Verdorbene Jugend

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Werkstattwechsel

Es war etwa Mitte Februar 1942, da wurde ein neuer Werkstattwechsel vollzogen. Es ging zurück in die Lehrwerkstatt I. Wir unterstanden wieder Meister Dietz, den wir nicht leiden konnten. Unsere Ausbildung vollzog sich immer noch an Doppelflinten und es war kein Ende abzusehen. Wir fingen an zu meutern. Vorerst nur untereinander. Mein Arbeitsplatz war wieder der, den ich zum Ausgang des 1. Lehrjahres hatte. Nun aber mit einem anderen, einem Flaschen- oder Zangenschraubstock. Wir mussten uns wieder das „Geknärre“ von Meister Dietz anhören, wenn er die Lehrlinge des ersten Lehrjahres bejammerte. Wir waren ja nun schon im 3. Lehrjahr.

Erinnern kann mich ich in dieser Zeit noch an den Besuch eines ehemaligen Lehrlings, der in SS-Uniform auftrat. Er hatte sich nach der Lehre gleich zur Waffen-SS gemeldet. Seine militärische Grundausbildung hatte er hinter sich. Als er zu Meister Sturm ging, sammelten wir uns nach und nach neugierig dazu. Die Waffen-SS war ja eine besondere Truppe, zu der man uns auch warb. So kamen wir nun zu der sich beginnenden Unterhaltung zwischen Sturm und ihm, dem SS-Mann hinzu. Sturm wollte nun wissen, wie es da bei der SS zugeht. Er erzählte uns, wie straff der Dienst dort sei, was einem Gustloff-Lehrling nicht all zu schwer fiel, weil ja im Betrieb auch militärische Disziplin herrsche. Sturm hörte sich das an und meinte, dass sein Bericht zu allgemein wäre. Er möchte etwas mehr wissen. Der SS-Mann druckste nun herum und Sturm munterte ihn noch einige Male auf. Sturm wollte etwas besonderes wissen, etwas, was man sonst nicht erfährt. So begann der SS-Mann zu erzählen, was ich bis heute nicht vergessen kann. Er erzählte, dass er mit seinem Zug, also etwa dreißig Mann, zu einer größeren Fabrik in Polen mit dem LKW gefahren sei. Während die SS-Männer, jeder bewaffnet mit einer Maschinenpistole, auf dem LKW sitzend warteten, wäre eine größere Gruppe Menschen unter Bewachung gekommen, die man in die Fabrik und gleich vorn auf den großen Hof führte. Nach dem die Menschengruppe – es wären mindestens fünfzig oder mehr Leute gewesen – im Hof war, mussten die SS-Männer absitzen. In den Hof geführt, wo die Leute vor einer großen Mauer standen, mussten die SS-Männer auf Befehl ihre Magazine der Maschinenpistolen auf die Menschengruppe hin leerschiessen. Es hätte sich keiner mehr von denen gerührt. Anschließend wären die SS-Männer wieder aufgesessen und davongefahren worden. Sturm fragte nach, was das für Leute gewesen wären, auf die man geschossen hätte. Der SS-Mann wusste das nicht, „wahrscheinlich Juden“, sagte er.

Schulterzuckend gingen wir an unsere Plätze zurück. – Es waren doch nur Juden. Das war ja nicht schlimm. Die Juden sind ja unser Unglück, hatte man uns eingetrichtert. Wenn ich daran denke, wie kalt wir das hingenommen haben, muss ich mich schämen. Wir gingen an unsere Plätze und arbeiteten weiter. Gemault haben wir also nur, weil wir weiter Doppelflinten machen mussten und drohten – unter uns natürlich nur –, den Lehrvertrag zu kündigen.

Diese Meinung, die Unzufriedenheit mit unserer Ausbildung und das Verhalten von Meister Sturm, der priemte und seinen Priem in Toilettenpapier spuckte, über seine Lesebrille nach links und rechts blickte und wenn er die Luft nach seiner Ansicht rein war, das zusammen geknüllte Papier unter seinem Stehpult verschwinden ließ, was nach und nach anfing zu stinken – diese Unzufriedenheit teilte ich meinem Logiewirt, dem Herrn Bart, mit. Der war ja Parteigenosse und da war für ihn das Lästern über einen nationalsozialistischen Musterbetrieb nicht tragbar. Was ich nicht vermutete, war, dass Herr Bart sich nun einmischte.

Am Nachmittag des 13. April 1942 wurde ich zu Obermeister Ledermann gerufen. Als ich in das Zimmer des Obermeisters trat, bemerkte ich auch Herrn Bart. Der Obermeister sagte, dass der Parteigenosse Bart ihm berichtet hätte, … – eben das, was ich gerade erzählt habe. – Ich sollte das vorm Obermeister wiederholen. Das tat ich und drohte, bei keiner Veränderung den Lehrvertrag zu kündigen. Nun versuchte der Obermeister mich zu beschwichtigen und versuchte mich hinzuhalten. Da ich nicht darauf einging, bestand er nun darauf, in die Werkstatt zu den anderen Systemmacherlehrlingen zu gehen und diese nach ihrer Meinung zu fragen.

Wir gingen also gemeinsam in die Lehrwerkstatt. Dort wurden alle meine Kollegen vorn am Meisterkäfterle mit Meister Sturm und Meister Dietz zusammengerufen. Der Obermeister trug vor, was ich gesagt habe und dass ich vorgetragen hätte, dass alle dieser Meinung wären und sie sollten das bestätigen. Keiner sagte etwas dazu und ich war der Blamierte. „Nun“, fragte der Obermeister hönisch, „es ist also doch nicht so, wie du behauptest. Keiner hat dazu etwas zu sagen. Was ist nun?“

Mich packte die Wut. Herr Bart blickte mich auch fragend an. Ich sagte: „Bei dem was ich gesagt habe, bleibe ich und ich würde es auch wiederholen. Wenn meine Kameraden zu feige sind, ihre Meinung zu sagen, die sie Tag für Tag hier kund getan haben, so ist das ihre Sache. Ich bleibe bei meiner Aussage und meiner Forderung. Man könnte ja auch einmal unter dem Stehpult bei uns nachsehen.“ – Man blickte sich ratlos an. Ich musste vorn an der Tür stehen bleiben. Man ließ mich nicht einmal meine Werkbank abräumen.

Nach einiger Zeit erhielt Meister Dietz vom Obermeister einen Anruf und Dietz gab mir Bescheid, dass der Obermeister eine Überweisung in die Abteilung „Jagd“ eingeleitet hätte. Ich hätte meine Wege dafür zu erledigen. Ich erledigte meine Wege. Die Ummeldungen ging schnell. Als ich mich wieder am Werkstatteingang postieren wollte, bekam ich von Meister Dietz schon die Anweisung, mich in der Abteilung „Jagd“ bei Meister Gerbig zu melden. Während ich nun mit dem Lehrausbilder vom Dienst verhandelte, meine Brotbüchse aus dem Rollschrank herauszugeben und mit mir nach unten in den Umkleideraum zu gehen, damit ich meine Sachen holen könne, zerrte man unter besagtem Stehpult mit Stangen das mit Priem versehene Toilettenpapier hervor. Meister Dietz stand dabei. Er hatte wohl in dem Anruf vom Obermeister auch die Anweisung erhalten, meine Behauptung zu überprüfen. Ich machte bei Dietz mein Männchen und meldete mich ab, nicht ohne auf den Papierhaufen zu blicken. Das tat ich ganz unbewusst. Dietz dachte aber, ich schaue aus Frechheit nach diesem Haufen. Ich ließ ihn meckern und drehte mich zackig ab.

Mit meinen Sachen über dem Arm ging ich durch den Betrieb und versuchte nun, den neuen Lehrausbilder vom Dienst auszumachen. Der blaffte mich gleich an, als ich ihn gefunden hatte. Morgens vor Arbeitsbeginn ließ er uns in dem geräumigen Umkleideraum in Linie zu einem Glied antreten und nach Feierabend auch. Er war gegenüber den Lehrlingen immer mürrisch und fühlte sich scheinbar als großer Boss. Bei jeder Gelegenheit schnauzte er mit uns herum. Nun kam ich und wollte außer der Reihe in den Umkleide- und Waschraum. Das war unerhört und dazu noch am späten Nachmittag. Ich ließ ihn schimpfen und sah zu, dass ich zu Meister Gerbig kam.

Meister Gerbig führte mich in der Werkstatt nach hinten in die Ecke zu einem Arbeiter, den er als Herrn Hoffmann vorstellte. Während Gerbig den Raum verließ, meinte Hoffmann, dass ich nun erst einen Zangenschraubstock aufbauen müsse. Ich demontierte den vorhandenen Parallelschraubstock und wollte dann den Zangenschraubstock herrichten. Dazu reichte die Zeit bis zum Feierabend nicht mehr. Am nächsten Tag ging es weiter. Ich musste nun noch neue Hilfswerkzeuge, wie Körnen, Beitreiber und Schraubendreher anfertigen. Das Material dazu – Silberstahl – stand in einer Ecke. Es waren mehrere gezogene Stangen mit unterschiedlichen Durchmessern, so, wie man es brauchte.

Mein Platz war nun hinten rechts. Auf der anderen Seite, hinter mir, arbeitete Hoffmann. Er kam aus Albrechts, war groß, schlank und blond mit schon etwas lichtem Haar. Ich schätzte ihn so um die vierzig Jahre. Als ich meine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, kam er zu mir an den Schraubstock und sagte: „Also, dass du dich nicht gleich aufregst, wir machen jetzt erst ein paar Doppelflinten, aber die sind etwas anders. Das sind Flinten mit Ejektor und etwas komplizierter. Außerdem haben sie Seitenblenden“. Ich war einverstanden. Mit Hoffmann arbeitete es sich gut zusammen und ich war froh, dass es so gekommen war. Er zeigte mir auch Kniffe, die ich bei Meister Sturm nie kennen gelernt hätte. So war ich erst einmal zufrieden. Ich hatte aber gerade eine Woche Zeit, mich dort einzugewöhnen.

Es galt, meine Zeit im Jagdschießstand anzutreten. Es kam etwas plötzlich, aber jeder von uns wartete darauf, endlich einmal mit einer Jagdwaffe schießen zu dürfen. Nach Feierabend gingen wir schon ab und zu in eine Jugendgruppe, die auf einem Schießstand nahe dem Bahnhof Heinrichs mit Kleinkaliber-Gewehren übte. Aber das bemerkte man ja kaum. Mit einer Doppelflinte müsste das schon etwas ganz anderes sein.

Meister Gerbig holte mich ab und übergab mich in der Nachbarwerkstatt dem Kollegen Hartmann. Der sagte nicht viel, sondern ließ mich sechs Gewehre aufnehmen, je links und rechts drei, am Riemen über die Schulter gehängt. Man konnte damit gerade noch gehen. Hartmann hatte auch drei Gewehre sowie eine Aktentasche bei sich, in der er die Munition mitführte. Nun durchwanderten wir den ganzen Betrieb bis ans untere Tor. Dahinter ging es bis fast an die Straße nach Albrechts. Am Tor gab es eine Brücke über die Aue und die Hasel. Der Bach kam um den Betriebssportplatz herum und verlief auf der linken Seite des Tales, in dem der Betrieb sich erstreckte. Hinter dem Tor auf der rechten Seite etwas abseits waren einige Fabrikgebäude. Der Komplex hieß Porzellanfabrik.

Der Schießstand, dem wir zustrebten, lag vor der Porzellanfabrik, dicht an der Straße nach Albrechts. Die Räume konnte man von zwei Seiten aus begehen. Wir kamen von der Betriebs- oder der Porzellanfabrik-Seite aus herein. Es ging erst einmal in den sogenannten Doppelraum, wo im angedeuteten zweiten Zimmer Schießscharten zu sehen waren. Dort an der Seite waren auch Gewehrständer, in denen wir die Gewehre abstellten.

 

Hartmann nahm sich einen Stuhl, setzte ihn an die Tür am Eingang und nahm darauf Platz. Während ich noch verwundert in der Tür stand, holte Hartmann eine große Tabakspfeife und einen Beutel Tabak hervor und stopfte sich eine Pfeife. Dann qualmte er erst einmal genüsslich. Dabei knurrte er und brummelte etwas, was ich nicht verstand. Ich fragte, ob ich etwas falsch gemacht hätte. Er sagte aber, dass seine Bemerkungen nichts mit mir zu tun hätten. Es ginge um den blöden SA-Mann. Ich wusste nicht, wen er meinte. Nach und nach kam ich dahinter, dass Hartmann, der Einschießer, den Meister Gerbig meinte. Als Hartmann seine Pfeife zu Ende geraucht hatte, hupte es gerade für die erste Mittagsschicht. Wir schlossen den Schießstand ab und marschierten zurück in den Betrieb, um uns einen Platz im Lehrlingsspeisesaal zu suchen. Musste ich hier doch wieder unter die Fuchtel von Meister Dietz – aber nur während des Essens.

Als wir vom Mittagessen zurück waren, rauchte Hartmann wieder erst eine Pfeife und schimpfte auf dies und das. Nach und nach kam ich dahinter, dass er den Staat oder den Betrieb meinte. Es gab viel, über das er meckern konnte. Da ich ja nun nicht so richtig unter die Leute kam und zudem fremd war, verstand ich damals manches nicht. Als Hartmann endlich sagte, dass es los gehe, stieg meine Spannung und ich freute mich darauf, dass ich zusehen könnte, wie er die Gewehre einschießt.

Ich hatte mich aber getäuscht. Ich musste eine Scharnierklappe für einen Fischkasten herstellen, wofür er das Material mitgebracht hatte. Ich kam dabei nicht so recht voran, hatte ich doch keine Ahnung, wie man schnell ein Blech trennt, wenn man keine Blechschere hat. Ruck und zuck zeigte er mir das an dem dort vorhandenen Schraubstock und schnell war das Teil fertig und angebaut. Dann hoben wir den Fischkasten auf einen Handwagen, den er auch aus einer Ecke zauberte. Dann meinte er, dass seine Frau den Handwagen später abholen würde.

Nach noch einer Pfeife ging es dann aber endlich los. Hartmann nahm ein Gewehr und ging an eine der Schießscharten, lud das Gewehr, zielte und schoss. Nach dem Schuss nahm er ein großes Fernrohr und blickte in die Richtung, in der er geschossen hatte. „So“, sagte er dann, „ich will dir erst mal zeigen, was du machen musst.“ – Natürlich alles in seinem Thüringer Dialekt, den ich so gar nicht wiedergeben kann. Wir verließen das Gebäude zur Straßenseite. Es war ein warmer, sonniger Tag im April. Wir gingen einige Meter in Schussrichtung an der Seite des Gebäudes entlang bis zu einer Tür, die Hartmann aufschloss und durch die wir in einen anderen Raum gelangten. In diesem Raum befand sich eine etwa einen Quadratmeter große Schießscheibe aus Stahlblech. Auf dieser Schießscheibe war ein Kreis eingeprägt, der noch mehrmals unterteilt war.

Hartmann zeigte mir, wie ich die Scheibe mit Grafitöl zu überpinseln hätte, damit die von einem Schuss verursachten Abdrücke gelöscht werden. Nach dem Überpinseln sollte ich die Scheibe wechseln, falls die andere inzwischen beschossen wurde. Ich durfte mich aber in der Zeit, während geschossen wurde, nicht in dem Raum aufhalten. Es gab eine Klingel, mit der mich Hartmann warnte. Weil er manchmal auch zweimal auf eine Scheibe schoss, durfte ich erst wieder in den Raum, wenn er erneut geklingelt hatte. Dazu rief er mich durch ein Fenster noch an. Er war sehr besorgt, dass mir nichts passiert. Wenn er schoss und ich stand dicht an der geschlossenen Tür, hörte ich, wie die Schrotkugeln im Raum umher spritzten.

Die Scheiben standen auf kleinen Rollen und waren mit dünnen Stahlseilen verbunden. Die Verschiebung oder der Wechsel erfolgte seitlich. Von dem Raum zur Schießbahn gab es nur einen Schlitz, durch den die Scheiben verschoben wurden. Trotzdem kamen viele Schrotkugeln durch diesen Schlitz hindurch.

Nun gab es größere Pausen, in denen er mich zu sich rief. Ich sollte zusehen, wie die zusammengelöteten Gewehrläufe gerichtet werden. Wenn es vorkam, dass die beiden Läufe sich im Trefferbild überkreuzten oder auseinander gingen, musste etwas geändert werden. Dazu hatte Hartmann einen Spiritusbrenner mit mehreren Flammen, die sich auch gegenüber lagen. Sie hatten solch einen Abstand voneinander, dass ein darüber gelegter Doppellauf gleichmäßig erhitzt wurde. Damit sollte das Weichlot flüssig gemacht werden, um die Läufe entweder an den Mündungen zusammenzubringen oder den Abstand zu vergrößern. Es waren aber nur Hundertstel Millimeter, um die es dabei ging. Damit nichts schief gehen sollte, wurden die Läufe an den Mündungen straff mit weichem Draht umwickelt, bevor sie über den Brenner gelegt wurden. Zwischen den Läufen war ein Keil, der in die entsprechende Richtung bewegt wurde. Zum Zusammengehen der Läufe wurde der Keil ein geringes Stück nach vorn gezogen und im umgekehrten Fall leicht hineingetrieben. Der Keil musste vor dem Einschießen noch einige Millimeter herausschauen, sodass man ihn noch mit einer Flachzange greifen konnte. Der Keil wurde dann nach dem Einschießen vorsichtig abgefeilt, wobei die Laufmündungen kaum berührt werden durften, um das erreichte Trefferbild nicht zu verändern. Ich habe das später bei einigen Gewehren machen dürfen. Dazu muss man zum Feilen recht sicher sein. Bei einigen Gewehren musste mehrmals erwärmt werden. Hartmann konnte das gut. Er hatte nicht nur gute Augen zum Schießen, sondern zeigte auch recht viel Geschick und Erfahrungen beim Richten.

Bis zum Feierabend hatte er die Gewehre in Ordnung. Die Zeit reichte noch für eine gemütliche Pfeife. Wir arbeiteten damals bis zehn Minuten vor sechs und 54 Stunden in der Woche. Wir gingen pünktlich zurück zur Abteilung „Jagd“, sodass wir kurz vorm Hupen dort eintrafen und noch ordnungsgemäß die Gewehre abstellen konnten.

Am nächsten Tag nahmen wir weniger Gewehre mit, Hartmann hatte zwei und ich vier. Auf unserem Weg gingen wir nahe an einem Schrottplatz vorbei, auf dem Stanzreste lagen. Dort kramte Hartmann herum und kam mit einigen Streifen aus Blech zurück, aus denen man Teile so ausgestanzt hatte, dass man die Reste noch als Gitter verwenden konnte. Nach dem Hartmann seine Pfeife geraucht hatte, ging es wieder los. An den vor der Tür herumliegenden Fischkästen mussten die Durchflussöffnungen mit Gittern verschlossen werden. Der Handwagen mit dem großen Fischkasten vom Vortag war nicht mehr da. Hartmann sagte, dass seine Frau am Abend die Kästen wieder abholen wird. Da er nun wusste, dass ich in Dietzhausen wohnte, erzählte er, dass diese Kästen nach Dietzhausen gebracht würden. Gleichzeitig fragte er mich, ob ich ihm beim Fischen helfen würde, wenn es soweit sei. Ich sagte zu.

Zum Schießen kamen wir am Vormittag nicht. Hartmann und ich räumten alle Ecken auf, auch auf der Schießbahn die hinter der rechten Schießscharte lag. War die linke Schießbahn praktisch bis auf einige Lichtöffnungen umbaut, war die rechte Schießbahn im freien Gelände, was weiträumig abgedämmt war. Dort waren einige Pfosten teilweise mit mehreren Brettern verbunden, auf denen man Scheiben befestigen konnte. Neben der Bahn standen noch einige Äpfelbäume, von denen ich heruntergefallene Äste zusammenlesen sollte. Nebenbei sagte Hartmann: „Morgen kommt Doktor Sack.“

Während dann die Nachmittagspfeife geraucht wurde, wagte ich zu fragen, wer Doktor Sack denn sei. Hartmann erklärte mir, dass sei der Weltmeister im Tontaubenschießen. Was das nun war, wusste ich damals auch noch nicht. Kam ich doch aus Verhältnissen, in denen man sich um Tontauben keine Gedanken machte. Höchstens um Brief- oder andere Tauben, die dann in einen Kochtopf gelangten, wie sie mein Onkel Fritz in Bürgel einige Jahre gehalten hatte. – Bald ging aber die Schießerei wieder los.

Am nächsten Nachmittag kam Doktor Sack. Er war etwas dick und hatte eine schöne Glatze. Ich sehe sie heute noch leuchten, als er und Hartmann auf der Rasenfläche herumhantierten und Sack ab und zu schoss. Ich kann nicht sagen, ob da eine Wurfanlage war. Ich musste im Schießstand oder besser in der „Feuerstube“ bleiben und konnte beide nur durch die rechte Schießscharte beobachten, von wo sie mir ab und zu aus dem Blickfeld gerieten. Der Doktor Sack fuhr mit seinem Auto wieder davon und wir machten wie üblich weiter.

Natürlich rauchte Hartmann erst eine Pfeife. Dann ging es los. Manchmal schoss er zweimal auf eine Scheibe, also, ohne vorher zu löschen. Die Schießscharten waren mit hellem Leder ausgekleidet. In der Mitte jeder Schießscharte war eine Vertiefung, in die man das Gewehr einlegen konnte. Geschossen wurde im Stehen. Dazu war vor den Schießscharten ein breites Brett angebracht, auf das man dann bequem die Ellenbogen auflegen konnte. Im Brett war an jeder Seite, auf der der Schütze stand, eine Aussparung, sodass man ohne viel Mühe das Gewehr richten konnte.

Da ich während des Schießens nicht in der „Feuerstube“ war, sondern immer kurz beim ersten Gewehr, bekam ich nur flüchtig mit, wie die Gewehre beim Rückstoß schlugen. Am linken Stand, an dem mit den Flinten geschossen wurde, befand sich ein abdrehbares Gestell, in das man ein Gewehr einlegen konnte. Da war dann, wo der Gewehrschaft angelegt wurde, ein etwa sechs Zentimeter dickes Polster. Ich sah schon, das Hartman unter seiner grünen Joppe etwas trug, was wie ein Polster aussah und trotzdem legte er die Flinten noch in das Gestell. Da ich, wie jeder von uns Lehrlingen, auch gern mit einer Flinte schießen wollte, kam ich ins grübeln, wie stark der Stoß sein würde, wenn man einen Schuss abgibt. Es sah aber nicht so aus, als hätte Hartmann vor, mir die Erfahrung zu gönnen.

Am nächsten Tag war ich wieder mit Hartmann auf dem Weg durch den Betrieb. Er trug ein Gewehr und ich vier. Ich dachte, Hartmann hatte nicht gut geschlafen, den er brummelte und schimpfte vor sich hin. Er gab mehrere Äußerungen von sich, die ich nicht deuten konnte. Er redete nach bestimmten Pausen so etwas wie „Gelump …, Scheißdreck …, Mist …, Gelump …, zum Kotzen …, Mist …, Gelump … “ Als wir schon am Sportplatz vorbei und kurz vorm unteren Tor waren, fragte ich, was denn los sei und worüber er sich ärgere. Da erklärte er mir, dass es um das Gewehr ginge, was er trug. Das sei eine „Großwildbockdoppelbüchse“ und die würde einen sehr starken Rückschlag besitzen. Er nannte wohl das Kaliber mit 9,3 Millimeter und vier Gramm Pulver. Ein Karabiner hätte nur 2,6 Gramm Pulver und da könnte ich mir ja ausdenken, dass das Ding nun fast doppelt so sehr schlug. Ich pflichtete Hartmann bei, in der Hoffnung, dass er mich nur nicht mit dem Ding schießen ließe. Gesehen hatte ich diese Waffe noch nicht, den wir trugen die Gewehre in Futteralen, die aus starkem Gewebe waren. An Stoßkanten vor allem hatte man zusätzlich Lederstreifen aufgesetzt.

Wie üblich ging der Tag seinen Gang. Nach der Frühstückspfeife ging es los mit Flinten einzuschießen. Zum Mittag war das fertig. Am Nachmittag saß Hartmann beim Rauchen wieder vor der betriebsseitigen Tür. Wir unterhielten uns über dieses und jenes und auch über den Krieg. Stalingrad gab es noch nicht. Auf eine Frage von mir, antwortete er mit: „Nä, nä, dos gett nich gout … “ Er meinte, als er im Weltkrieg gekämpft hätte, stand auf dem Koppelschloss „Gott mit uns“. Jetzt aber würde „Blut und Ehre“ auf den Koppelschlössern stehen und das sei nicht gut. Ich kann mich nur noch an diese Aussage erinnern. Die konnte ich in meinem weiteren Leben nicht vergessen. Auch ich trug ja ein solches Koppelschloss und als es mir später an den Kragen ging, erinnerte ich mich daran.

Zunächst stand aber noch ein einzuschießendes Gewehr in den Gestellen im Feuerraum. Als die Nachmittagspfeife geraucht war, ging Hartmann mit mir und einem großen Stück Papier unter dem Arm hinten um die Flintenschießbahn herum. Durch eine Tür kamen wir auf die rechte Schießbahn. Dort ging es zu einer Tafel an zwei Pfosten. An der entfaltete Hartmann das Papier und heftete es mit Reiszwecken an. Wir verließen die Schießbahn wieder und Hartmann verschloss die Tür des hohen und stabilen Zaunes. Bald waren wir wieder vorn und Hartmann nahm die Bockdoppelbüchse, über die er so geflucht hatte. Er schoss mehrmals. Nach jedem Schuss sah er durch das große Fernrohr. Dann musste ich vor gehen und die Einschusslöcher zukleben. War die Entfernung zum Flinteneinschießen dreißig Meter, so war die Papierscheibe für die Büchse bei 150 Metern aufgestellt. Als ich zurück kam, schoss Hartmann noch ein paar mal. Ich sah, wie das Gewehr sprang und hoffte, dass ich nicht damit schießen müsse. Hartmann sah noch einmal durch das Fernrohr und sagte dann: „So, nu’ kaste ach e’ mol geschess.“

 

Nun hatte ich das durchzustehen. Ich musste mich an die Schießscharte stellen und das Gewehr übernehmen. Hartmann erklärte mir, was ich eigentlich schon wusste, was wir in der Schießgruppe gelernt hatten: Der Gewehrkolbenhals wird mit Daumen und Zeigefinger saugend und schraubend umfasst. Hartmann zeigte es mir. Nachdem er glaubte, ich mache das mit dem Umfassen des Gewehrkolbenhalses richtig, erklärte er mir dann wie ich zielen soll. Nachdem gab er mir eine Patrone. Ich sollte das Gewehr im unteren Lauf laden. Im unteren Lauf würde das Gewehr nicht so stark belastet und – beruhigte mich Hartmann – dann schlägt es nicht so.

Ich ging also in den Anschlag und Hartmann beobachtete mich. Dann sagte er in seinem Dialekt: „Wehe wenn du finzt, da hast es bei mir verschissen.“ Unter „finzen“ versteht man das Verschließen des Zielauges vor und bei Abgabe des Schusses. Dadurch wird das Gewehr nicht mehr geführt und der Schuss geht meist daneben. Finzen erfolgt meist aus Angst vor dem Knall und auch vor dem Rückschlag des Gewehres. Hartmann beugte sich links von mir vor und sah mir ins Gesicht. Ich zielte und drückte so wie er es gefordert hatte ab. Von zielen konnte keine Rede mehr sein, aber ich behielt das Auge auf. Ich hatte nicht „gefinzt“. Hartmann blickte durch das Fernrohr und sagte: „Wo haste dann hie geschosse?“ Ich ahnte, dass ich nicht getroffen hatte. Wartete ich doch auf den Knall und vor allem den Schlag. Es war ein heftiger Schlag. Mein erster Schuss aus einer großkalibrigen Waffe. Ich dachte, wenn der Karabiner beim Militär ein geringeres Kaliber hat und sogar weniger Pulver, kann es doch nicht so schlimm werden. Nicht so schlimm wie mit dieser Büchse.

Ich musste noch einmal schießen, nachdem mir Hartmann noch einmal das mit dem „Spiegel aufsitzend“ erklärt hatte, was ich aber längst wusste. Spiegel aufsitzend bedeutet, dass der schwarz gehaltene Teil der Zielscheibe mit seiner unteren Seite oder der untere Bogen dieses Kreises auf der Linie Kimme-Korn aufsitzt. Hartmann beobachtete mich wieder. Ich wusste ja nun, was kommt, und zielte, wie ich es gelernt hatte. Nun war Hartmann erst einmal zufrieden. Ich gab noch einen Schuss ab und Hartmann widmete sich seiner Pfeife. Er hatte die gesamte Munition bei mir gelassen. Mir reichte es bisher und ich hoffte, dass ich nicht die ganze Munition verschießen müsste. Als ich den sechsten Schuss mit diesem Gewehr abgegeben hatte, sagte Hartmann, dass es genug sei. Ich war erleichtert, säuberte die Läufe und stellte das Gewehr ab. Da sagte Hartmann: „So, nu kaste noch mit die Flint geschieß.“

Es ging also nichts an mir vorbei. Mein Ausbilder kam zu mir und erklärte mir, wie ich mit einer Flinte zielen muss. Auch hier sah er nach, ob ich das Zielen begriffen hatte. Ich hatte. Nach dem zweiten Schuss setzte sich Hartmann wieder zu seiner Pfeife und sah mir zu. Ich schoss und schoss. Nach dem sechsten Schuss fragte ich Hartmann, ob ich die Schulterstütze nehmen dürfte. „Warum?“, fragte er. – „Mir schmerzt die Schulter,“ sagte ich. Das löste bei ihm einen Lachanfall aus. „Ho, ho, ho, ho“, lachte er und hielt sich den Bauch. Ich durfte die Schulterstütze nehmen, doch nützte sie nun nichts mehr. Es schmerzte weiter.

Als ich den elften Flintenschuss abgab, kam Meister Gerbig. „Oach,“ sagte der, „derf iich ach moal geschiß?“ Hartmann gab Meister Gerbig keine Antwort. Zu mir sagte Hartmann, dass ich aufhören könne. Ich war sehr froh darüber. Gerbig fragte noch einmal, ob er schießen dürfe. Hartmann machte nur eine zustimmende Handbewegung. Ich wollte die Läufe der von mir benutzten Doppelflinte reinigen, doch Gerbig nahm sie mir aus der Hand und ging zur Schießscharte. Ich sehe ihn heute noch, wie er sich mit zurücklehnendem Körper hinstellte und zielte. Er stand etwas vor der linken Schießscharte und ehe man sich versah, knallte es zweimal und Gerbig lag mit seinen schwarzen Stiefeln, die kurz in die Höhe ragten, und mit seinem gelblichen Kittel vor uns.

Während Hartmann aus vollem Halse lachte, er brüllte mehr, ich aber nicht lachen durfte, rappelte Gerbig sich auf, nahm seinem Hefter und ging schnell unter Hartmanns dröhnendem Lachen aus dem Raum. Nun konnte ich auch lachen, aber Hartmann konnte sich nicht beruhigen. „So ein blöder SA-Mann, so ein blöder SA-Mann. Hab ich’s doch gesagt. So ein blöder SA-Mann.“

Ich stellte möglichst ungesehen meine Gewehre in der Abteilung „Jagd“ ab und verdrückte mich in die Richtung des Umkleideraumes. Es musste ja bald zum Feierabend hupen. Es wäre mir peinlich gewesen, dem Meister Gerbig gegenüber zu treten. Am folgenden Tag hatte ich Berufsschule und bis dahin wird sich die Sache etwas beruhigt haben, dachte ich.

Am Sonnabend hatten wir vier Gewehre zum Einschießen. Als wir am Schießstand ankamen, waren alle Fischkästen verschwunden. Nach dem Einschießen wurde natürlich noch eine Pfeife geraucht. Dabei fragte mich Hartmann, ob ich ihm an einem der folgenden Wochenenden beim Fischen helfen würde. Ich stimmte zu. Gefischt würde in Dietzhausen.

In der „Feuerstube“ war der daneben gegangene Schuss mehr als deutlich zu sehen. Über der linken Schießscharte, nahe der Raumdecke, war ein etwa 15 bis 20 Zentimeter großes Loch in der Holzwand. Hartmann erklärte mir, dass Gerbig das Gewehr nicht festgehalten hatte, sodass der erste Schuss ihm das Gewehr nach vorn weggezogen hat. Erst würde ein Schuss das Gewehr nach vorn ziehen und bei verlassen des Laufes durch die Ladung zurückgestoßen. Gerbig hätte den Kolbenhals nicht saugend und schraubend umfasst, und so wurde es ihm aus der Hand gerissen und kam an den hinteren Abzug.

„Es ist eben ein blöder SA-Mann“, bekräftigte Hartmann noch einmal. Nun waren ja SA-Männer bei mir angesehene Leute, doch das sagte ich Hartmann lieber nicht. Ich wusste ja nicht, was da vor 1933 vorgefallen war, denn Hartmann hatte einmal so eine Andeutungen gemacht.

Ich hätte gern noch eine Woche an diese Zeit angehängt. Nun standen mir noch vierzehn Tage in der Schmiede und vierzehn Tage in der Werkzeughärterei bevor. Zunächst war ich wieder bei Herrn Hoffmann und da gefiel es mir auch. Während ich nun interessante Doppelflinten zusammenbaute, hatte sich bei den anderen Lehrlingen nichts verändert.