die mir durch ihre persönlichen Bei­träge wie Inter­neterlebnisse und Chatprotokolle Stoff zu dieser Er­zählung geliefert ha­ben, möchte ich danken, ebenso den Beamten der Polizeiberatung Zeughaus der Kriminalberatungsstelle der Nürnberger Kriminalpolizei.

Horst Schwarz

Die Handlung und die darin vorkommenden Personen sowie ENAF, TeeniesMeeting, SatelitPlayWorld, life.looking.com und die Whatsapp-Gruppen Crazy Bitches, Coole Warmduscher, Arm aber Sexy sind frei erfunden.

Jegliche Übereinstimmung ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Nürnberg 2017

Lektorat: Eva Reiß, Leuchtturm-Lektorat

Umschlaggestaltung: Ariane Schwarz

1

»Ciao, Laura, wir treffen uns dann heut’ Nachmittag in unserer Whatsapp-Gruppe Crazy Bitches. Bin ab drei Uhr on!« Caro nahm ihre Tasche, drehte sich noch einmal winkend um und sprang aus dem Schulbus, der sich schnaubend wieder in Bewegung setzte.

Jetzt war auch die letzte Mitschülerin ausgestiegen und Laura als Einzige in dem leeren alten Bus zurückgeblieben, der nach und nach allem Schüler an den jeweiligen Haltepunkten der Dörfer ausgespuckt hatte. Nun musste sie noch gut zehn Minuten durch die mittelfränkische Einöde tuckern. Laura ging nach vorne und setzte sich hinter den Busfahrer.

Der Busfahrer war ein freundlicher Mann mittleren Alters mit einem gutmütigen, runden Gesicht. Laura mochte ihn. Er hatte so etwas Väterliches, Vertrauenswürdiges an sich.

»Na, Mädel«, brummte er, während er mit seinen großen Händen das Lenkrad festhielt und nach vorne auf die immer schmaler werdende Landstraße blickte, »wie war die Schule heute?«

»Naja, passt schon«, nickte Laura, »wenn nur das doofe Mathe nicht wäre.«

»Hm«, brummte der Busfahrer, »das war auch nie meine Stärke. Drum bin ich Fahrer geworden, da muss ich nicht unbedingt rechnen.« Er lachte kurz auf und warf Laura von der Seite einen Blick zu. »Was macht ihr denn da so?«

»Bruchgleichungen und Formeln auflösen.«

»Und was heißt das?« Der Fahrer legte sein von der Sonne gegerbtes Gesicht in mitleidsvolle Falten.

»Naja«, seufzte Laura, »Bruchgleichungen sind Gleichungen, in denen ein x unten im Nenner vorkommt oder so, und das muss dann mit dem Hauptnenner multipliziert werden. Ach, ich weiß auch nicht. Egal. Wer braucht denn so was später?«

»Oh weh«, schnaufte der Fahrer, »das klingt ja alles sehr kompliziert. Gut, dass ich mir über so was keinen Kopf mehr zerbrechen muss.« Nachdenklich schaute er auf die Straße, die nun an einigen Feldern, Wiesen und ein paar alten Ställen vorbeiführte. »Hast du denn schon einen Freund?«, fragte er plötzlich und zwinkerte Laura zu.

»Einen Freund?« Laura lachte etwas gequält auf. »Hier in dieser Pampa? Hierher kommt ja noch nicht mal eine Freundin raus.« Lauras blaue Augen schauten nachdenklich und ein wenig traurig zu den Kühen hinüber, die auf der Wiese neben der Straße standen und mit leerem Blick vor sich hin kauten. Sie wohnte echt am Ende, um nicht zu sagen, am Arsch der Welt.

»Na, das kommt schon noch. Bist ja noch jung«, grinste der Busfahrer aufmunternd.

Der hat gut reden, dachte Laura und nickte nur. Wenigstens drei Jahre musste sie hier noch wohnen bleiben, dann war sie endlich achtzehn und würde so schnell wie möglich von hier verschwinden.

Während der Schulbus die letzte Kurve vor dem Dörfchen Wiesenbach nahm, gingen Laura schon die nächsten Gedanken durch den Kopf. Bestimmt herrschte zu Hause wieder Chaos und dicke Luft, wie so oft in der letzten Zeit.

Laura und ihre Mutter lebten seit einigen Jahren in diesem mittelfränkischen Fünfzig-Seelen-Dorf. Ihre Mutter ging nach der Trennung von Lauras Vater, mit dem sie nie verheiratet war, mehrere Männerbekanntschaften ein, die aber auch nicht lange anhielten. Sie war offensichtlich mit sich und ihrem Leben unzufrieden und mit der Erziehung einer Fünfzehnjährigen total überfordert. Immer wieder warf sie Laura vor, dass sie an ihrem persönlichen Unglück schuld sei. »Du hast mein ganzes Leben kaputt gemacht. Ich hätte dich gleich nach der Geburt weggeben sollen«, schimpfte sie immer öfter, ohne darüber nachzudenken, wie weh sie Laura mit solchen Äußerungen tat. Seit drei Jahren lebte sie mit Bernd zusammen, einem Landwirt, der neben ein paar Tieren auch noch einige kleinere Felder bewirtschaftete. Doch die Beziehung der beiden war schon lange nicht mehr herzlich. Mehrmals in letzter Zeit wollte Bernd seine Lebensgefährtin mit Tochter vor die Tür setzen. Aber Lauras Mutter wusste das jedes Mal mit allen möglichen Tricks zu verhindern.

Laura hasste ihre Mutter, weil sie sich ständig bei diesem Bauerntypen einschleimte, vor allem wie sie dies tat: »Na, mein Süßer, was darf ich dir zum Essen machen? Ich warte dann schon mal im Schlafzimmer …« Ekelhaft!

Aber andererseits, wo sollten sie hin? Ihre Mutter ging keiner Arbeit nach, hatte nichts gelernt, und zu Lauras Großeltern pflegten sie so gut wie keinen Kontakt. Oh, wie Laura das alles wütend machte! Egal wo sie war, sie hatte ständig diesen widerlichen Stallgeruch in der Nase, der bis in ihr Zimmer hochkroch und sich überall festsetzte. Manchmal rümpfte ihre Banknachbarin Alex die Nase, wenn der Pulli allzu sehr nach Bauernhof roch.

»Es ist wirklich alles zum Kotzen«, murrte Laura, während der Bus mit einem leichten Ruck anhielt.

»Bis morgen!«, rief sie dem Fahrer zu, warf ihren Rucksack auf die rechte Schulter und sprang aus der offenen Tür.

Der Fahrer brummte noch ein »Mach´s gut« hinterher, aber Laura hörte es schon nicht mehr.

Auf den wenigen Metern von der Haltestelle bis zum Haus malte sie sich schon aus, wie ihre Mutter mit Kopf-, Rücken- oder anderen Schmerzen in der Küche hockte und mal wieder kein warmes Mittagessen zustande gebracht hatte.

2

»Da bist du ja endlich!«, wurde Laura mit mürrischem Ton empfangen, kaum dass sie die alte Holztür mit einem kräftigen Ruck aufgedrückt hatte. »Bernd ist heute nach Schwabach gefahren, irgendwas besorgen. Der hätte mich ja auch mal mitnehmen können, der Vollpfosten. Ich wäre froh, mal aus diesem Nest herauszukommen. Du bist ja jeden Tag in Ansbach, und ich hock’ hier rum und verblöde. Im Fernseher gehen auch nur drei Programme. Das ist doch kein Leben.«

Laura kannte diesen Zustand. Erst schimpfte sie auf Bernd, dann auf ihre Tochter, die es ja so guthatte und jeden Tag in die Stadt fahren durfte. Wenn die Schimpfkanonade, die meist eine halbe Stunde dauerte, vorbei war, fing sie an zu heulen, schluchzte, dass sie sich bald im Stall aufhängen werde, weil keiner sie liebte, noch nicht einmal ihr eigenes Kind, für das sie doch alles tue.

Laura ertrug das Gezeter schon seit fast fünfzehn Jahren und wusste, dass es besser war, gar nicht darauf zu antworten. »Gibt’s was zu essen?« fragte Laura so nebenher.

Jetzt ging es aber erst richtig los: »Essen?« klagte ihre Mutter in bitterem Ton, »Bernd ist in der Stadt, der wird dort was essen, und du lässt sowieso immer die Hälfte stehen. Also für wen und warum soll ich kochen?«

Es war jeden Tag die gleiche Leier. Laura öffnete den Kühlschrank. Aber der bot auch nur einen traurigen Anblick. Laura seufzte.

»Ja, da kannst du meckern, du Ziege«, fing sie wieder an, »wann soll ich denn einkaufen? Ich komme ja hier nicht weg. Mich nimmt ja keiner mit.« Und nach einer kleinen Pause seufzte sie in weinerlichem Ton: »Ach Kind, ich glaube, wir ziehen doch hier weg. Muss mal mit deinem Vater reden, dass der etwas mehr zahlt. Dann könnten wir uns in Schwabach oder Ansbach eine kleine Wohnung nehmen.«

 

»Ja, ok«, war Lauras Antwort. Das Wort „Mutter“ war ihr schon lange nicht mehr über die Lippen gekommen. Wenn sie manchmal nach der Schule bei einer Freundin eingeladen war und sah, wie freundlich und partnerschaftlich Mutter und Tochter miteinander umgehen konnten, kamen ihr zuweilen die Tränen. In einer warmen Sommernacht war sie einmal in den gegenüberliegenden Pferdestall des Nachbarhofes gegangen, weil sie nicht schlafen konnte. Da hatte gerade eine Stute ihr Junges zur Welt gebracht. Liebevoll beugte sich die Stute über das Kleine und leckte ihm so lange über das nasse Fell, bis es trocken war. Als Laura dies sah, musste sie an ihre Mutter denken, die ihr immer wieder deutlich machte, dass sie ja letztlich gar nicht erwünscht wäre und ihr schon seit fünfzehn Jahren auf der Tasche liege. Laura waren in diesem Moment dicke Tränen die Wangen heruntergelaufen. In den fünfzehn Jahren ihrer Kindheit und Jugend war sie oft mit all ihren Fragen und Problemen allein gewesen.

»Ich geh nach oben und mache meine Hausis«, sagte Laura, nahm ihren Rucksack und stampfte die schmale Holztreppe nach oben. Ihre Mutter fragte nicht einmal: »Wie geht’s in der Schule? Was hast du denn auf?« Sie interessierte sich für nichts, was ihre Tochter betraf. Nur sie stand mit all dem Elend dieser Welt alleine da. Oh, wie Laura das alles verabscheute. Diese Frau, das alte Haus, den Stallgeruch, den Bauern, das Dorf … einfach alles. Aber in drei Jahren, wenn sie volljährig sein würde, wollte sie hier abhauen, das stand hundertprozentig fest. Sie wusste, dass ihre Großeltern väterlicherseits für sie ein Sparbuch angelegt hatten, das ihr dann etwas Startgeld in ein besseres Leben ermöglichen würde.

Laura öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Minki, die alte Hofkatze, kam ihr maunzend entgegen. Sie hatte den ganzen Vormittag auf Lauras Bett geschlafen und strich nun schnurrend um ihre Beine. »Wenigstens du freust dich, dass ich nach Hause komme«, sagte Laura, bückte sich und kraulte das struppige Fell. Als Antwort kam ein leises Maunzen, als hätte sie Laura verstanden.

Laura schloss die Tür. Das Zimmer war kalt und muffig, obwohl die Mittagssonne dieses schönen Spätsommertages durch die fast blinden Scheiben des Fensters strahlte. Laura hatte sich ihr Zimmer, soweit dies möglich war, nach ihren Vorstellungen eingerichtet. Über dem alten Bett hing ein Poster von Magic Mike. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte sie eine Wandcollage mit verschiedenen Fotos gestaltet. Gleich daneben hing ein Wandregal mit ein paar Büchern. Laura las viel und gerne. "Fifty Shades of Grey" war natürlich ein Muss. Aber auch ein paar Schulbücher lagen notgedrungen auf dem Regal herum. Laura hatte viele Interessen. In der langen Zeit, in der sie immer wieder alleine war, hatte sie gelernt, sich selbst zu beschäftigen. Laura las nicht nur viel, sie hörte außerdem gern Musik. Im Augenblick waren Taylor Swift, Nicki Minaj und Sam Smith ihre Favoriten. Manchmal auch Fall Out Boy. Die Musik wählte sie gerne nach ihren Stimmungen.

Unter das Fenster, das hinaus auf den Hof zeigte, hatte Laura einen Tisch gestellt, auf dem neben einem Tablet, ein wenig Schmuck, ihre Schminke, Nagellack und ein Spiegel lagen.

Laura griff in die Jeanstasche und holte ihr Smartphone heraus. Es war neben dem Tablet ihr wichtigstes Instrument zur Außenwelt. Erfreulicherweise hatte ihr Vater die Kosten für eine Flatrate übernommen, sodass sie wenigstens diesen Luxus genießen konnte. Ohne Internet und die Möglichkeit mit Freunden jederzeit Kontakt aufnehmen zu können, wäre sie hier in dieser Einsamkeit bestimmt schon gestorben. »Wer nicht on ist«, hatte einmal ihre Freundin Simone gesagt, »nimmt nicht am Leben teil.« Und wenn Laura so darüber nachdachte, stimmte das auch. Denn im Internet pflegte sie ihre sozialen Kontakte und erfuhr wenigstens, was außerhalb der Schule und dieses trostlosen Dorfs stattfand.

3

Im achtzig Kilometer entfernten Nürnberg legte in diesem Augenblick Wolfgang sein Smartphone aus der Hand und lehnte sich entspannt zurück. Der Fünfundvierzigjährige hatte sich mit falschen Angaben im kostenlosen Chatforum ENAF (Everybody Needs A Friend) angemeldet. Die Idee war ihm gekommen, als er seinen 16-jährigen Sohn Maik immer wieder mit Freundinnen chatten sah.

Wolfgang fühlte sich schon lange zu jungen Mädchen hingezogen, besonders zu den Zwölf- bis Sechszehnjährigen. Er konnte nicht sagen warum, aber sie übten auf ihn eine erotische Anziehungskraft aus, und er spürte jedes Mal eine starke Erregung, wenn er ihnen begegnete und in der U-Bahn oder im Supermarkt an der Kasse dicht neben ihnen stand. Beruflich und auch sonst hatte er nichts mit Mädchen in diesem Alter zu tun.

Darum schaute er ihnen heimlich nach, wenn er im Sommer im Straßencafé oder im Schwimmbad saß und durch seine dunkle Sonnenbrille die Augen wandern ließ. Es wühlte ihn immer wieder aufs Neue auf, wenn er die schlanken Beine in enganliegenden Jeans oder die sportlich jungen Körper im Bikini sah und die kleinen Brüste, die sich leicht durch das T-Shirt abzeichneten oder nur von knappen Oberteilen bedeckt waren. Diese Bilder umkreisten ihn Tag und Nacht wie Satelliten die Erde.

Niemand wusste von seinen Neigungen, durfte und sollte es auch nicht wissen. Sie lagen wie eine schwere Last auf ihm, die er ständig unter Kontrolle halten, beziehungsweise unterdrücken musste. Manchmal kam er sich vor wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde aus der Novelle des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson, in der erzählt wird, dass aus dem gutmütigen und freundlichen Arzt Dr. Jekyll in der Nacht der ungezügelte und brutale Edward Hyde wird, obwohl es sich um ein und dieselbe Person handelt. Auch in ihm, Wolfgang, dem braven Ehemann, Familienvater, Arbeitskollegen und Nachbarn, kämpften zwei unterschiedliche Persönlichkeiten. Niemand in seinem Umkreis traute ihm diese nicht normalen sexuellen Wunschvorstellungen zu.

Das Internet und besonders die sozialen Netzwerke boten ihm nun die Möglichkeit, mit diesen, in der realen Welt unerreichbaren, Teenies in Kontakt zu treten, ohne seine wahre Identität und sein Alter preisgeben zu müssen. Hier könnte er online heimlich ausleben, was ihm offline, also in der Realität, nicht möglich war. Diese Fiktionen beschäftigten ihn so sehr, dass sie einen immer breiteren Raum in seinem Leben einnahmen.

Mittlerweile besaß er neben seinem PC auch noch ein Tablet und natürlich ein Smartphone, da viele seiner Bekannten und vor allem junge Leute nur noch mit diesen Dingern im Internet unterwegs waren.

Beiläufig schaute er seinem Sohn Maik hin und wieder interessiert über die Schulter, um sich mit Chatforen, die meist von Jugendlichen besucht wurden, vertraut zu machen.

Maik war vorrangig in einer Whatsapp-Gruppe unterwegs, die sich Coole Warmduscher nannte, aber auch in ENAF, wo er jederzeit alle möglichen Leute und Altersstufen treffen konnte.

Während Maik in der Whatsapp-Gruppe nur mit Kumpels, die er kannte, kommunizierte, war er in ENAF breiter aufgestellt.

"Zeig´ der Welt dein buntes Leben", hieß es im Werbetext, "und finde Menschen jeden Alters aus nah und fern, die dir gefallen! Sende und teile mit ihnen Bilder und Nachrichten rund um den Globus!"

Als Wolfgang gelesen hatte, dass sich hier bereits Kinder ab 12 Jahren aufhielten, wusste er: Hier bin ich richtig und registrierte sich in ENAF.

Ein Geburtsdatum war schnell auf 16 Jahre ausgerechnet und als persönlichen Neckname hatte er thomas16 angegeben, um sich als attraktiven Jungen darzustellen, weil er hoffte, damit leichter die Mädchen zu ködern.

In seinem Profil konnte nun jeder lesen:

Neckname: thomas16

Name: Thomas Neubert

(Er war der Meinung, dass es mit einem Nachnamen glaubwürdiger wirkte.)

Alter: 16

Wohnort: Köln

Beruf: Schüler, 9. klasse, Gymnasium

Interessen: Kino, Party machen, joggen, Fußball, zocken, schwimmen und chillen

Hobbies: Mädchen

Musik: alles Mögliche

ENAF war einfach und übersichtlich aufgebaut.

Anfangs sah Wolfgang dem Treiben der Chatter zu, immer noch misstrauisch und mit klopfendem Herzen, um nicht doch noch etwas falsch zu machen und als Fake erkannt zu werden.

Doch nichts Ungewöhnliches geschah. Er las eine Zeitlang die Unterhaltungen mit, die aber überwiegend dümmlicher Natur waren, und ihn daher wenig Interessierten:

»hi, wer will schreiben«

»wie gut, dass ich Benn heiß und kein voller Pfosten bin«

»möchte eine w chatten, bitte mit alter melden«

»Biba und tschüss«

»alles fit im schritt«

»huhu, süße Mäuse, wer mag in meine falle«

»?????? bitte melden«

...

Alle Teilnehmer hatten ebenfalls ein Profil gestaltet, das mehr oder weniger persönliche Angaben und Fotos enthielt.

Ja, ein Bild brauchte er noch, das Foto eines sympathischen Jungen, damit die Mädchen schneller auf ihn zukamen.

Er gab bei GOOGLE „16-jähriger Junge“ ein, ging auf Bilder und schon erschienen viele Jungs im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Manche waren nur Face-Pics, andere als Selfie in unterschiedlichen Posen, mal sportlich, mal verträumt, mal protzig, mal angeberisch. Einige zeigten sich sogar mit nacktem Oberkörper oder nur in Boxershorts.

Wolfgang entschied sich aus der Vielzahl von Pics für die Face eines blonden, etwa sechzehn Jahre alten Jungen und stellte es in sein Profil.

Nun brauchte er nur noch zu warten was passieren würde.

Sein Fangnetz im WWW war ausgelegt.

Kapitel 2

4

Laura warf sich auf ihr Bett, das bedenklich knarrte. Lange hielt dieses alte Gestell, in dem sicher schon Generationen von kleinen Bäuerinnen und Bauern gezeugt worden waren, nicht mehr stand. Aber egal. Sollte das alte Ding doch zusammenkrachen, vielleicht bekam sie dann ein neues oder aber sie musste auf dem Boden schlafen, weil es niemanden interessierte. Minki sprang gleich auf ihren Bauch und schnurrte genüsslich. Die Katze suchte immer wieder dankbar Nähe und Wärme.

Nach dem Schulvormittag mit Mathe, Deutsch und Sport war erst einmal chillen angesagt. Laura hatte sich auf den Rücken gelegt und starrte zu den alten Holzbalken an der Zimmerdecke hoch. Eine dicke Spinne hockte bedrohlich in einer Ecke und schien sie zu beobachten.

»Glotz nicht so«, murrte Laura angeekelt. Oh Mann, und immer dieser widerliche Geruch. Aber diesmal kam er intensiver von Minki, die sich oft im Stall herumtrieb und nach allem Möglichen roch. »Hau ab, Stinki!« Das struppige Tier hatte es sich aber so gemütlich auf Lauras Bauch gemacht, dass sie sich nicht vertreiben ließ, sondern nur noch fester zusammenrollte.

»Laura!«, bellte die schrille Stimme ihrer Mutter plötzlich durchs Treppenhaus. »Hol’ mal einen Eimer Wasser drüben bei den Hubers. Hier spinnt schon wieder die Zuleitung!«

Soll sie doch ihr Wasser selber holen. Laura biss sich auf die Unterlippe, setze die Kopfhörer auf und ließ Sam Smith, „In Theo Lonely Hour" noch lauter singen. Was ihre Mutter sonst noch alles rief, entzog sich deshalb Lauras Kenntnis. Nach oben würde sie eh nicht kommen, dazu war sie viel zu faul. Das wusste Laura, und auch das Gezeter würde bald wieder verstummen.

Caro wollte um 3 Uhr in die WhatsApp-Gruppe kommen. Caro, oder besser Carolin – aber ohne „e“ –, war eine gute Freundin, zeitweise sogar ihre beste. Sie wohnte ebenfalls auf dem Land, hatte aber einen älteren Bruder, der sie manchmal abends oder am Wochenende mit in die Stadt nahm. So konnte sie mehr unternehmen als Laura. Seit sechs Wochen hatte Caro einen Freund, ein Kumpel ihres Bruders, den sie auf einem Dorffest kennengelernt hatte.

Tja, und wenn Freundinnen einen Freund haben, dann verschieben sich oft die bis dahin gemeinsamen Interessen. Jungs können von heute auf morgen das Leben eines Mädchens auf den Kopf stellen. Dann heißt es nur noch: David hier und David da, David am Morgen, David am Mittag, David am Abend. Und wie er küsst und wie er knutscht, und na ja, das andere wollte sie gar nicht wissen. Für eine Solo-Gängern wie Laura waren solche Gespräche echt ätzend. Aber ok, wie sagte ihr Großvater bisweilen: »Man muss auch gönnen können!«

 

Wahrscheinlich flirtete sie wieder zeitvergessen mit ihrem süßen David am Smartphone. Dann könnte das natürlich dauern. Also hieß es geduldig sein und warten.

Laura schob die Kopfhörer wieder runter und begann nach etwas Essbarem zu suchen, denn ihr Magen knurrte schon hörbar. Minki sprang erschrocken unters Bett, als Laura so ruckartig aufstand. Irgendwo mussten noch ein paar Kekse und etwas Schokolade liegen. Ah ja, auf dem Bücherregal, sinnigerweise neben dem Buch Schlankwerden ohne Stress. Laura stopfte den Rest Schokolade und die Kekse in den Mund. Dann öffnete sie ihr Tablet und schaute auf Facebook. Aber außer ein paar neuen Mitteilungen von Sabrina, Melanie und Andy gab es nichts Interessantes. Steffi hatte mal wieder ihr Profilbild geändert, das natürlich von Marc lästernd kommentiert worden war. Tanja und Christine waren seit gestern Freunde. Laura musste grinsen. Ausgerechnet Tanja und Christine. Naja, warum auch nicht? Und der supercoole Mike glänzte mal wieder mit einem seiner Sprüche: »he schatzis, geschmeidig bleiben, bin gleich für euch da, muss nur noch gucken, was jogi löw, robbie williams und barack obama mir geschrieben haben * hab euch alle ganz doll lüb«.

Oh, da stand noch eine Freundschaftsanfrage. Laura klickte darauf. Oh nein. Nicole aus der Parallelklasse, die schon die ganze Zeit in ihre Whatsapp-Gruppe wollte. Nun versuchte sie es über Facebook. Laura wusste, wenn sie auf Bestätigen drückte, dann nervte sie nicht nur in der Pause, sondern auch noch auf Facebook und würde wohl bald wieder um Aufnahme zu den Crazy Bitches betteln. Würde sie aber auf Nicht jetzt gehen, wäre Nicole auf den Tod beleidigt. Also am besten erst mal gar nicht reagieren.

Neben der Whatsapp-Gruppe war sie auch in TeeniesMeeting und ENAF. Hier konnte sie schnell neue Leute entdecken und Bilder checken. Außerdem war sie auf intensiver Suche nach einem netten Jungen, denn dieses Sololeben war auf Dauer nicht der Hit.

Sie schaute auf ihr Smartphone und ging sowohl in TeeniesMeeting als auch in ENAF on, dann würde sie nichts verpassen und könnte schneller hin und her switchen. Aber von den Leuten, die sie kannte, war niemand on. Laura hatte in der letzten Zeit hier einige coole Typen erspäht, aber was Richtiges war nicht dabei. Dennoch fand sie es irgendwie interessant und spannend. Auf Facebook oder Crazy Bitches traf sie überwiegend Leute, die sie kannte. In TeeniesMeeting aber tummelten sich viele rum. Größtenteils wurde sie hier angetextet. Wenn die Typen dann annähernd höflich schrieben, war meistens eine kurze lockere Chatbeziehung entstanden.

Eine Zeit lang beobachtete sie in TeeniesMeeting die doofen Unterhaltungen der anwesenden Chatter mit Namen wie eierschale, I-have-a-dream, Crazy_Angel, sunnyforyou oder overkill:

»hi, mit Hit is fit«, »sportliche sie mit lust auf bockspringen«, »jemand heiß auf meine reckstange«, »brustkraulen gewünscht«.

Laura bekam Gänsehaut. Es sah so aus, als wenn sich wieder einmal nur überwiegend perverse Typen hier tummelten. Sie schüttelte angewidert den Kopf. Solchen Gestörten, die ihren Verstand nur in der Hose trugen, antwortete sie erst gar nicht.

Sie switchte wieder in ENAF.

Hier hatte Laura ihr Profil mit viel Mühe und Zeitaufwand gestaltet. Nicht ganz ohne Hintergedanken. Vielleicht fand sie hier ein Dating mit einen netten Jungen und möglicherweise konnte sogar mehr daraus werden.

Sie nannte sich: laura. angel,

und in ihrem Profil war zu lesen:

Name: laura

Alter: 15

Größe: 1,68 m

Haare: blond

Augen: blau

Körperbau: schlank

Typ/Stil: bequem, jeans & t-shirt

Alkohol: nur in geselliger runde

Essen: spaghetti, pizza, burger Wohnort: mittelfranken

Beruf: schülerin, gym, 8. klasse

Eigenschaften: ehrgeizig, freundlich, tolerant, lustig, aber auch leicht reizbar, ungeduldig, stur

Musik: Charts, Rapp, Country Pop

Lieblingsfilm: > Mit dir an meiner Seite <

Lieblingsspruch: "Man sollte sich die Ruhe und Nervenstärke eines Stuhles zulegen.

Der muss auch mit jedem Arsch klarkommen!"

Lieblingsbuch: Fifty Shades of Grey

Übrigens: Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht!

Als Bild hatte Laura ein Selfie von sich reingestellt, wo sie seitlich in die Kamera lachte und ihre Haare eine Gesichtshälfte verdeckten. Außerdem waren noch einigen Hinweis an gewisse Typen eingefügt:

1. Ich habe keinen Bock auf CamChat jeglicher Art. Im Übrigen wäre es nett, wenn du ein Facepic einstellst, denn ich sehe gern, mit wem ich schreibe.

2. Ich habe nichts verloren, bin hier also auch nicht auf der Suche nach irgendwas. Kaum zu glauben, aber man kann auch aus Langeweile chatten!

3. A t e n z i o n e: An alle CS- und TS-Gestörten:Ich bin nicht hier, um dich geil zu machen oder dir bei deinen Erektionsproblemen zu helfen. Wenn du zu peinlich ode­r zu blöde bist, um dich im wirklichen Leben auszutoben, ist das nicht mein Problem. Also nerv nur die Leute mit deinen dämlichen Fantasien, die so denken wie du! Kleiner Tipp am Rande: Es gibt genügend Einrichtungen für sexuell Frustrierte. Diese nennt man Bordell, geh dort hin oder ruf eine der vielen 0900-Nummern an …

4. Wenn du nur Ein- oder Zweiwortsätze nach dem Motto:»wie geht’s?«, »wie alt?« oder »woher?« zustande bringst, sag ich kurz und knapp »bye!« Denn auf oberflächlichen Smalltalk hab´ ich keine Lust!

5. Ich wäre sehr froh, wenn du über ein Mindestmaß an Denkorgan und Anstand verfügst. Also erspar mir bitte primitive, niveaulose und saudumme Sprüche und Fra­gen!

* * * D A N K E ! * * *


Aber trotz der deutlichen Hinweise musste Laura immer wieder feststellen, dass die meisten sie gar nicht gelesen hatten oder einfach ignorierten.

Als Caro weiter auf sich warten ließ, switchte sie erneut in TeeniesMeeting. Aber hier herrschte zurzeit tote Hose, obwohl die meisten doch jetzt aus der Schule kommen müssten.

Sie blieb on und schaute erneut in ENAF.

Fünf weibli­che und zwei männliche Nicknames waren hier mittlerweile on.

Laura grüßte mit »hi@all«.

Anstelle einer Antwort kam sofort eine Privatnachricht von reiferHerr. Laura sah auf die Altersangabe.

Ups, der war wohl ein bisschen älter. Das war nicht ihre Liga, und so klickte sie auf nein.

Dann erschien bigtail und fragte, wie es denn »so geht und steht«. Aber allein der Nick verhieß nichts Gutes. Wer sich schon „dicker Schwanz“ nennt und fragt, wie es steht, hat be­stimmte Absichten, auf die Laura nun wirklich keinen Bock hatte.

Es dauerte nur Sekunden, da gingen wieder private Anfragen von ü30-Typen auf. Laura wollte erst gar nicht wissen, mit welcher Anmache die notgeilen Kerle sie anschrie­ben. Sie hatte das alles schon zigmal gelesen: »na süße, wie gehts«; »auch lust auf lust«; »biste geil heute«; »was haste denn schönes an«; »biste auch allein«; »willste meinen mal vor der cam sehen« ...

Das Ekelhafteste ist ihr mal ganz am Anfang passiert, als sie noch neu in diesem Chatraum war. Da fragte einer an, ob sie auch eine Webcam habe. Als sie vorsichtiger Weise verneinte, meinte er, das wäre egal, er hätte eine, und ob sie ihn mal sehen wolle. Neugierig, wie sie eben war, stimmte sie ohne Bedenken zu. Dazu müsse sie allerdings in ein kostenloses Camchatportal wechseln.

Sie solle dort nur „Laura" in das Fenster schreiben.

Arglos folgte sie der Anweisung und öffnete. Nach einer Weile kam die Anfrage, ob sie an­nehmen wolle. Klar wollte sie. Also drückte sie auf Annehmen, und was sie plötzlich sah, haute ihr fast den Vogel raus.

Auf dem Bild sah sie einen Kerl mit runtergelassener Hose, der sich lustvoll selbstbefriedigte, laut stöhnte und fragte, ob ihr das ge­falle. Laura war so erschrocken, dass sie instinktiv auf OFF drückte und rief: »Aber hallo, was war denn das?«

In Gesprächen mit Freundinnen erfuhr sie, dass es wohl für perverse Kerle ein geiler Kick ist, sich nackt vor jungen Mäd­chen zu zeigen.

Nina wurde von einem Kerl einmal gefragt, ob sie ihm für fünfzig Euro einen gebrauchten Slip schicken würde.

Und Babsi erzählte, dass ein alter Knacker ihr hundert Euro bieten wollte, wenn er sie treffen und dann überall an­fassen dürfe. Sie brauche keine Angst zu haben, er wolle sie nur in seinem Auto ein bisschen befummeln.

Dass viele Kerle nach Nacktbildern fragen, scheint ebenfalls übliche Praxis zu sein.

Besteht denn das ganze Internet nur aus kranken und notgeilen Typen? dachte Laura.

Caro, die alte Trödeltante, war immer noch nicht on. Ihr David kaute ihr sicher wieder beide Ohren ab.

Vielleicht sollte Laura zwischenzeitlich einen Blick auf die Mathe-Hausaufgaben werfen – oder? Die bald anstehende Schulaufgabe ließ sie schon etwas unruhig werden.

Naja, tröstete sie sich, wenn ich meine 4 halten kann, passt es doch. Dabei durfte sie sich allerdings in Englisch keinen Ausrutscher leisten.