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3. Krieg
3.1. Motive und stilistische Signaturen

Der Sammelbegriff „Kriegsliteratur“ kennzeichnet allgemein die stoffliche Komponente und Schilderungen konkreter Ereignisse, Erzählungen menschlicher Schicksale, Gestaltungen, in denen das Unbestimmte, Unübersichtliche und ständig Wechselnde des Geschehens hervortritt sowie Auseinandersetzungen mit dem Orientierungsverlust und der Suche nach einer sinnstiftenden Ordnung einzelner Figuren. Bereits die Sichtung der Fülle des Materials bereitet Schwierigkeiten. In literaturhistorischen Überblicken und Literaturgeschichten wird alle Literatur über Kriege unter Autoren oder allgemeinen Tendenzen wie etwa Vergangenheitsbewältigung, Luftkrieg oder Trümmerliteratur eingeordnet. Sie tritt profiliert hervor in Anthologien ausgewählter Kriegsgeschichten, in Einführungen (Text, Aktion, Bild) und wissenschaftlichen Konferenzbeiträgen. Sieht man vorerst von Publikationen in Sammelbänden, Veröffentlichungen in Zeitschriften, Archiven und Almanachen sowie von Erzählungen von Autor(inn)en ab, die den Begriff ‚Krieg‘ nicht im Titel führen, so ergibt sich folgendes Bild: Bibliotheken und Forschungszentren erfassen das Material unter dem Sammelbegriff ‚Krieg‘, ordnen es nach historischen Zeitabschnitten (Dreißigjähriger Krieg, Erster und Zweiter Weltkrieg), berücksichtigen Länder, gliedern es nach Sachgruppen, unter denen ‚Krieg und Literatur‘ wie auch Belletristik näher bestimmt wird. Weitere Unterteilungen in Untersuchungen aus den Fachbereichen der Geschichte, Literaturwissenschaft, Ökonomie und Politologie erleichtern die Sichtung. Trotzdem stößt jede Nachforschung auf eine nahezu unübersehbare Zahl von Werken. Die Titelaufnahmen in der Deutschen Bibliothek, dem Bayerischen, den Sächsischen und Österreichischen Bibliotheksverbänden, der British Library, der Library of Congress und dem Erich-Maria-Remarque Archiv verzeichnen beispielsweise zwischen 1158 und 4871 Titel. Darüber hinaus wird der Zugang zur Literatur für die Themenforschung durch den Umstand erschwert, dass sich zwar Kritiker und Leser oft in auffallender Übereinstimmung finden, dieses oder jenes Buch sei eine Kriegsgeschichte, aber bei eingehender Befragung das Urteil erweitern. Krieg selbstverständlich, eine Frontgeschichte, eine Anklage, das entsetzliche Schicksal eines Soldaten, die Leiden eines Landes, Luftkrieg, Seeschlacht, Bewährung, Überleben, Aufruf das Vaterland zu verteidigen, gute Kameraden, selbst eine Liebesgeschichte.

Dementsprechend bieten sich mannigfaltige Einzelfragen an. Jeder Text, der den Krieg thematisiert, hat eine bestimmte Signatur. Sie ist nach Themenbezügen und historischen Orts- und Zeitbestimmungen differenzierbar. Besonders im historischen, politischen und sozialen Umfeld der Einzelwerke bestehen markante Unterschiede. Der Trojanische Krieg und römische Feldzüge, der Krimkrieg und der Zweite Weltkrieg, der Polenfeldzug und die Westfront, Stalingrad, die sechste Armee und Berlin haben unterschiedliche Voraussetzungen, welche die Schilderung der Ereignisse, des Milieus und der Atmosphäre prägen. Darüber hinaus beeinflussen die Umstände der Entstehung der literarischen Werke die unterschiedlichen Darstellungen. Die Ilias berichtet vom Eingreifen der Götter und gibt Auskunft über Strategien. Großangelegte Tableaus erscheinen neben Aufzählungen. Im Mahabharata deutet Krishna den Krieg als notwendigen Beitrag zur Erneuerung des Lebens. Das Alte Testament, beispielsweise 4. Mose 21 und 2. Samuel, unterscheidet zwischen gerechten und ungerechten Kriegen. Gott hilft König David, der mit der „Schärfe seines Schwertes“ Jerusalem einnimmt. Beiläufig erhält man Hinweise auf Aufstellungen der Truppen, Vorbereitungen zur Schlacht und die Vernichtung der Feinde. Die Kriegsauswirkungen in Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1669) – plündern, foltern, vergewaltigen, töten und sterben – sind völlig anders gestaltet in Felix Dahns Ein Kampf um Rom (1877), einem Roman, in dem Stammesverbundenheit, Treue, Rechtmäßigkeit und heroisches Ende der Goten in den Mittelpunkt gestellt werden. Die auf St. Helena von Napoleon I. verfasste Untersuchung von Angriffskriegen Darstellung der Kriege Caesars, Turennes, Friedrichs des Grossen (1819), der theoretische Abriss Vom Krieg (1832) von Karl von Clausewitz und Erich Maria Remarques Anklage Im Westen nichts Neues (1929) beschreiben nicht vergleichbare Ereignisse. Horst Bieneks Gestaltungen des Krieges heben sich deutlich ab von Berichten in den Büchern von Lothar-Günther Buchheim. Gravierende Unterschiede bestehen zwischen der Protestliteratur gegen den Krieg und Schriften, die den Krieg als Fanal der nationalen Erhebung preisen und zur Verteidigung der Heimat aufrufen.

Die Themenforschung versucht, aus der Fülle dieser Erscheinungen die systematische Gliederung einer Typologie herauszuarbeiten. Sie will in den vielfältigen Verknüpfungen die gedankliche Gesetzlichkeit, das Ideogramm aufweisen. Die Kriegsliteratur von Dokumentarberichten über Gedichte, Hörspiele und Dramen bis zu Romanen hat in ihrer jeweils spezifischen Ausprägungsform jedoch an den unterschiedlichsten literarischen Stileigenheiten teil. Zahlreiche Texte konzentrieren sich auf die Erfahrungen Einzelner, andere auf die verschiedener Figuren. Einige Texte stützen sich auf Tagebucheinträge der Autoren, andere sind bewusst als Dokumentation entworfen. Die Erzähltechnik der Berichterstattung will den Eindruck erwecken, die Dokumentation biete die Voraussetzung objektiver Darstellung und vermittle anhand von Fakten das tatsächliche Geschehen. Der Eindruck eines kaleidoskopischen Zeitbildes wird verstärkt durch Fakten, die archivalisch die Namen einzelner Akteure, konkrete Details, Rundfunknachrichten, Ausschnitte aus Reden oder Bekanntmachungen und mehrstimmige Beobachtungen von Personen aus allen Bevölkerungsschichten erfassen. Konkrete Darstellungen sind grundsätzlich handlungsbetont und erwecken den Eindruck unmittelbarer Gegenwartsnähe. In der erweiterten Perspektive vermitteln die Ereignisse zugleich das bewusste Nachdenken der Erzähler. Einige Texte stellen vielfältige, szenisch aufgelockerte Situationen nebeneinander und versuchen dadurch, ein umfassendes Zeitbild zu gestalten. In etlichen Darstellungen steht der Krieg im Hintergrund und redet nur in das Geschehen hinein. Trotzdem vermitteln sie die Erkenntnis, dass letztlich der Krieg die Entscheidungen, das Tun und das Unterlassen der Figuren maßgeblich bestimmt. Dieser Sachverhalt kennzeichnet sowohl von Kriegsteilnehmern geschriebene Berichte als auch Werke, die von Autor(inn)en entworfen wurden, die vom Krieg nur indirekt betroffen waren.

Weitgehende Homogenität in der stilistischen Signatur besteht im Anspruch der Authentizität. Er wurzelt in der Sphäre des Stofflichen und verlangt ein Gespür für den Kriegsschauplatz, die intime Vertrautheit mit Einzelheiten des Milieus, eine genaue Kenntnis der Sprache, der typischen Reaktionen Einzelner, des Lebens an der Front, im Lazarett und im Urlaub. Kriegsberichte, faktisch orientierte Darstellungen und Rückblicke auf Erlebtes versetzen Leser in eine einstige Gegenwart, die jedoch manchmal von einer Zukunftsperspektive durchdrungen ist. Jede Einzelheit, sei es die Beschreibung einer Koje im Boot oder ein Hinweis auf einen Film, der zu der Zeit gerade lief, soll den Eindruck größter Wirklichkeitsnähe erwecken und dadurch den Anspruch der Authentizität verbürgen. Ein Vergleich von Renns und Buchheims Schilderungen zeigt, dass Konkretisierung als stilistische Konstante in Schilderungen unterschiedlicher historischer Ereignisse nachweisbar ist. Ludwig Renn veranschaulicht in Krieg (1928) die Existenzmisere des Frontsoldaten Renn von der Mobilmachung 1914 über den Einmarsch in Belgien, den Stellungskrieg an der Somme, die Schlacht an der Aisnè bis zum Rückzug nach Deutschland. Die Erzählung greift zurück auf alle grundlegenden Motive der Kriegsthematik (Guter Kamerad, Hilfsbereitschaft, Durchhalten, Bewährung) und registriert eine überwältigende Monotonie des Grauens, die ständige Wiederkehr des Tötens und des Todes, den Dreck im Graben, die Leiden und die Angst aller. Die Schilderung behält die Nahperspektive konsequent bei und verzichtet auf jede Deutung übergreifender historischer Zusammenhänge. Der Soldat verspürt eine Folge wechselnder und wiederkehrender Empfindungen, ohne die Ursachen des Krieges oder dessen historische Bedingungen zu begreifen. Er steht letztlich dem Umsturz und der kommenden Revolution verständnislos gegenüber.

Renns Beschreibungen des Zeitgeschehens in Nachkrieg (1930) und Inflation (1963) sind weiterhin geprägt von intensiver Wirklichkeitsnähe. Sie erweitern jedoch die Perspektive zur Befragung der Vergangenheit, da sich die zentrale Figur (der berichtende Renn) zu einer höheren Stufe der Selbst- und Welterkenntnis durchringt. Nachkrieg schildert den Werdegang Renns, der in den ersten Nachkriegsjahren Bataillonsführer einer von der sozialdemokratischen Regierung aufgestellten Sicherheitstruppe in Dresden wird und dann der Sicherheitspolizei beitritt. Er gibt den Dienst auf und wird Mitglied der kommunistischen Partei, da er glaubt, dass die Führung der SPD (Ebert, Scheidemann und Noske) das Ziel einer demokratischen Republik nicht erreichen können. Inflation knüpft an die politische und ökonomische Entwicklung der Nachkriegsjahre an und konzentriert sich auf 1922 bis 1923. Das Leben in der Inflationszeit erinnert an den Krieg. Die Leiden der Menschen sind gut getroffen. Die Ortung der Wirtschaftsnot ist einseitig durch die utopische kommunistische Orientierung des Berichterstatters begrenzt. Die Skizzen von Einzelheiten bestechen. Dagegen hat Renns These von den edlen Anfängen des Kommunismus (Renn war zur Zeit der Niederschrift von Inflation Nationalpreisträger und führender Repräsentant der sozialistischen Literatur der DDR) viel mit seinen Gefühlen und wenig mit den politischen Fakten zu tun.

 

Auch Lothar-Günther Buchheim greift in seinen Kriegsdokumentationen auf persönliche Erlebnisse zurück. Die Handlung in Das Boot (1973) kreist um die Erfahrungen eines U-Boot-Kommandanten und seiner Mannschaft, die dem „Alten“ vertraut, ihn verehrt und bewundert. Der Kommandant hat alle Eigenschaften eines erfolgreichen Offiziers: er versenkt Schiffe, folgt den Befehlen seiner Vorgesetzten, passt sich an, kritisiert die NS-Regierung nicht für ihre Ideologie, sondern die strategischen Fehler des Seekriegs und teilt die Freude am Abenteuer der Aktionen unter Wasser. Die Handlung ist jederzeit gegenwärtig und chronologisch wie in der Festung (1995). In dem weit über 1000 Seiten langen Bericht werden Leser in den letzten Sommer des Zweiten Weltkrieges zurückversetzt. War die Geisteshaltung des Erzählers im Boot die der Kriegerehrung, dann ist die eingefangene allgemeine Atmosphäre in der Festung die der Anpassung an die unveränderlichen Umstände. Die Leser haben teil an Schiff-, Auto- und Bahnfahrten. „Jetzt habe ich noch mal eine Nacht und einen Tag Bahnfahrt vor mir. Und wenn es Fliegerangriffe geben sollte, wird es noch länger dauern. Verhungern und verdursten werde ich nicht: Zu essen und trinken habe ich in meiner Tasche.“63 Leser werden aufgefordert, sich an historische Zeitbezüge zu erinnern und das geschichtlich Verbürgte anzuerkennen. „41 war überhaupt ein rechtes Schicksalsjahr: Mit dem Untergang der Bismarck war Schluß mit der Dickschiffherrlichkeit. Von da an war ein wirkungsvoller Handelskrieg nicht mehr möglich. Aber alle taten bald so, als wäre die Bismarck gar nicht weg.“ (556) Leser sollen sich einfühlen und mitempfinden: „Wohl tausend Stunden habe ich so wie jetzt den weiten Himmelsraum und die See in den Blick gefaßt, und jetzt heißt es den Rücken kehren! Da hocke ich nun: Farewell to the ocean. Weiß der Henker, wie ich das verkraften soll. Ich muß schlucken, damit mir nicht die Tränen über die Lider rinnen.“ (1230) Eine Mine explodiert. Konkret, authentisch, gegenwärtig, erschreckend, jeder erfährt das Ereignis beim Lesen: „‚Deckung‘ höre ich mich selber schreien und werfe mich längelang neben das rechte Vorderrad … ‚Runter in den Dreck!‘ brülle ich … ‚Deckung!‘ schreie ich … Da höre ich MG-Feuer; ohne Zweifel von unserer Uferseite … Da ebbt das Schießen ab, und dann ist es ganz weg. … ‚Los! Anfahren!‘“ (1333) Die Leser werden aufgerufen, alles mitzuerleben, zu sehen und zu riechen: ein Schieferdach, auf dem Moos wächst; Amoniakgeruch in der Latrine; eine Nacht bei der Freundin. Trotz wiederkehrender Verwendung von Ausrufezeichen bleiben die Ereignisse eigentümlich schematisch. Die Kriegsereignisse wirken nahezu so geisterhaft wie die gespenstische Existenz des deutschen Nachtheers in der Normandie. Die durch Überpräzision der Details angestrebte Wirklichkeitsnähe geht unter in dem Schutt von Szenen und gleichermaßen bedeutend und unbedeutend wirkenden Details. Die im Text geschilderte jeweilige Reaktion auf rekonstruierte Erlebnisse vermittelt keine Einblicke in das Wesen des Krieges.

Viele Darstellungen beglaubigen das an sich unfassbare Geschehen, indem sie die Figuren als Augenzeugen vorstellen. Die Beschreibungen versuchen, durch vertraute Bilder, Metaphern und Sprachfügungen zu überzeugen. Im Gegensatz zu Erinnerungsdiskursen, die eine bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erkennen lassen, erweckt die Nahperspektive den Eindruck vitaler Gegenwart. Die Sinne reagieren auf eine Handlung, die nicht abgeschlossen ist: die Zukunft des nächsten Augenblicks und das unbekannt Bevorstehende bewirken Erwartung, Hoffnung, Befürchtung und Täuschung. Die Schilderungen wollen Leser in das Geschehen verwickeln. Sie sollen an der ehemaligen Gegenwart teilhaben, kritische Vorbehalte ausschalten und vergessen, dass sie vergleichbare Ereignisse aus ihrer eigenen Erinnerung möglicherweise völlig anders beurteilen. Die ästhetische Qualität des Kriegsstoffes beruht auf dieser sinnlichen Wirkung. Besonders die scheinbar auf das ‚Tatsächliche‘ begrenzte Kriegsliteratur spricht Empfindungen an und befriedigt Erwartungen, die Leser an die stoffliche Präzisierung stellen. Die Motivik von Sehen, Erleben und Berichten übernimmt die Funktion, die Ereignisse zu authentisieren. Das stilistische Verfahren ist sowohl in Tatsachenberichten als auch in Romanen und in Erzählungen nachweisbar, in denen „tatsächliche“ Ereignisse und Fiktion ineinander übergehen. Der Authentizitätsanspruch wurzelt entweder in unausgesprochenen oder reflektierten Versuchen der Selbstvergewisserung, in denen die Berichtenden ihr Verhältnis zu anderen, zur Gruppe, zu Kameraden und Feinden näher begründen. Was sich innerhalb dieser Bemühungen abzeichnet, ist eine Richtung geistiger Auffassung, welche die unterschiedlichen Gestaltungen der Kriegsgeschehen entscheidend bestimmt. Die Haltung prägt Konstanten, in denen einerseits positive Erfolgserlebnisse, andererseits negative Erfahrungen vorherrschen, in denen Sinnfragen entweder im Ethos soldatischer Pflichterfüllung aufgehen oder Erzähler vor dem schwer Auszusprechenden zögern. Unübersehbar ist die Tatsache, dass zuweilen der Wust der geschilderten Ereignisse die kritische Reflexion begrenzt oder dass mitunter im Gegensatz dazu Gewissensfragen die Erzählperspektive maßgeblich beeinflussen. Die Sichtung der Konstanten bietet die Voraussetzung einer Untersuchung der stilistischen Verknüpfung von Elementen, die die allgemeinen Prinzipien des Themas begründen. Diese betreffen besonders das bereits in der „Einführung“ dokumentierte wechselseitige Verhältnis von Stoff, Sujet, Motiv und Thema sowie mit dem Thema verknüpfte Grundformen des Denkens. Das Ziel der Untersuchung ist die Identifikation zentraler Themenkomplexe und Motive, die den Textaufbau stützen. Wesentlich sind folgende Fragen: Unter welchen Bedingungen entsteht in einem Text ein Gefüge von Beziehungen, welches den Krieg thematisiert? Arbeiten die Berichte aus subjektiver Sicht gestaltend den Kriegsstoff auf oder versuchen sie, in einem Prozess reflektierender Annäherung, das Wesen des Krieges zu erkennen? Mögliche Antworten weisen darauf hin, dass thematisierter Krieg grundsätzliche Fragen stellt. Das Thema konfrontiert das Phänomen, seine Ursachen und seine Auswirkungen.

Im Gegensatz zum Szenen- und Bilderreichtum des Stoffbereichs fasst das Sujet die Mannigfaltigkeit zu einer objektivierenden, begrifflichen Einheit zusammen. Die vom Felde der Erfahrungen abstrahierte Idee des Krieges kennzeichnet allgemeine Bedingungen, die jeweils in Texten näher erläutert werden. Das Sujet ist somit ein Konzentrationselement, eine Kurzführung der Kriegssphäre, die Abstraktion einer bestimmbaren Vorstellung. Kleist verwendet sie in „Germania an ihre Kinder“ (1809), Heym im Gedicht „Der Krieg“ (1911), Thomas Mann in einem Brief an das „Svenska Dagbladet“ (11.5.1915) und in „Deutsche Hörer! Fünfundfünzig Radiosendungen nach Deutschland“ (1945), Bruno Apitz in Nackt unter Wölfen (1958), Wolfgang Schreyer in Unternehmen „Thunderstorm“ (1954) und Günter de Bruyn in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992). Aufschlussreich sind Manns Brief und seine darauf gründenden Überlegungen. Er kennzeichnet darin unter anderem Deutschlands Angriff im Westen als notwendige und sinnvolle Selbstverteidigung. Zur Erhärtung seiner Kriegsthesen führt er einige Verse aus Schillers Braut von Messina (1803) an. Romain Rolland reagiert äußerst gereizt. Mann nimmt daraufhin in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) in seiner Darlegung der Spannung zwischen Politik und Ästhetizismus abermals Stellung zu dem Zitat. Jetzt dient der Hinweis dazu, Schiller als Dramatiker und Ästhet zu charakterisieren, der objektiv die Vorzüge des Krieges und Friedens zu Wort kommen lässt. Die Stelle findet sich im 1. Aufzug, 8. Auftritt. „Einer aus dem Chor“ tritt hervor und preist den Frieden als lieblichen, am ruhigen Bach gelagerten Knaben, der seiner Flöte süßes Tönen entlockt und von hüpfenden Lämmern umgeben ist. Unvermittelt und ohne Bruch im Versmaß, nur durch die adversative Konjunktion „aber“ eingeleitet, geht der Sprecher dazu über, ein Hohelied auf den Krieg zu singen. Er lobt den Krieg als Beweger des Menschengeschicks. „Der Krieg läßt die Kraft erscheinen. Alles hebt er zum Ungemeinen.“ Was Mann zu seinen widersprüchlichen und später erneut revidierten Aussagen bewegt, ist der besondere Sachverhalt in Schillers Trauerspiel, der gleichermaßen markant in der Wallenstein-Trilogie (1800) hervortritt. Schiller verwendet Krieg als Sujet im Sinne unserer gegenwärtigen Begriffsbestimmung. Das Sujet kann außerdem in der Verbindung mit Motiven (Aggression, Appell an nationale Gefühle, Bruderkonflikt, Herrschaftsanspruch, Zufall) als Verweisfigur, die Signalfunktion hat, zum Funktionsträger werden. Unter diesen Voraussetzungen gewährt die genaue Bestimmung eines Sujets Einblicke in die Wechselbeziehungen zwischen dominanten Figuren, einzelnen Elementen, Textfeldern und Strukturen.

Zum festen Bestand der Kriegsliteratur gehören eine Reihe strukturbildender Motive. Sie verknüpfen Erzählschichten und stehen in einem dynamischen Wechselverhältnis mit anderen Elementen eines Textes. Sie stellen Spannungsbögen in Texten her, wirken direkt auf die Handlung zurück und veranschaulichen das Thema Krieg. Sie präzisieren Ort, Zeit, eine typische Situation, menschliche Verhaltensweisen oder auch Denkformen, die entweder individuell gegeben sind oder im kollektiven Bewusstsein gründen. Einzelne Motive (Brotbeutel, Kinderschuhe, Obstbaum) können zum zentralen Anliegen in einem Gedicht oder einer Erzählung werden. Es gehört zur besonderen Eigenart einiger Kriegsmotive, dass sie Grunderlebnisse und Erfahrungsgehalte ansprechen, die im historischen Ablauf entstanden sind, sich wiederholt haben und in der Gegenwart wiederholen. Es sind gleichsam im kollektiven Bewusstsein aufbewahrte und im Leben wiederkehrende Situationen. Vorausdeutungen, rückwendende Einführungen und Schlüsse der Erzählungen kennzeichnen den Standort der Erzähler. Sie schließen an die literarische Tradition der Verkündungs- und Schlusstopik an. Die Erzählperspektive ist unterschiedlich. Ein Erzähler erweckt den Eindruck, er sei gegenwärtig und habe teil am Geschehen. Ein anderer berichtet aus kritischer Distanz. In einigen Erzählungen erscheinen die Kriegsauswirkungen aus der Sicht der Nachgeborenen und führen innerhalb einer distanzierten Bestandsaufnahme zu intensiver Besinnung. Zahlreiche, schematische Einführungen singender, blumengeschmückter Soldaten, hoffnungsvoller Jugendlicher, die freudig aus dem Alltag wegstreben, und begeisterter Lehrer unterstreichen das Pathos der Befreiung, das im Erzählverlauf häufig desillusioniert wird. Gleichermaßen desillusionierend wirken in Eingängen Worte wie „unverbrüchlich“, „unzertrennlich“, „uneinnehmbar“ und „unbesiegbar“. Hinweise auf eine unverbrüchliche Kameradschaft motivieren spätere Entscheidungen, in denen der Charakter der Kameraden geprüft wird. Einige Autoren und Autorinnen der Gegenwartsliteratur nehmen in Einführungen, in denen Söhne oder Töchter entweder alte Briefe lesen oder auf Fotografien der im Krieg verschollenen Väter schauen, die thematisierte Identitätssuche der Nachgeborenen vorweg. Selbst die bereits Erwachsenen finden zufällig beim Aufräumen längst vergessene Briefe; sie starren auf eine Fotografie; sie stellen quälende Fragen: Warum hast du geschwiegen? Warum hast du dich verschlossen, als du noch da warst? Warum hast du mich allein gelassen? Aus den Fragen an den Vater entsteht ein neues Verhältnis, in dem sich die peinigende Erinnerung klärt. Das Motiv der Konfrontation der Nachgeborenen mit den Tätern und Opfern kann stark differenziert werden. Es verweist jedoch grundsätzlich auf die existenzielle Notlage, die Ich-Suche, die Angst oder den heimlichen Widerstand der Fragenden und Versuche, das Wesen des Kriegs zu verstehen. Diese Ausarbeitung der Motive ist deutlich in: Peter Härtling. Nachgetragene Liebe (1980), Sibylle Knauss. Die Nacht mit Paul (1994), Siegfried Lenz. Deutschstunde (1968), Christoph Meckel. Suchbild. Über meinen Vater (1980), Elisabeth Plessen. Mitteilung an den Adel (1976), Ruth Rehmann. Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater (1979) und Bernward Vesper. Die Reise: Romanessay (1977).

Der Ausgang einer Erzählung kann abschließenden Charakter haben und einen Appell an die Gefühle der Leser richten. Aber die Stilisierung einer schuldlos leidenden Generation und die Formeln „Nie wieder, niemals vergessen“ können zu sinnentleerten Ritualen werden, wenn Kinder die Taten der Väter nicht vergessen können, wenn Kriege in Albträumen fortbestehen oder ein neuer Krieg droht. Ebenso kann der Schluss in die Zukunft weisen und zum kritischen Nachdenken anregen. Ein Heimkehrer steht der fremdgewordenen Frau gegenüber, ein anderer fährt im Transport am Elternhaus vorbei und sieht, wie es gerade geplündert wird, und ein Erzähler stellt die Frage, ob wir „die von uns nicht empfundene Abhängigkeit“ von einem unabwendlich ablaufenden Geschehen zuletzt nicht doch „anerkennen“ müssen. Das Ende kann die letzte Konsequenz aus dem Geschehen ziehen. Der Tod wird vorhersagbar und kommt. Die Nachrichten melden nichts Neues (Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. 1929). Die weiße Fahne wird gehisst. Aber der Heimkehrer stirbt auf der Türschwelle des Elternhauses (Heinrich Böll. Billard um Halbzehn. 1959).

 

Motive der Ortsbestimmung vermitteln den Eindruck anschaulich erfassbarer Schauplätze der Handlung. Sie schließen an die Verkündigungstopik an und werden mitunter zu einer elementaren, geistigen Formel verknüpft. Sie verleihen häufig Handlungsabläufen aus der Sicht eines unaufhaltsam abrollenden Prozesses ihre innere Stimmigkeit. Wiederkehrende Ortsbestimmungen sind zentrale Plätze, auf denen Schlachten ausgetragen wurden (Ardennen, Ostfront, ein U-Boot, der Untergang der Bismarck oder der Scharnhorst, Stalingrad, Moskau, Berlin, Dresden, Palermo, Monte Cassino und Orte der Siegerehrung wie etwa das Brandenburger Tor). Jeder Ort ruft sofort historisch nachweisbare und bekannte Ereignisse ins Gedächtnis. Andererseits verknüpfen Autoren die Handlung mit abseitigen, am Rand des großen Geschehens liegenden Plätzen. Leser werden in abgelegene Orte in Schlesien, Polen oder Jugoslawien versetzt und erfahren die Auswirkungen des Krieges im Ausschnitt der kleinen Welt. Der Ort verknüpft prägnante Augenblicke mit auswechselbaren Situationen und vergleichbaren, wenn auch durchaus gegensätzlichen Reaktionen. So tritt beispielsweise das Brandenburger Tor in Fontanes Gedicht „Einzug“ (16.6.1871) markant hervor: „Zum dritten Mal / Ziehen sie ein durch das große Portal; / Die Linden hinauf erdröhnt ihr Schritt, / Preußen-Deutschland fühlt ihn mit.“ Die Assoziationen Krieg, Sieg, Siegerehrung sind eindeutig. Sie motivieren das Geschehen und gehören zum festen Bestand kollektiver Denkbilder, die Günter Grass in Ein weites Feld (1995) desillusioniert: „Und siehe da. zum dritten Mal ziehen sie ein durch das große Portal. der Kaiser vorauf. die Sonne scheint. alles lacht und alles weint.“ Nähere Bestimmungen des Ortes, wie etwa Schützengraben, Gulaschkanonen, Feldlazarette oder Brücken gehen als Topoi in die Kriegsliteratur ein. Sie haben auslösende Funktion und unterstreichen bestimmte Verhaltensweisen: Warten, Reaktionen auf die Verteilung des Proviants an die Überlebenden, Sterben oder Davonkommen.

Aus den Kämpfen um Brücken, dem Aufbauen und Sprengen, dem plötzlichen Tod, zweigt sich das Motiv der Verkehrten Welt ab. Es leitet im Allgemeinen Reflexionen über die Sinnlosigkeit menschlicher Handlungen ein. Böll (Wo warst du, Adam? 1951) schildert beispielsweise, wie eine Abteilung von Pionieren unter der Leitung eines tüchtigen Majors, eines Fachmanns im Hoch-Tief-Bau, bei bester Laune eine gesprengte Brücke aufbaut. Alle sind mit dem Fortschritt zufrieden. Sobald die Arbeit beendet ist, kommt ein neuer Befehl. Ein anderer Pioniertrupp sprengt die Brücke, weil die geplante Gegenoffensive nicht stattfindet. In Aichingers Die größere Hoffnung (1948) rennt ein junges Mädchen mit einer wichtigen Nachricht auf eine Brücke. Sie wird von einer explodierenden Granate in Stücke gerissen; aber über dem Geschehen steht der leuchtende Morgenstern am Himmel. Das Motiv der verkehrten Welt wertet traditionelle Vor- und Leitbilder wie Väter, Lehrer und Offiziere ab. Die Personen handeln nicht verantwortlich, sondern verantwortungslos. Die von den Figuren verinnerlichte Ideologie der Pflichterfüllung artet zum Inhumanen, selbst Verbrecherischen aus. Lehrer, die selbst nicht dienen mussten, rufen ihre Schüler zum Krieg auf. In Lenz’ Deutschstunde verhält sich der Vater zu seinen Söhnen wie ein Jäger zum Wild. Er will erst den älteren, aus dem Lazarett geflohenen, dann den jüngeren zur Strecke bringen: „Ich trete nicht ab, bevor du zur Strecke gebracht bist.“64

Die Typik der verkehrten Welt betont den Verlust einer sinnvollen Ordnung. Unvereinbares steht nebeneinander: Der Sterbende in einer Blutlache träumt, er fliege in den Äther. In einer Reihe von Texten steht die Besinnung auf die heile Natur in scharfem Kontrast zu der verwüsteten Erde. Aber die Anrufe der beseelten Natur tragen nicht und werden darüber hinaus oft desillusioniert. Die Göttin Natur, die Naturmächte, Flüsse und Bäume, das fruchtbare, bebaute Land, Felder und Gärten, alles wird in Kahlschlag verwandelt. Der Blick durch das Fernrohr bringt den Feind näher. Er klärt jedoch nicht, sondern verstellt den Zugang zur Welt. Deshalb kann Beckmann in Borcherts Draußen vor der Tür (1947) durch seine Gasmaskenbrille die Wirklichkeit nicht mehr erkennen. Letztlich steht die gesamte Welt unter dem Vorzeichen der Umkehrung. Oben ist unten und unten oben: „Fünf Tage lang ging die Sonne über Dresden nicht auf und nicht unter. Das Feuer war heller als die Sonne.“65 Die Kriegsmaschine zieht ihre Bahn am Himmel. Dann bohrt sie sich in einem heulenden Sturm von Asche und Schutt in die Erde, um in die Unterwelt einzudringen. Im Umfeld der versehrten Landschaft treten die Farben Schwarz und Rot besonders häufig auf. Farben und Farbschattierungen senden starke Reize aus. Die durch Kontrastierung und Umwertung erzeugten Signale sind leicht fassbar. Sie beleuchten in konzentrierter Form komplizierte Sachverhalte. Schwarz ruft sofort den Tod, rot das Feuer und Blut auf den Plan. Die grüne Fläche ist überlagert von rotem Schein; Schnee und Himmel werden rot oder schwarz und rußig.66 Hofmannsthal entwickelt beispielsweise in der „Reitergeschichte“ (1898) eine Szene des Sonnenuntergangs. In ihr führt er im Bild der Entweihung des Feigenblatts das biblische Motiv des Sündenfalls zur Deutung des Krieges an. Die „in schwerem Dunst untergehende Sonne“ wirft eine „ungeheure Röte“ über das ganze Land: „Ein roter Widerschein lag auf den weißen Uniformen und lachenden Gesichtern, die Kürasse und Schabracken funkelten und glühten, und am stärksten drei kleine Feigenbäume, an deren weichen Blättern die Reiter lachend die Blutrinnen ihrer Säbel abgewischt hatten.“67

Die besondere Eigenart von Hofmannsthals Novelle und zahlreicher anderer Erzählungen besteht in dem Kunstgriff, das Motiv der „feindenden Welt“ nur untergründig anklingen zu lassen. In August Stramms „Patrouille“ (1915) dagegen feindet die ganze Welt. Steine, Fenster, Sträucher und Berge feinden. Die Landschaft bietet keinen Schutz. Die Natur ist durchsetzt vom Heulen der Granaten, dem Getöse der Volltreffer und dem Röcheln und Schreien der Verletzten. Der Einzelne ist eingekreist und kann nicht mehr handeln. Heinz Piontek stellt im „Untergang der Scharnhorst“ (1953) fest: „Die See bedeckt sich mit heißer Angst … Daß wir uns nimmer retten können / vor dem Tumult des Sterbens, / wenn die Zeit uns feind ist!“68 Dass die Zeit aus den Fugen ist, bezeugt die hohe Frequenz von durchaus unterschiedlichen, in der Reihung und Wiederholung jedoch schematisch wirkenden Schilderungen der Unordnung, des Durcheinanders, der Auflösung und des Verlusts des Überblicks. Sie erwecken die Vorstellung des Chaotischen.

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