Vergangenheit

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Besonders aufschlussreich sind Marons Zweifel angesichts ihrer eigenen Vergangenheit. Beim Nachdenken über ihre 1995 im „Spiegel“ enthüllte Beziehung zum MfS gerät sie schließlich in ähnliche Verwirrung wie ihre Mutter. Sie ist überzeugt davon, dass ihr Kontakt, der der Stieftochter des DDR-Innenministers Karl Maron, mit der Stasi nichts als eine „kuriose und komische Episode“ war. Sie ist „nicht sonderlich stolz“ auf die Rolle, die sie gespielt hat, sieht aber auch keinen Grund, sich zu schämen, denn sie hatte die Konsequenz aus ihren Irrtümern bereits vor vielen Jahren gezogen. Besonders beachtenswert wirkt Marons Geständnis ihrer zunehmenden Verunsicherung, als ein Fernsehredakteur sie beschuldigt, einen Bericht über ihre beste Freundin für die Stasi verfasst zu haben. „Es war unmöglich, trotzdem begann ich, mir Situationen auszudenken, in denen ein Mensch etwas tun könnte, ohne später davon zu wissen … Es gab eine Stunde, in der ich bereit war, alles für möglich zu halten … wenn es das gibt, daß einer außerhalb seiner selbst ist und dann nichts mehr davon weiß.“ (200) Maron spricht hier die völlige Verunsicherung der Menschen in einem Staat an, in dem jeder nicht nur ständig überwacht wird, sondern auch selbst schließlich daran teil hat, eine Situation, die Hilbig in Ich (1993) und Eine Übertragung (1989) verfolgt.

Aus dieser Sicht, in der jedes Erinnern in kritisches Nachdenken, Befragen und Neubesinnen übergeht, entsteht eine Denkform der fortgesetzten Reflexion, in der das Vergangene im Gegenwärtigen aufgehoben ist und zugleich das Zukünftige mitdenkt.24 Deshalb endet das Buch konsequent mit einem Blick auf unsere Tage. Die Erzählerin erträgt, dass ihre Mutter Mitglied der PDS ist, so wie diese sich damit abgefunden hat, dass ihre Tochter „Antikommunistin“ wurde. „Morgen werde ich sie anrufen, oder übermorgen … heute jedenfalls noch nicht.“ (205)25 Von ausschlaggebender Bedeutung ist die von nahezu allen Autor(inn)en erwähnte Eigenheit persönlicher Erinnerungen: beim Rückblick entstehen Angstzustände. Erfahrungen aller Art – irgend etwas schwer Bedrückendes, wirklich Erfahrenes, manches gehört oder gelesen und verinnerlicht – trüben die Erinnerung. Sie erregen Unruhe und Schrecken.

Im Rückblick auf ihre Kindheit, der Fragestellung Marons vergleichbar, kommt Christa Wolf in Kindheitsmuster (1976) immer wieder auf das Problem zurück, wie eine Situation entstehen konnte, in der Menschen nicht nur gleichgültig wurden, sondern auch niemals die richtigen Fragen stellen konnten und nichts mehr wissen wollten. Sie betont den Verlust fester Normen und die Hilflosigkeit der Menschen in den Kriegsjahren, die jede sinnvolle, freie Entwicklung individueller Eigenschaften verhinderte. Wolf charakterisiert mit ihrer Feststellung die Haltung von Mitläufern, Nischenstehern, „Nicht-Betroffenen“ und allen, die wie Grass findet am Rande stehen. „Auch daß Schriftsteller – was ihres Berufes ist – die Vergangenheit nicht ruhen lassen können, zu schnell vernarbte Wunden aufreißen, in versiegelten Kellern Leichen ausgraben, verbotene Zimmer betreten, heilige Kühe verspeisen oder wie Jonathan Swift es getan hat, irische Kinder als Rostbraten der herrschaftlich englischen Küche empfehlen, ihnen also generell nichts, selbst nicht der Kapitalismus heilig ist, all das macht sie anrüchig, strafwürdig. Ihr schlimmstes Vergehen jedoch bleibt, daß sie sich in ihren Büchern nicht mit den jeweiligen Siegern im historischen Verlauf gemein machen wollen, sich vielmehr dort mit Vergnügen herumtreiben, wo die Verlierer geschichtlicher Prozesse am Rande stehen, zwar viel zu erzählen hätten, doch nicht zu Wort kommen.“26 Die vorliegende Darstellung erschließt, dass eigentlich alle, die in den Jahren zwischen 1933 und 1945 lebten, betroffen sind.

Auseinandersetzungen dieser Art entsprechen den Erwartungen der Leser in autobiographisch eingefärbten Kindheitserinnerungen, in historisch oder gesellschaftskritisch entworfenen Romanen, wie etwa Grass’ Ein weites Feld (1995) oder Erzählungen, die die persönliche Entwicklung Einzelner nach 1945 schildern. Sie wirken dagegen überraschend und geben den Texten ein besonderes Kolorit, wenn sie entweder unvermittelt auftreten oder gegenwärtige Familienverhältnisse und Gesellschaftsstrukturen beleuchten, deren besondere Eigenart darin besteht, dass sie von der deutschen Vergangenheit geprägt wurden (wie etwa in Jurek Beckers Amanda herzlos, 1992; Herta Müllers Der Fuchs war damals schon Jäger, 1992 oder Herztier, 1994; Gerlind Reinshagens Zwölf Nächte, 1989 oder Jäger am Rand der Nacht, 1993; und selbst Birgit Vanderbekes Das Muschelessen, 1990).

2.2. Abrechnen – Verstehen

Erzählungen und Bühnenstücke, die Einblicke in das historische Geschehen aus der Perspektive der Betroffenen vermitteln, betonen nahezu ausnahmslos die Schwierigkeit, im Überblick ein Verständnis der Vergangenheit zu gewinnen. Sie thematisieren Ahnungslosigkeit, Dabeistehen, Schweigen, Wissen, Verfehlung, Tat und Sünden der Unterlassung. Die Aufarbeitung führt aus der Zeit der Weimarer Republik und der Kriegsjahre über die Zeit des getrennten Deutschlands bis in die Gegenwart. Aus der lebendig-bunten, wechselnden Folge der Schilderungen entsteht die Voraussetzung für einen Überblick der Vergangenheit, der die Grundlage für ein Verständnis der Geschichte bildet. Die Erzählungen (Romane, Novellen, Kurzgeschichten, Genrebilder), Interviews und Debatten der Autor(inn)en der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen von 1945 bis 1985 haben sowohl die Erinnerung an Nationalsozialismus, Holocaust und Krieg als auch die Deutungsmuster der Vergangenheit maßgebend geprägt. Trotz einer scheinbar faktisch abgesicherten Grundlage sind die darauf aufbauenden, kulturell erworbenen Bewusstseinsbilder literarische Erkundungen. Sie sind einerseits individualisiert, da Erzählungen die Ereignisse aus der Perspektive und Erlebnissphäre Einzelner gestalten. Andererseits erhalten sie eine Abstraktion des Allgemeinen oder Typischen durch die unterschiedlichen Erzählverfahren, durch eingeflochtene Kommentare und Fragen an die vorausgegangene Generation, die manchmal zu Familienzerwürfnissen führen. Fragen, Dialoge und Selbstgespräche erweitern die historische Sicht, in der sich dann ein mögliches Geschichtsverständnis anbahnt. Die politischen Debatten über Kollektivschuld, Verbrechen, Nazi-Opfer, Holocaust, Schlussstrich, geteiltes Deutschland, Wiedervereinigung und Leiden einer verführten Generation kommen in den Darstellungen zu Wort. Die Vergangenheit spricht immer mit, wenn Autor(inn)en literarische Figuren entwerfen, die über sich nachdenken und ein persönliches Selbstverständnis entwickeln, das sich nicht von dem nationalen Selbstverständnis trennen lässt.

Die ersten literarischen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit setzen Zeichen, sind richtungsweisend und schaffen in Gestaltungen des thematisierten Krieges und den damit verknüpften typischen Motiven der Todesfahrt, der verkehrten Welt, des Chaotischen, der Umwertung von Farben wie etwa schwarzer oder roter Schnee, der rauchenden Gaskammern und Stimmen im Wind die Voraussetzung für eine Tradition, die bis heute fortbesteht. Sie stellen keine Versuche einer umfassenden historischen Aufarbeitung dar. Sie vertreten mit Ausnahme der aus der Emigration in die sowjetische Besatzungszone und spätere DDR heimgekehrten, engagierten Schriftsteller keine eindeutige politische Einstellung. Was vorherrscht ist ein Misstrauen gegenüber jeder Politik, eine allgemein demokratische Haltung und die Hoffnung auf einen neuen Anfang. Wichtig ist das zentrale Anliegen, die jüngste Vergangenheit mit einer neuen Sinnstiftung zu konfrontieren. Das Gestern erscheint im Spiegel des Andersseins, das im Gegensatz zu den Rückgriffen auf die Antike nicht vorbildlich wirkt, sondern kritische Distanzierung fordert. Das Individuum wird aufgerufen, im Willen zum Mitleben eine neue lebenswürdige Grundlage des Daseins zu schaffen. Aichinger, Apitz, Böll, Bredel, Borchert und Celan rechnen ab und klagen an. Die Bestandsaufnahmen verzichten auf Ambivalenz. Sie gehen von der Überzeugung aus, dass alle am Krieg Beteiligten schuldig waren. Der charakteristische Standort der erzählenden Stimmen ist der eines Richters, der zugleich die Indizien der Anklage vorlegt. So entsteht die eigenartige Situation, dass selbst dann, wenn zentrale Figuren im Handlungsverlauf gezwungen werden ihr Versagen anzuerkennen, der Grundzug der Erzählperspektive im Ordnungsgefüge eines möglichen sittlichen Handelns verankert bleibt.27

Die Stimmen unterscheiden klar zwischen gut und böse, Täter und Opfer, Recht und Unrecht, Schuld des Handelns und Sünden des Unterlassens. Diese Haltung bedingt eine Dialektik von Identitätsverständnis und eines möglichen Andersseins, das im Ruf an das Gewissen zu Wort kommt. Der menschlichen Identität zugeordnet ist die Freiheit und gleichermaßen die Unfreiheit des Willens: Die Freiheit, denkend an einer Sinnstiftung des Daseins mitzuwirken, die Unfreiheit, sich im Handeln und Unterlassen den in historischem Verlauf wechselnden, zeitbedingten und konkret zweckbezogenen Vorstellungen anzupassen. Dem Anderssein zugeordnet ist ein Prinzip der sittlichen Ordnung und möglichen Vollkommenheit. Es ist ein Entwurf der reinen Vernunft, nicht historisch ableitbar, aber dennoch sittlich sinnstiftend im Dasein verankert. Daher zögert Aichinger nicht den Morgenstern, Apitz nicht die kommunistische Utopie und Borchert nicht Gott und den Anderen in die Texte zu übernehmen. Jedes Erkennen des Andersseins verlangt verantwortliche Entscheidungen und Selbsterkenntnis. Viele Texte schildern, wie einzelne Figuren in der Grenzsituation des NS-Staates und der Ausnahmesituation des Krieges in Ereignisse verwickelt werden, in denen sie verantwortlich, das bedeutet im Zusammenhang der Texte grundsätzlich sittlich handeln sollten, aber in tragischer Verstrickung oft schuldig werden. Der Begriff der Verantwortlichkeit ist in der juristischen und der ethischen Sinndeutung dem Begriff der Schuld, einer möglichen Verschuldung beigeordnet. Das bedingt, selbst wenn die frühen Texte den Sachverhalt nur kurz belichten, außerordentliche Lebenskrisen. Sie kommen zu Wort, als Beckmann die schweren Folgen seiner Ausführung eines Befehls erkennt,28 wenn die Krankenschwester in Borcherts „An diesem Dienstag“ aus dem Lazarett an ihre Eltern schreibt: „Ohne Gott hält man das gar nicht durch“ (194), wenn ein Heimkehrer in Bölls „Als der Krieg zu Ende war“ monatelang darüber nachdenkt, wo „die Grenze zwischen Haß und Verachtung verläuft“, und als er sie nicht finden kann sagt: „ich wäre lieber ein toter Jude als ein lebender Deutscher“29, oder wenn Feinhals und Heinrich Fähmel erfahren, dass Unterlassung und selbst der Widerstand zu menschlicher Verschuldung führen.30 Die Krise wird zum Wendepunkt im Leben des Lokomotivführers Franz Ossadnik in Bieneks Zeit ohne Glocken. Er ist ein Mitläufer, erfüllt seine Pflicht, fährt täglich mit seinem Zug in das Vernichtungslager Birkenau und erkennt eines Tages plötzlich auf dem Bahnsteig in den auf den Abtransport wartenden Menschen seine Nachbarn und Mitbürger aus Gleiwitz. Die anonyme Menge nimmt plötzlich Gestalt an. In der Nacht sagt er seiner Frau, er habe sich freiwillig zum Frontdienst gemeldet, denn die Arbeit als Lokomotivführer könne er nun nie mehr tun.31 In anderen Erzählungen erscheint die Krisensituation als Forderung, unter keinen Umständen nachzugeben, sondern zu handeln. Deshalb ringt sich Ellen in Aichingers Die größere Hoffnung zur Einsicht durch: Du musst handeln. Du musst Dein eigenes Ausreisevisum unterschreiben.32

 

Nicht zu übersehen sind Dokumentationen, die in der Gegenwart die Verfehlungen der Vergangenheit wieder entdecken. Milo Dor konstatiert in der mit der Beschreibung des Lebens von Mladen Raikow verflochtenen Bestandsaufnahme der Kriegs- und Nachkriegsjahre sachlich und scheinbar unbeteiligt einen Kreislauf des Bösen. Dors Technik der narrativen Umzingelung der zentralen Figur vermittelt Einblicke in Mladens Existenz durch Überlegungen zahlreicher Figuren – Verwandte, Bekannte, Freunde, Beobachter und Autor. Sie findet eine exakte Parallele in der historischen Situation, in der sich nichts ändert. Mladen ist eingekreist. Die Machthaber wechseln, aber Deutsche, Jugoslawen, Russen, Österreicher foltern, schinden, unterdrücken und vergewaltigen ihre Opfer. Mladen, ursprünglich standhaft, ist am Ende zermürbt und völlig desillusioniert. Die Bewusstseinslage in der österreichischen Zweiten Republik ist eine des Vergessens und der Anpassung an die neue Wirklichkeit. Mladen weiß, dass man in Mitteleuropa heute nicht ohne weiteres Menschen umbringt, kann sich aber vorstellen, dass man „einfach Passanten zu einer bestimmten Stunde anhält, verhaftet und über den Haufen schießt.“33 Die Raikow-Saga ist wie Ransmayrs Morbus Kitahara ein Dokument der Resignation und trägt in der Gestaltung eines möglichen Fortbestehens der Unbelehrbarkeit der Menschen zum historischen Verständnis bei.

In zahlreichen Schilderungen ist der Ruf an das Gewissen verschleiert, aber impliziert. Johannes Bobrowski ortet in einem der längsten Sätze der Literatur seiner Zeit die mit der deutschen Vergangenheit verflochtenen Themen. „Die ersten beiden Sätze für ein Deutschlandbuch“ führen gezielt von den Nachrichten von Massenmorden an Juden über Schweigen, Verneinen, Ahnungslosigkeit, schwer deutbare Gefühle bis zur Hochzeit eines seit zwei Jahren hirnverletzten Oberleutnants, der seine Braut in der Hochzeitsnacht erwürgt. Der zweite Kurzsatz beendet die Bestandsaufnahme mit einer schwer zu beantwortenden Frage: „Das eine also seit zwei Jahren, das andere seit wann?“34 Völlig unverkennbar ist die Aufforderung zum Mitleben mit dem anderen in Bobrowskis Gedicht „Ankunft.“ „Hier wird sprechen, / der vor das Tor tritt, der / Lebendige, er wird sagen: / Wer des Weges kommt, / trete herein.“35 Reinhard Baumgart legt in Hausmusik. Ein deutsches Familienalbum (1962) im Rahmen von zehn Geschichten der Familie Pohl eine scharfe Abrechnung mit der Einstellung der biederen Bürger zum Faschismus vor. Im Schnittpunkt des Geschehens steht die Geisteshaltung der Staatshörigkeit, des Gehorsams und der Anpassung an die politischen Verhältnisse. Manche sind überzeugte Anhänger; andere fügen sich aus Angst. Einzelne verspüren zwar Unbehagen, als der Staat zum Unrechtsstaat wird, schließen aber die Augen und ziehen sich in ihre Privatsphäre zurück. Die Situation wiederholt sich in zahlreichen Erzählungen, die unter anderem auch die Zustände in besetzten Ländern beschreiben. Mosheh Ya’aquov Ben-Gavriêl (Eugen Hoeflich) entwickelt im Haus in der Karpfengasse (1958) in zehn Vignetten die Besetzung Prags durch Deutsche im Jahr 1939. Das Haus, Karpfengasse 115, liegt im Judenviertel. Die Einwohner, Juden und Tschechen, erfahren die völlige Umwertung aller bisher verbürgten Vorstellungen und den Untergang ihrer Welt. Gewalttätigkeiten gehören zur Tagesordnung. Der Tod greift um sich. Der Konditor Wokurka stirbt an einem Herzanfall, nachdem ihn SA-Leute zusammengeschlagen haben; der Buchhandlungsangestellte Marek wird wahnsinnig; eine Jüdin, die zu ihrem Sohn nach Brasilien ausreisen will, verliert jede Hoffnung bei der Beantragung des Ausreisevisums und stirbt. Einzelne begehen Selbstmord, einige werden abtransportiert und andere werden erschossen. Jeder Protest endet mit der Auslieferung in Konzentrationslager. Ganz wenigen, wie etwa dem Redakteur Menanzbach, gelingt die Flucht ins Ausland. Das Gesamtbild ist ein Kaleidoskop der Leiden der Bevölkerung wie sie auch Ernst Sommer in der Revolte der Heiligen (1946), einer Schilderung der Vernichtung einer Gruppe jüdischer Zwangsarbeiter in Polen, festhält.

Bobrowski skizziert in Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater (64) das Anwachsen der deutsch-polnischen Spannung und des um sich greifenden Antisemitismus. Der Erzähler berichtet, kommentiert und denkt über das Geschehen nach, in dessen Schnittpunkt die Auseinandersetzung zwischen dem Großvater und dem Juden Levin steht. Der Großvater, ein reicher Wassermühlenbesitzer, „grunddeutscher Mann“ und „Eckpfeiler“ eines stolzen deutschen Reichs, ist verantwortlich für die Zerstörung von Levins Mühle, die von angestautem Wasser weggeschwemmt wurde. Levins Klage vor Gericht wird verzögert und vertagt. Ein großer Teil der Dorfbewohner ist von der Schuld des Großvaters überzeugt, der schließlich seine Mühle verkauft und nach Briesen übersiedelt. Auch Levin verlässt das Dorf und geht nach Kongresspolen. Die weiterhin geschilderte finanzielle Auseinandersetzung des Großvaters mit seinen Kindern erweitert das Geschehen zum Konflikt zwischen Geldgier und sozialistischem Geschichtsverständnis. Bobrowskis historische Vignette aus dem Jahr 1874 beleuchtet überzeugend die zunehmenden Konflikte zwischen Deutschen, Polen, Juden, Zigeunern, Reichen und Häuslern. Sie bietet ein Zeitbild ungelöster Spannungen, die später in zwei Weltkriegen die Zivilisation auslöschten.

Erich Hackls Erzählung Abschied von Sidonie konzentriert sich auf einen Ausschnitt der Banalität des Bösen, das der Lebensangst und dem Trieb zu überleben entspringt. Der Text gehört zu den Werken österreichischer Literatur, in denen Autor(inn)en wie Josef Winkler, Gerhard Roth, Elfriede Jelinek und Brigitte Schwaiger zu ungelösten Fragen des Zeitgeschehens Stellung nehmen, indem sie fiktive Dokumentationen und historisch denkbare Ereignisse mit Vorgängen der Gegenwart verschmelzen. Abschied erfasst das Zeitgeschehen in der Beschreibung des Lebensweges von Sidonie Adlersburg: Als Kind 1933 im Windfang des Krankenhauses in Steyr ausgesetzt, von der Familie Breirather aufgenommen und wie ein eigenes Kind liebevoll gepflegt, wird sie 1943 von den Behörden als Zigeunerkind abgeholt und nach Auschwitz verfrachtet, wo sie umkommt. Die bemerkbare, leidenschaftliche Anteilnahme des Erzählers realisiert ein lebendiges Bild der Familie. Es umkreist die Sorge der Pflegemutter, die „die kleine Schwarze“ mit ihrem Sohn aufzieht, den Widerstand des Vaters, eines überzeugten Kommunisten, gegen die Nationalsozialisten und den ständigen Kampf ums Dasein. Gleichermaßen scharf getroffen sind Skizzen der Stadt Steyr und des allgemeinen Notstands sowie Beschreibungen der Arbeitslosigkeit, eines misslungenen Arbeiteraufstands sowie der Jugendbehörde, die ständig versucht, das Kind abzuschieben. Nachdem Hans Breirather zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wird, bleibt seine Frau Josefa mit den Kindern allein.

Um das Mädchen zu retten und die Unterstützung der Kirche zu erhalten, lassen sich Hans und Josefa nachträglich kirchlich trauen.36 Inzwischen ist der Magistrat Steyr aktiv, sich dem allgemeinen Ziel, dem „Kampf gegen die Zigeuner“, anzuschließen. Die Behörde ermittelt die Geburtsmutter und geht nach dem Anschluss an Deutschland radikal vor. Der Kampf gegen alles Volksfremde besiegelt Sidonies Schicksal. Alle im Ort, Bürgermeister, Leiterin des Jugendamtes, Lehrer, Fürsorgerin, lügen und passen sich den neuen, schließlich alten Umständen an. Jeder ist stolz auf die vom Erzähler angeprangerte „Bestialität des Anstands.“ (93) Sidonie wird abgeholt, ihrer leiblichen Mutter ausgeliefert und in derselben Nacht mit allen Zigeunern abtransportiert. (110) Aufschlussreich ist der Ausklang der Erzählung, der sich auf die Alternative zur Anpassung und einen denkbaren Widerstand konzentriert. Hackl schildert den aufrechten Widerstand einer kleinen Gruppe von Bürgern. Sie informieren das Amt. Ein Sturm von Entrüstung wäre die Folge, falls man das Mädchen entferne. Der Erzähler stellt fest: Auch das ist geschehen, in der Ortschaft Pölfing-Brunnen, in der Steiermark, „das Kind hieß nicht Sidonie, sondern Margit und lebt heute noch, eine Frau von 55 Jahren, und kein Buch muß an ihr Schicksal erinnern, weil zur rechten Zeit Menschen ihrer gedachten.“ (128) Diese Überlegung erweckt Sympathie für den Widerstand in allen, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, und unterstreicht den Konflikt zwischen Anpassung und möglicher Auflehnung.

Eine andere Erzählung, Abschied von Sidonie vergleichbar, die reflektierend und kommentierend Fragen persönlicher Verantwortung und unvereinbarer nationaler Gefühle herausarbeitet, ist Die Wolfshaut (1960) von Hans Lebert. Der Roman verfolgt das Leben nach dem Krieg in einem österreichischen Dorf. Johann Unfreund kommt in das Dorf Schweigen. Der Name symbolisiert das Schweigen der Einwohner, die die Vergangenheit ruhen lassen wollen. Unfreund will herausfinden, warum sein Vater kurz vor Einmarsch der Roten Armee Selbstmord begangen hat. Was er aufspürt sind Verbrechen, Schuldige, die alles leugnen, Mitläufer und Nischensteher, die moralisch versagten und weiterhin ihre „Ruhe haben wollen“. Niemand will daran erinnert werden, dass die „Ortswacht“ in den letzten Kriegstagen sechs ausländische Zwangsarbeiter erschossen hat. Der Vater war mitbeteiligt, gleichfalls der damalige Ortsgruppenleiter, der jetzt den Landratsposten bekleidet. Andere, die beteiligt waren oder zu viel wissen, kommen um oder werden beseitigt. Als Johann versucht, die Barriere des Schweigens zu beseitigen und der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, stößt er auf die einhellige Ablehnung der Dorfbewohner. Er bekennt sich zur eigenen Verantwortlichkeit, verlässt aber resignierend das Dorf. Die Tendenzen der Vergangenheit bestehen fort.

Scharf akzentuiert, hart, des Öfteren verfremdet und ins Mythische gesteigert sind Abrechnungen mit der Geschichte und der eigenen Vergangenheit, die jedes Vergeben ablehnen. Sie stehen unter dem Dreigestirn: Systemzwang, Wiederkehr des Bösen und Ausweglosigkeit. Nicht zu übersehen ist der Aufruf zur gebotenen Reform in allen Darstellungen. Bernhards Ursache (1975) schließt an die Tradition thematisierter Leiden von Schülern an, die unter anderem von Robert Musil (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, 1906) und Hermann Hesse (Unterm Rad, 1906) geschildert wurden, besteht jedoch in seiner Kritik darauf, dass seine Wahrheitssuche herausfinden will, „wie ich damals empfunden habe, nicht wie ich heute denke.“37 Der Rückblick auf das Gymnasium in Salzburg, erst ein nationalsozialistisches Schülerheim, dann das katholische Johanneum, mündet in eine beißende, zuweilen maßlos erscheinende Verurteilung der Gesellschaft, die diese Schule hervorgebracht hat. Das Gymnasium erscheint als eine menschenfeindliche Brutstätte der Intoleranz, der Verdummung und der erzwungenen Anpassung. Es ist ein Organismus, der wie die Stadt Salzburg jedes Denken einebnet und alle Außenseiter verschlingt. Bombenangriffe im Krieg zerstörten die alten Bauten, aber der Neuaufbau belebt und verstärkt die überlieferten Ansichten. Die Stadt ist „ein auf der Oberfläche schöner, aber unter dieser Oberfläche tatsächlich fürchterlicher Friedhof der Phantasie und Wünsche.“ (11–12)

 

Die Erinnerung der Kindheit, der Schulzeit und der Kriegs- und Nachkriegsjahre ist gefühlsbetont und wird in intensiven, hektischen, atemlos wirkenden Sätzen festgehalten.38 Die Eindrücke überstürzen sich. Im Blitzlicht tauchen in ständiger Wiederkehr Skizzen der Stadt und Bilder auf, die frühste Erlebnisse und Vorfälle aus dem Krieg beleuchten. Die Großmutter nimmt das Enkelkind auf Friedhöfe mit, hält ihn hoch, um Tote besser zu sehen („siehst du, siehst du, siehst du“) und versucht, ihre Leidenschaft, die Faszination mit dem Tod, auf ihn zu übertragen. Dieses Urerlebnis wird gesteigert durch wiederkehrende Eindrücke (eine Kinderhand im Schutt nach einer Bombardierung; Stehen am Grab von Selbstmördern und Gefallenen) und das eigene Denken, das um Aussichtslosigkeit im Leben und den Tod kreist. Der Schulleiter Grünkranz, ein „Muster-SA-Offizier“, steht mit funkelnden Stiefeln an einem Grab. Der Mann, der brutal seine eiserne Disziplin durchsetzt, findet ein Spiegelbild im katholischen Präfekten, der die Schule nach dem Krieg leitet und den Geist von Grünkranz am Leben erhält. Zutiefst bedrückend ist das Gesamtbild der Stadt, das unvereinbar ist mit dem von Touristen besuchten lieblichen Mozart-Salzburg. Hinter der Fassade verbergen sich feindliche Mächte, die die Anpassung an die Gesellschaft erzwingen und die Stadt in einen „fürchterlichen Friedhof der Phantasie und Wünsche“ verwandeln. Wohin wir schauen, sehen wir „fast in allem … einen solchen geisteszerstörenden und geistesverrottenden und geistestötenden katholisch-nationalsozialistischen, menschenumbringenden Zustand.“ (111) Die Kriegseinwirkungen (Bombardierung, zerstörte Gärtnerei, aufgebahrte Tote auf dem Bahnhof, Luftschutzstollen im Berg) finden Parallelen in der Gefühlsverarmung und Geistesvernichtung in der Gesellschaft.

Streng auf eine Figur konzentriert ist die Abrechnung von Thorsten Becker. Er untersucht in Schmutz (1989) den belegten Kriminalfall des Wachmanns Joseph Schmutz. Die Erzählung erweckt den Eindruck einer Parabel des blinden Gehorsams in einem totalitären Staat. Schmutz glaubt, dass er die nur ihm verständlichen Befehle Gottes (des Führers) durchführt. Schmutz hat das Arbeitsethos der Gesellschaft völlig verinnerlicht. Er hat die Aufgabe ein verlassenes Fabrikgebäude und das anschließende Gelände zu bewachen. Ihm wird vom Oberkontrolleur der Organisation ein Mitarbeiter zugeteilt, der kurz darauf wegen Nachlässigkeit im Dienst wieder entlassen wird. Schmutz, nun allein in der Fabrik, beginnt mit der Planung und Ausarbeitung eines Systems der totalen Überwachung. Er fühlt sich Gott nahe, vergleicht seine Tätigkeit mit der Schöpfungsgeschichte und seine Taten mit denen von Herkules. Er ruht am siebenten Tag aus. Er schreibt an Gott („Ich bin, ich wollte, ich war …“) und berichtet ihm von seinem Werk. Er träumt, hat Visionen, sieht einen zauberhaften Pfau, den er als Boten Gottes deutet und der fortan zu einer wiederkehrenden Vision in seinem Leben wird. Er wird Meister seiner „Wissenschaft“, die den Zauber des Pfaus auf die totale Kontrolle überträgt.39 Ehe Schmutz seine Pläne zu Ende führen kann, erhält er vom Oberkontrolleur die Mitteilung, dass der Kunde das Projekt gekündigt hat. Schmutz soll erst Urlaub machen und anschließend eine andere Aufgabe übernehmen. Schmutz bestreitet das Recht des Kunden, lehnt die Anweisung ab, wird rasend vor Zorn („es ging ums Ganze“, 45) und greift den Vorgesetzten tätlich an. Der Mann entkommt.

Schmutz hat Zeit gewonnen. Er gerät in einen Schaffensrausch, hört den Pfau schreien, spricht mit Gott, vernimmt den Befehl, „einen Pfau zu machen“, schreit wie ein Pfau, schießt in den Fernseher, schnitzt Pfeile und tötet alle Tauben auf dem Gelände, tummelt sich in einer Pfütze auf dem Hof wie ein Delphin und glaubt, über Ozeane zu segeln. Er kauft Proviant und bereitet sich vor, sein Gebiet bis zum Letzten zu verteidigen. Er steht mit dem Pfau gegen die ganze Welt. Schmutz trifft ein sechsjähriges Mädchen vor dem Tor, nimmt sie mit, vergeht sich an ihr, ermordet sie und tötet anschließend einen Ingenieur und den Oberkontrolleur. In den ihm verbleibenden Stunden sucht Schmutz noch immer Gott. Er kreuzigt den Pfau, rasiert sich kahl, entkleidet sich, betet den Pfau an und hört die Stimme Gottes: „Schmutz, mach den Pfau!“ (126) Der Handlungsverlauf beleuchtet die Gefährdung von Menschen in einem Kontrollsystem, in dem Einzelne absolute Machtbefugnisse ausüben. Jeder, der das Territorium betritt, ist ein Feind und muss beseitigt werden. Schmutz lebt in Wahnvorstellungen und fühlt sich nur „heil“ in aggressiven Taten. Sein Erfahrungshorizont ist begrenzt auf absolute Kontrolle. Er lebt geschichtslos und hat weder eine religiöse noch eine gesellschaftliche Bindung. Religiöse Symbole sind entweder ins Tierische verwandelt oder in Zeitungsillustrationen entstellt. Schmutz schneidet beispielsweise aus Sexillustrierten die Köpfe schöner Mädchen aus und sammelt sie in seiner Schublade. Später betrachtet er nachdenklich die Puppe des von ihm ermordeten Kindes. Das Glücksstreben des Wachmannes zielt auf Entgrenzung. Er will ausbrechen. Das gelingt nur, indem er sich zur Gottheit seiner begrenzten Welt erklärt und sie von allen Eindringlingen säubert. Im Gegensatz zu der Vorstellung einer Banalität der bürokratischen Verbrechen von Lageraufsehern und Beamten konzentriert sich Becker auf das Krankheitsbild des Gehorsams machtbesessener Aufseher: Eichmann und Schmutz erscheinen als Doppelgänger.

Gleichermaßen bedeutend sind Schilderungen des Orientierungsverlustes in einer ins Mythische gesteigerten Gesellschaft, in der undurchschaubare Mächte das Denken steuern und jede individuelle Entwicklung begrenzen. Faschismus und Kommunismus, NS-Staat und DDR verschmelzen und erscheinen in schwer deutbaren Metamorphosen des Neuen. Die Erinnerung an die Vergangenheit scheint begrenzt auf die Raumperspektive von hoch/tief, in der oben/unten, Himmel/Hades erkennbar sind und die totale Einkreisung der Figuren, die hilflos in Schächten umherirren, vergebens nach oben streben oder in Elektronengehirne fliehen. Die Ich-Suche, der Verlust der Orientierung und die Raumperspektive werden besonders eindringlich in Erzählungen von Jochen Beyse und Wolfgang Hilbig geschildert. Die Darstellungen bevorzugen Motive der Einkreisung: Zellen, Krankenhaus, Altersheim, nebelhaft wirkende Zimmer, Bergwerke, Höhlen, Schächte, Gänge unter der Erde und anonyme Gruppen von Menschen. Die Wohnraumatmosphäre ist trügerisch; die Zimmer bieten keinen Schutz, denn die Bedrohung dringt von außen durch die Medien ein. Darüber hinaus ist die in der Lebensangst wurzelnde Gefahr im Gedächtnis der Figuren und deren zwanghaft grübelnden Reflexionen ständig gegenwärtig. Alle warten auf das Ende. Der Weg aus der Einkreisung führt in den Tod.

In Beyses Ultima Thule. Eine Rückkehr (1987) und Bar Dom (1995) ist die Vergangenheit erkennbar, entzieht sich aber dem Verstehen. Der Untertitel „Rückkehr“ verspricht eine Wiederbegegnung, die jedoch in unbestimmte Vorstellungen mündet. Der Besucher, der Gouverneur, ein Bildhauer, ein Adjutant und einige Handwerker vermitteln Einblicke in das Phänomen der Osterinsel mit ihren Kolossalstatuen. Die zentrale Frage nach dem Sinn und Entstehen der Statuen wird mehrdeutig beantwortet und verblasst schließlich angesichts unerklärbarer Vorgänge auf der Insel. Die Statuen erinnern den Gouverneur an ein Urchaos auf der Insel: Sie sind vor-figürlich, scheinen noch zu leben, verändern sich nachts und wechseln das Aussehen im Lichtwechsel der Tage. Der Besucher erfährt, dass eine „gigantische“ Höhlenwelt unter der Erdoberfläche existiert, eine Mondlandschaft der Schwärze, ein trostloses Labyrinth, in dem nichts Menschliches waltet, aber in dem die Gefühlswelt und Denkform wurzelt, die die Kolosse entwarf. Scheinbar stehen die Statuen an der Grenze des Raums zum Außermenschlichen. Der Besucher bemerkt, dass die unbestimmten Ahnungen und Vorstellungen des Vergangenen selbst das Dasein in der Gegenwart bestimmen. Er sieht einen Vulkankrater, in dem Insulaner Steine zu Zwergstatuen verarbeiten, um Ordnung in die Welt zu bringen. Der Bildhauer fabuliert vom Tod des ersten Königs der Insel, dessen jüngster Sohn seinen Kopf abschnitt, ihn versteckte und so Anlass zur Gestaltung der Riesenköpfe gab. Der Adjutant berichtet von einem im Verwaltungsgebäude aufgestellten Torso, der atmet, zischt und die Atmosphäre einsaugt. Alle stimmen jedoch darin überein, dass sie in einem unendlich dauernden Augenblick gebannt sind. Jeder Versuch, der Insel zu entfliehen, würde den Verlust der Menschlichkeit zur Folge haben und in den Wahnsinn führen.40