Wie ein Tier

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Kapitel 6

Es war Freitag, der 4. Oktober 1940. Erneuter schwerer Luftangriff der Luftflotte 3 des Generalfeldmarschalls Sperrle auf London. Treffen Hitlers mit Mussolini auf dem Brenner. Ein Kilo Rindfleisch kostete 167 Reichspfennige (Rpf), ein Kilo Butter 350 Rpf.

Reinhard Wenzke, einer der vielen rührigen Amtswalter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) nutzte den schönen Herbsttag, um sich aufs Fahrrad zu schwingen und von Lichtenberg in die Laubenkolonien Gutland I und II zu fahren und dort nach dem Rechten zu sehen. Er half, wo immer es ging, und mindestens einmal die Woche machte er da draußen seine Runde.

Die besagten Kolonien lagen im Dreieck Lichtenberg, Friedrichsfelde und Betriebsbahnhof Rummelsburg. Wenzke radelte gern hier lang, genoss die grüne Oase, die sich am östlichen Rande der Reichshauptstadt so lange noch erhalten hatte. Zur Sommerszeit gediehen hier Bäume und Sträucher in üppigem Grün, und dichte Hecken säumten die Wege, so dass die kleinen, zum Teil massiv, vorwiegend aber aus Holz errichteten Häuschen vor den Augen von Radfahrern und Spaziergängern fast verdeckt waren. Die hinter Zäunen und Hecken verborgenen Gärten zeugten vom emsigen Fleiß der Besitzer und Pächter, und mancher Hausvater hatte sich im Frühjahr 1940 hier in kluger Vorausschau angesiedelt, um seinem Haushalt Gemüse und Obst zuzuführen. Das Leben in dieser Siedlung verlief allerdings so, dass man sich gegenseitig nur im nächsten Umkreis seines Häuschens kannte. Da nun aber von einer Wohnlaube zur anderen das Gemüseland lag, dehnten sich die Bekanntschaften, die meist nur loser Natur waren, nicht sehr weit aus. Man konnte zwar nicht sagen, dass sich hier kein Mensch um den anderen kümmerte, aber es vermochte hier durchaus jemand tagelang für sich allein zu leben, ohne einen Nachbarn sehen zu müssen. Die Frauen begegneten sich vielleicht auf dem Wochenmarkt in Lichtenberg und die Männer hier und da auf dem Weg zur Arbeitsstätte, im Ganzen aber wurde das Ruhebedürfnis des Großstädters in dieser beinahe idyllisch zu nennenden Gegend nicht sonderlich gestört, vorausgesetzt, dass einer es selbst nicht anders wollte.

Wenzke sah auf seine Armbanduhr. 12 Uhr 25. Wenn er sich beeilte, konnte er zum Mittagessen wieder zu Hause sein. Das meiste war erledigt. Aber er konnte ja noch einmal bei Gerda Ditter vorbeifahren, Gutland II, Weg 5a, Laube 33.

Der hatte er letzte Woche hübsche Kindersachen für den Winter gebracht, und nun war noch mal zu fragen, ob sie auch wirklich passten.

Frau Ditter war 20 Jahre alt und niedlich anzuschauen. Ihr Mann befand sich bei der Wehrmacht, und sie hatte es nicht leicht mit ihren beiden Kindern, Mädchen von zwei und einem halben Jahr. Er musste sich wirklich öfter um sie kümmern. Ein kleiner Haushalt, der erst noch werden wollte, aber in allen Stücken war Fleiß und Sauberkeit zu sehen. Erstaunlich, wie die junge und eher schmächtige Frau allem gewachsen war. Er würde sich erkundigen, wie es ihrem Mann denn ginge und ob sie irgendwelche Hilfe gebrauchen könne.

Wenzke hatte die Laube 33 erreicht, stieg vom Rad und lehnte es an eine übermannshohe Hecke. Dann drückte er die Gartentür auf und ging auf das flache Sommerhäuschen zu. Den Weg säumten auf beiden Seiten einige dürre Fliederbüsche, und über verblühten und fast vertrockneten Blumenstöcken zeugte eine Hand voll Astern von einem farbenfrohen Sommer, während die Gemüsebeete bis auf einige Reihen krausköpfigen Grünkohls abgeerntet waren. Links vor der Haustür stand eine alte Badewanne, neben ihr eine verrostete Pumpe.

Wenzke kam zur Haustür, die mit übriggebliebener Dielenfarbe rot gestrichen worden war, fand sie leicht angelehnt und klopfte vorsichtig, um Frau Ditter nicht zu erschrecken. Zu Hause musste sie sein, denn im Wohnraum hinten hörte er die Kinder sprechen. Oder war es Weinen? Egal, er durchquerte den winzigen Vorraum mit anderthalb Schritten und wandte sich zur Küche. Wieder klopfte er. Keine Reaktion.

Na schön. Wenzke war ein Mann, der es hasste, wenn die Menschen zögerlich waren, und so drückte er die Klinke schnell nach unten und trat in die kleine Küche.

»Heil Hitler, Frau …« Ihr Name blieb ihm in der Kehle stecken, denn dicht vor ihm, vor dem Küchenschrank, mit der rechten Schulter an eine Bank gelehnt, war die Frau buchstäblich in sich zusammengesunken. Rasch sprang Wenzke hinzu, denn er vermutete eine Ohnmacht und wollte helfen.

»O Gott …« Als er sich zu ihr hinuntergebeugt hatte, entdeckte er an der ihm zugewandten Seite des Halses Blut. Dicht unterhalb des linken Ohrs lief ein dicker Blutstreifen zur bunten Hausschürze hinunter, und als er nun das nach hinten gesunkene, mehlgraue Gesicht voll im Blickfeld hatte, sah er, dass die braunen Augen der jungen Frau gebrochen waren.

Wenzke schrie auf. Erst beim Aufspringen bemerkte er die große Blutlache, in der die Tote kniete.

Er musste die Augen schließen und Halt am Küchenschrank suchen. Schwindel packte ihn, kalter Schweiß überzog den Oberkörper. Nein, das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Dieses junge, pulsierende Leben, und nun … Er sah sie im Sonnenschein durch die Straßen radeln.

Nebenan lachten die Kinder. Das riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Zwei Kinder ohne Mutter, der Vater an der Front. Wahnsinniger Hass gegen den Täter schoss in ihm auf. Sofort ’n Kopf kürzer machen! Vielleicht steckte er noch hier. Entschlossen wollte er alles durchsuchen, bremste sich aber. Zuerst kamen die Kinder. Die durften auf keinen Fall die Mutter sehen. Er schloss die Küchentür.

»Onkel Wenzke, huhu!«, rief die kleine Hannelore, als er die Tür zum Wohnraum öffnete. »Mama krank.« Das Kind begann zu weinen.

»Ja, sie muss ins Krankenhaus«, sagte Wenzke und führte die beiden Mädchen ins Freie. Er musste sie bei einer Nachbarin abgeben, bevor sie ins Heim eingeliefert wurden. Vielleicht fanden sich auch Großeltern, die die Aufzucht übernahmen.

Er wandte sich zum Grundstück der Borowkas. Er kannte sie, obwohl sie erst seit kurzem hier draußen wohnten. Er war S-Bahner, sie in der Rüstung beschäftigt, Bruder im KZ. Beide unsichere Kantonisten, und man hatte ihn gebeten, ein wenig auf sie Obacht zu geben. Nun ja, wenn die Kinder ein paar Stunden bei ihr waren, ging die Welt nicht unter.

Er klingelte Emmi Borowka heraus, um ihr kurz zu erklären, worum es ging. Der Kinder wegen etwas verklausuliert.

Emmi brach in Tränen aus. »Ich wusste es ja, dass …«

»Nehmen Sie sich doch bitte zusammen!«, fuhr Wenzke sie an. Dann eilte er zurück zur Parzelle 33. Seine erste Hoffnung war, den Täter noch in der Laube zu finden. Entschlossen durchsuchte er sie und den Geräteschuppen. Aber er konnte nichts entdecken.

Nach kurzer Überlegung schwang er sich aufs Rad und jagte zur nächsten öffentlichen Fernsprechzelle. Groschen hatte er stets bei sich in der Tasche. Er erhielt sofort Anschluss und benachrichtigte das nächstgelegene Polizeirevier. Wachtmeister Heckelberg sagte ihm zu, sofort einen Beamten zu schicken. Wenzke atmete durch. Die Kinder fielen ihm ein, und dass sie bei Emmi Borowka nicht bleiben konnten. So rief er seine NSV-Amtsstelle an. Man möge sofort jemanden schicken, die Kinder zu holen. Dann kehrte er zum Weg 5a zurück.

Am Tatort war inzwischen schon ein Revierbeamter eingetroffen. Zusammen warteten sie auf die Mordkommission, die vom Revier aus benachrichtigt worden war.

Kapitel 7

Bei der Einweihung des Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA) im August 1939 war von dessen stellvertretendem Leiter, dem SS-Sturmbannführer, Oberregierungs- und Kriminalrat Paul Werner, die folgende wegweisende Rede gehalten worden:

Nur wer sich restlos in die Gemeinschaft einfügt und gemeinschaftsgemäß lebt, kann vollberechtigtes Glied der Gemeinschaft sein. […] Wer … aber der Gemeinschaft gegenüber gleichgültig ist, wer aus verbrecherischer oder asozialer Gesinnung gar gegen sie eingestellt ist, wird … scharf bekämpft. Wer sich durch sein gerneinschaftswidriges Verhalten außerhalb der Gemeinschaft stellt, verdient keinerlei Rücksicht und wird mit scharfen Waffen polizeilich bekämpft und niedergerungen. Das Schicksal des einzelnen gilt nichts, wenn der Gemeinschaft Schaden durch ihn auch nur droht. Jeder kriminelle Störenfried muss so behandelt werden, dass er keinen weiteren Schaden mehr verursachen kann. […] Wenn ein Verbrecher oder Asozialer Vorfahren hat, die ebenfalls verbrecherisch oder asozial lebten […], ist nach den Ergebnissen der Erbforschung erwiesen, dass sein Verhalten erbbedingt ist und dass durch erzieherische Einflüsse eine Änderung nicht zu erreichen ist. Ein solcher Mensch muss demzufolge in anderer Weise angepackt werden. […] Der Verbrecher wird nicht mehr als Einzelperson, seine Tat nicht mehr als Einzeltat gesehen. Er ist vielmehr als Spross und Ahn seiner Sippe, seine Tat als Tat eines Sippengliedes zu betrachten. Daraus erhellt, dass die Kriminalpolizei sich keinesfalls in theoretischen Erörterungen all dieser Dinge erschöpft, sondern dass sie überaus praktische Schlussfolgerungen zieht.

»Wie schön«, sagte Kriminalsekretär Gerhard Baronna, der sich in seinem Gespräch mit Grete Behrens an diese Rede erinnerte. »Ziehe ich also im Falle unserer Sittlichkeitsdelikte in Rummelsburg den Schluss, dass ich nur den Großvater unseres Täters finden muss, um zu wissen, wer das ist.«

Beide saßen in Baronnas blauem Faltboot und paddelten den Gosener Graben entlang. Was sie verband, die Kriminalassistentin und ihn, war im Augenblick mehr der Beruf als die Liebe, wenn er sie auch eigentlich nicht nur zum Fachsimpeln nach Schmöckwitz eingeladen hatte, wo seine »Snark« im Bootshaus »Krampenblick« zu Hause war. Doch alle seine Versuche, die kleine Spritztour ins Grüne zum Flirten zu nutzen, waren bisher vergeblich gewesen. In einen Film der Ufa hätten sie beide nicht gepasst, der Kriminalsekretär und die Kriminalassistentin.

 

Grete Behrens war ein ernsthafter Mensch. Sie war Kriminalbeamtin geworden, um ganz dicht an die Täter heranzukommen. Um deren Psyche kreiste ihr Denken. Warum brachte ein Mensch den anderen um? Das war die Frage, deren Erforschung sie ihr Leben widmen wollte. Folgerichtig hatte sie begonnen, sich der Psychologie und vor allem der Psychoanalyse zu widmen, war sogar bei Sigmund Freud in Wien gewesen und hatte Melanie Klein gehört, doch dann war Hitler gekommen und hatte die Großen ihres Faches vertrieben. Was war ihr anderes geblieben, als zur Kripo zu gehen und im Tausendjährigen Reich ein langes Praktikum zu absolvieren.

Gerhard Baronna kam aus Kreuzberg, wo seine Mutter in der Manteuffelstraße einen Kohlenkeller ihr Eigen nannte. Sein Vater war im Jahre 1935 an seiner kranken Lunge gestorben, als Folge einer Verwundung, die er im Ersten Weltkrieg erlitten hatte, und hatte sich als alter Schupo nichts sehnlicher gewünscht, als seinen Sohn später einmal in den Reihen der Kripo zu wissen. So hatte Baronna sich nach Beendigung der Schule bei der Polizei beworben und den Lehrgang am Polizeiinstitut Berlin-Charlottenburg erfolgreich abgeschlossen. Auch die Abneigung gegen die Nazis hatte ihm sein Vater vererbt. Richard Baronna war altes Mitglied des »Schrader-Verbandes«, einer radikal-demokratischen Organisation der Schupo, Kripo und Landjäger.

Grete war noch immer über die Rede Paul Werners empört.

»Das führt doch nur dazu, dass Heydrich seinen Katalog der ›Staatsfeinde und Volksschädlinge‹ immer mehr erweitern kann. Alles soll dann ausgemerzt werden: Asoziale, Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Zuhälter, Homosexuelle, Schieber, Preistreiber, Psychopathen, Arbeitsscheue … Alle ab ins KZ.«

»Sind die ›Politischen‹ nicht mehr so allein«, sagte Baronna, der mitunter zum Zynismus neigte und es gerne drastisch hatte.

Grete wusste wohl, wie er das meinte, zuckte aber dennoch leicht zusammen. »Ich bitte dich …« Sie erzählte ihm, dass die Sicherheitspolizei nun auch schon daran dachte, in der Uckermark für weibliche Minderjährige ein »Jugendschutzlager« einzurichten.

Wieder kam Baronnas sardonisches Lachen. »Motto: ›Vom Kinderbett ab ins KZ!‹ Aber tröste dich: Für die Jungen gibt es das schon seit letztem August, im Solling. Der ewige Wettkampf zwischen Nebe und Müller.«

Reichskriminaldirektor und SS-Brigadeführer Arthur Nebe war der Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes (R K PA), kurz: der Chef der deutschen Kripo, Heinrich Müller leitete das »Geheime Staatspolizeiamt« (Gestapo) und war Gefolgsmann Reinhard Heydrichs. Er und die führenden Männer der Gestapo verfolgten die Unternehmungen der Kripo-Kameraden ebenso neidisch wie misstrauisch. Die Kriminalbeamten hatten es verstanden, die Arbeit des R K PA weithin von der Gestapo freizuhalten. Dabei war ihnen zugutegekommen, dass die Nationalsozialisten 1933 bei der Umstrukturierung der Polizei von sich aus reine und tüchtige Kriminalisten den politischen Mitläufern vorgezogen hatten. So hatte es immer eine Abschottung und sogar ein Gegeneinander von Kripo und Gestapo gegeben. Und während die Männer der Gestapo von erheblichen Teilen der Bevölkerung abgelehnt wurden, gab es für die Kripo in der Öffentlichkeit Anerkennung und Verständnis. Wenn Gerhard Baronna also im Herbst 1940 ein berufliches Vorbild hatte, dann war es nicht Heydrich oder Himmler, sondern Ernst Gennat, der alte stellvertretende Chef der Kriminalabteilung. Einer, der mit seiner buddhaähnlichen Figur gar nicht dem Idealbild des »deutschen Mannes« entsprochen hatte und mit seiner republikanischen Gesinnung erst recht nicht dem SS-Bild der Polizei.

Von ihm schwärmte Baronna noch immer, als sie das Ende des Gosener Grabens erreichten und den rauen Seddinsee vor sich liegen sahen. Die Oktobersonne färbte den Sand der Gosener Berge goldrot, und die Schillerwarte auf dem höchsten ihrer Hügel wirkte wie ein Fort am Rande der Sahara. Nichts ließ darauf schließen, dass es Krieg gab, Elend und Vernichtung.

Grete hörte auf zu paddeln. »Musst du nachher noch zum Dienst?«

»Ja.«

»Dadurch, dass wir die Verbrecher zur Strecke bringen, tun wir viel für Hitler, stabilisieren wir sein Reich …«

»Recht hast du«, erwiderte Baronna mit gewohntem Sarkasmus. »Wenn jeden Tag jeder Deutsche einen Deutschen ermordet – Mann oder Weib –, steht Hitler in einem Monat ohne alle da. Kein Volk, kein Reich, kein Führer. Darum lassen wir sie also gewähren, unsere Mörder.«

»Tun wir doch sowieso schon … im KZ.«

Baronna schlug mit dem Paddel so aufs Wasser, dass es bis zu ihr nach vorne spritzte. »Hör auf! Wir sind hier, um uns zu erholen. Ich hab’s schon schwer genug im Dienst.«

Als Gerhard Baronna seine Dienststelle am Werderschen Markt betrat, den »Jägerhof«, wurde er sofort von seinem Chef am Ärmel gepackt und wieder zur Tür befördert.

»Kommen Sie!«, rief Kriminalkommissar Wilhelm Lüdtke.

»Mord in einer Laubenkolonie am Betriebsbahnhof Rummelsburg.«

Als Baronna die Leiche der Gerda Ditter in ihrer Blutlache sah, dachte er mit einem seiner typischen Reflexe, warum es hier an der Heimatfront eigentlich anders aussehen sollte als draußen auf den Schlachtfeldern des Krieges. Alle hatten Opfer zu bringen. Zugleich erfüllte ihn eine nie gekannte Traurigkeit. Eine so hübsche Frau; dahingegangen, bevor sie gelebt hatte. Zwei Kinder ohne Mutter, seelisch verkrüppelt für ihr ganzes Leben. Aber egal, sein Sarkasmus ließ ihn wieder aufleben, bald sank ohnehin die ganze Stadt in Schutt und Asche. Wenn die Engländer Krieg führten gegen die Deutschen, waren ihre amerikanischen Blutsbrüder nicht mehr weit, 1917 hatte es gezeigt, und gegen deren Bomber war kein Kraut gewachsen.

»Baronna, heh, träumen Sie?« Lüdtke stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.

»Ja, Herr Kommissar.«

»Das sollten Sie lassen, Sie sind im Dienst.«

»Ich weiß, auf Träumen steht die Todesstrafe – siehe den Prinzen von Homburg.«

Der Beamte vom Erkennungsdienst hatte nun genügend Fotografien gemacht, und sie konnten alles näher in Augenschein nehmen. Doch ein Mordwerkzeug war nirgendwo zu finden, ebenso keinerlei Spurenmaterial, das sich gebrauchen ließ.

»Es scheint«, sagte Lüdtke, »dass der Täter aus irgendeinem Grunde plötzlich von seinem Opfer abgelassen hat. Er muss noch das Mordinstrument gegriffen und sich dann schleunigst entfernt haben. Und die Lage der Leiche … Auf einen Kampf lässt das auch nicht schließen. Oder?«

Baronna nickte. »Nein …«

»Die Frau muss von seiner Attacke völlig überrascht worden sein. Abwehr? Keine Zeit mehr dazu.«

Sie stellten abschließend fest, dass der Tod schon vor etlicher Zeit eingetreten sein musste, höchstwahrscheinlich durch Messerstiche. Genaueres mussten die Gerichtsmediziner herauszufinden suchen.

Der Leichenwagen kam, Frau Ditter abzuholen. Der NSVAmtswalter und der Revierbeamte gingen mit den Kindern in den hinteren Raum und spielten mit ihnen.

Lüdtke und Baronna fuhren ins Büro zurück.

Als Kriminalsekretär Gerhard Baronna am späten Nachmittag an seiner Maschine saß, um mit seinem Zehnfingersuchsystem den Bericht zu schreiben, gab es nichts wesentlich Neues hinzuzufügen. Es handelte sich um zwei Messerstiche, und vorher hatte der Mörder sein Opfer zu erwürgen versucht. Vermutete Tatzeit war der 3. Oktober, spät in den Abendstunden. Nichts deutete auf einen Raubmord hin.

Baronna ging mit dem Bericht zu seinem Chef. Lüdtke las alles sorgfältig durch und meinte dann, dass man wohl zwischen einem Einbrecher zu wählen habe, der geräuschlos in die Laube eingedrungen sei, oder einem Bekannten der Diner.

»Der Mann Soldat, da kommt ein guter Freund des Hauses, der meint, dass der einsamen Frau doch etwas fehlen müsse. Die wehrt sich und dann … Also, sehen Sie sich mal im Bekanntenkreis der Gerda Ditter um. Außerdem ist die Möglichkeit eines Einbruchdiebstahls in Betracht zu ziehen. Frage, ob es da in der Gegend in letzter Zeit Vorkommnisse dieser Art gegeben hat.« Lüdtke steckte sich eine Juno an. »Immerhin scheint mir die Absicht eines Sittlichkeitsverbrechens nicht ganz ausgeschlossen zu sein. Müssen wir also auch dahingehend Ermittlungen anstellen.«

Baronna klappte sein schwarzes Schulheft wieder zu. »Wird gemacht. Und … soll die Meldung für die Morgenzeitung freigegeben werden?«

Lüdtke sah durch ihn hindurch, und Baronna wusste, was seinen Chef bewegte. Jeder Mord im Deutschen Reich war eine Hiobsbotschaft für die Spitzen von Partei und Staat. Hieß das doch: Ha-ha, bei euch geht es auch nicht anders zu als zur Systemzeit, nicht anders als in Weimar, Mord und Totschlag überall. Und wenn die absoluten Herrscher früherer Zeiten den Überbringer einer Hiobsbotschaft kurzerhand erschlagen hatten, so neigten die Herren des Hitler-Reichs dazu, mit ihren Kripoleuten auch nicht anders umzugehen. Sie störten nur. Besonders, wenn sie ihre Arbeit nicht lautlos taten. Andererseits brauchten sie die Kripo und die Presse, um die Täter zu fassen und andere abzuschrecken, zum Verbrecher zu werden.

Lüdtke entschied sich für die Standards seiner Zunft. Wohl, weil er Nebe hinter sich wusste. »Ja, geben Sie’s den Zeitungen. Die geringste Wahrnehmung aus der Bevölkerung ist wichtig. Und da wir keine Spuren haben, brauchen wir die Presse. Und sehen Sie zu, dass eine Mahnung an die Bevölkerung damit verbunden ist, vor verdächtigen Elementen auf der Hut zu sein.«

»… vor verdächtigen Elementen auf der Hut zu sein«, wiederholte Baronna mit hintergründigem Lächeln. Er spielte ein wenig den von ihm sehr verehrten Kabarettisten Werner Finck, der zu einem SS-Spitzel in seiner »Katakombe« einmal gesagt hatte »Kommen Sie mit, oder soll ich mitkommen?«

Lüdtke ging auf sein Wortspiel nicht ein, und Baronna war sich nicht im Klaren darüber, ob er es nicht verstand oder nicht verstehen wollte. So fasste er noch einmal zusammen.

»Also: Alles melden, was man sieht. Bei totaler Verdunkelung das eigene Licht noch heller leuchten lassen.«

»Raus!«, rief Lüdtke.

Baronna machte sich an die Arbeit. Presse benachrichtigen, zum Dezernat für Sittlichkeitsverbrechen gehen usw.

Der 5. Oktober 1940 war ein Sonnabend. An den Fronten gab es nichts Neues, aber an diesem Tag begann in Deutschland die Kinderlandverschickung, organisiert von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), der Hitlerjugend (HJ) und der NS -Lehrerschaft. Kinder, die unter den Kriegsfolgen und schlechter Ernährung litten, sollten aus dicht bevölkerten Gebieten hinaus aufs Land. Auch um den alliierten Luftangriffen zu entgehen.

Gerhard Baronna las es ohne übergroße Anteilnahme, hatte er doch selber keine Kinder, dachte aber dann an die beiden Mädel aus der Laubenkolonie, deren Mutter man ermordet hatte. Vielleicht half es ihnen, wenn sie ganz woanders aufwachsen konnten.

Viel war es nicht, was im Völkischen Beobachter, im 12 Uhr Blatt und in der Berliner Morgenpost über den Rummelsburger Mord zu lesen stand. Der Beisetzung von Walter Kollo hatte man mehr Beachtung geschenkt. Aber immerhin wurde in den Lokalteilen an auffälliger Stelle von Gerda Ditter berichtet und die Bevölkerung gebeten, sich mit sachdienlichen Hinweisen an die Polizei zu wenden.

Die ersten Anrufe kamen auch schon am Sonnabendvormittag, brachten aber wenig. Erst eine gewisse Emmi Borowka, die sagte, dass sie seit kurzem in der Laubenkolonie Gutland wohnte, ließ ihn ein wenig hoffen.

»Ich hab mich ein paar Mal mit Frau Ditter unterhalten.«

»Und? Hat sie Ihnen gegenüber etwas verlauten lassen, das vielleicht ein Hinweis wäre?«

»Nein, aber ich hab sie am Donnerstag auf dem Wochenmarkt in Friedrichsfelde mit einem Mann reden sehen, länger …«

Baronna horchte auf. »Können Sie den näher beschreiben?«

»Ja … Eine blaue Schirmmütze hat er aufgehabt und so ein offenes Sporthemd an.«

Baronna notierte es. »Alter? Größe?«

»Na, dreißig vielleicht oder ’n bisschen älter … Aber so genau … Und die Größe? Eins siebzig vielleicht.«

»Und sonst noch, besondere Kennzeichen und so?«

»Da fällt mir nichts mehr ein.«

Baronna bedankte sich und legte wieder auf. Hm … Eine Beschreibung, die auf Hunderte von Männern passte. Er sah auf die Uhr. Um zehn hatte sein Vorgesetzter ihn sehen wollen. Baronna machte sich auf den Weg und berichtete Lüdtke zuerst über das, was er gestern noch vom Dezernat für Sittlichkeitsverbrechen in Erfahrung hatte bringen können.

 

»Ja, also«, Baronna las ab, was er sich notiert hatte. »Seit dem Sommer 1938 haben sich in dem Laubengelände am Betriebsbahnhof Rummelsburg und in der näheren Umgebung zahlreiche Überfälle auf Frauen ereignet. Zunächst handelte es sich um verhältnismäßig harmlose Belästigungen, das heißt, die Frauen sind mit der Taschenlampe angeleuchtet und daraufhin angesprochen worden, ob sie mit dem Täter den Geschlechtsverkehr ausüben wollten. Bei einer Ablehnung ist zunächst nichts weiter passiert. Dann ist es zu versuchten und später auch vollendeten Sittlichkeitsverbrechen gekommen. Der Täter würgte seine Opfer, schlug auf sie ein oder versuchte, sie sonst wie mit Gewalt wehrlos zu machen.«

Lüdtke spielte mit seiner Zigarettenschachtel. »Da gab es als Steigerung nur noch eines: einen Mord …«

Baronna vermied es, seine Anmerkung zynisch klingen zu lassen: »Und was kommt bei einem solchen Menschen nach einem Mord?«

Lüdtke stöhnte auf. »Der zweite, der dritte, der vierte … Bei Friedrich Haarmann in Hannover waren es schließlich siebenundzwanzig Opfer.«

»Trösten wir uns mit William Shakespeare«, sagte Baronna.

»Bei dem steht irgendwo der schöne Satz: ›Gott schuf ihn, also lasst ihn für einen Menschen gelten.‹«

»Was Gott nicht alles so geschaffen hat …«, murmelte Lüdtke, und Baronna ahnte, was und wen er damit meinte.

»Zeit, ihn abzuschaffen.« Er steckte sich mit typischer Ufa-Geste seine Juno an.

»Zur Sache, Baronna! Wo fanden die Überfälle statt? Ich meine: in Wohnungen, auf offener Straße oder wo sonst?«

»Ausnahmslos im Freien und während der Abend- und der Morgenstunden.«

»Sind irgendwelche Spuren vorhanden oder Personenbeschreibungen?«

»Nein, nichts. Der Täter hat sich jedes Mal die Verdunkelung zunutze gemacht. Der Täter, die Täter … Wer weiß … Die überfallenen Frauen haben kaum Beobachtungen machen können.«

Lüdtke dachte nach. »Ich hab so das Gefühl, dass wir es bei den Überfällen in den Laubenkolonien und dem Mordfall Ditter mit ein und demselben Mann zu tun haben.«

Baronna hatte dazu eine andere Meinung. »Herr Kommissar, bitte, es spricht doch alles dafür, dass es mindestens zwei verschiedene Täter sind. Sittlichkeitsverbrechen in Serie, darauf kann doch im Falle Ditter durch nichts geschlossen werden.«

»Sicher …« Lüdtke stand auf und ging im Raum umher.

»Sie können genauso gut recht haben wie ich. Erfahrung und Gefühl sind manchmal Ratgeber, auf die man nur mit Vorsicht hören sollte. Wie auch immer, wir sollten uns nicht zu schnell auf nur eine Möglichkeit festlegen.«

»Verzeihung, aber ein ganz simpler Einbruch wäre ja auch noch in Erwägung zu ziehen. Der Täter wird von Frau Ditter überrascht, gerät in Panik und sticht zu …«

»Gut, Baronna, Sie ziehen alles ins Kalkül. Auf alle Fälle veröffentlichen wir auch da eine Pressenotiz und lenken die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die Sittlichkeitsverbrechen im Raume Rummelsburg, Karlshorst und Lichtenberg.« Baronna unterbrach ihn. »Das wird man höherenorts gar nicht so schätzen …« Er erschrak über sich selbst. Jetzt zeigte auch er jenen vorwegnehmenden Gehorsam, über den er Grete gegenüber immer spottete, und dachte schon so, wie die Naziführer dachten, machte deren Ängste zu seinen Ängsten.

»Nun …« Lüdtke blieb am Fenster stehen und sah auf die Stadt hinunter. »Das ist die Quadratur des Kreises: Kriegen wir den Kerl nicht bald, kommen wir selber in den Geruch von Volksschädlingen und dürfen uns auf einiges gefasst machen, doch wir kriegen ihn nur, wenn wir in der Öffentlichkeit Alarm schlagen. Tun wir das aber, sind wir für Heydrich und Co. nichts weiter als Agenten des britischen Geheimdienstes, gedungen, unser Land draußen in der Welt lächerlich zu machen und die Wehrkraft des deutschen Volkes zu zersetzen.«

»Und?«

»Nebe deckt es.«

Baronna schwieg. Für ihn war Arthur Nebe ein charakterloser Karrierist, schon seit 1931 Parteigenosse und Mitbegründer der Nationalsozialistischen Beamten-Arbeitsgemeinschaft (NSBAG), Mitglied eines Freicorps, Militarist und Antisemit, also insgesamt ein übler Bursche. Grete aber wollte gewittert haben, dass Nebe Kontakte zu Leuten hatte, die den Führer absetzen lassen wollten. Undenkbar für ihn.

»Also …« Lüdtke sprach weiter: »Die Personenbeschreibung des Mannes vom Wochenmarkt beifügen. Eine Belohnung von eintausend Reichsmark wird auch bewilligt werden.«

Gerhard Baronna hatte sein erstes Lebensjahrzehnt in Trebatsch verbracht, einem Dörfchen am Schwielochsee, nördlich des Spreewaldes, und er erinnerte sich oft an das, was der Pfarrer dort, wenn man ihn bei Besuchen auf dem Lande einmal traf, immer lächelnd sagte. Dass er sich an Martin Luther hielte und dessen Maxime: »Und wenn ich wüsste, dass die Welt morgen unterginge, ich würde heute noch einen Baum pflanzen.«

So kam er sich vor, als er durch Lichtenberg streifte, um in den Läden nach dem Mörder der Gerda Ditter zu suchen. Der große Krieg würde noch kommen, aber auch jetzt schon starben Hunderte von Menschen täglich. In den KZs zum Beispiel wie im Krieg. Und wenn die Amis erst in Europa landeten und der Führer die Russen angriff, worauf viele seiner Freunde wetteten, dann gab es Millionen Tote. Und da sollte er sich den Arsch aufreißen, weil hier einer eine getötet hatte …

Doch, ja. Wie anders auch. Ein immer helles Licht beleuchte deinen Weg – die Pflicht. So hatte er es gelernt.

Am U-Bahnhof Friedrichsfelde war ein kleiner Wochenmarkt, auch gab es eine Reihe von Geschäften, in denen die Bewohner der im Süden angrenzenden Laubenkolonien gerne kauften. Seit Ende 1930 hatte hier die U-Bahn-Linie E, die vom Alexanderplatz kam, ihre Endstation, und es herrschte immer reges Treiben.

Wie ein Vertreter für Kurzwaren – Knöpfe, Nähgarn, Schnürsenkel und dergleichen – zog Baronna herum und sprach die Leute an, insbesondere die Frauen. Ob sie die Geschlechtsgenossin auf diesem Foto hier kannten? Ob sie in letzter Zeit von einem Mann belästigt worden seien? Ob sie einem Mann begegnet waren, der wie folgt beschrieben wird …

»Nein …«

»Tut mir leid …«

»Die arme Frau Ditter.«

»Das war eine freundliche Frau. Immer ruhig und gut zu leiden.«

»Ja, die hat ihr Fleisch immer hier bei uns gekauft. Nein, immer alleine, nie mit einem Mann zusammen.«

So ging es den ganzen Vormittag über. Seit dem Mord an Gerda Ditter waren nun gute vierzehn Tage vergangen, ohne dass sie auch nur einen winzigen Schritt weitergekommen wären.

Als er aber in sein Büro zurückgekommen und die Liste mit den eingegangenen Anrufen durchgegangen war, glaubte er, endlich Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Die 30-jährige Fabrikarbeiterin Ella Jarke wollte in dem gesuchten Mann ihren früheren Verlobten, den 32-jährigen Steinsetzer Paul Malchow, erkannt haben. Er sei im Frühjahr 1940 von seiner Arbeitsstelle verschwunden und seither nicht mehr bei ihr aufgetaucht, sie habe ihn aber im September in Lichtenberg gesehen, als sie in der Prinz-Albert-Straße mit der 76 an ihm vorbeigefahren sei.

Gerhard Baronna setzte einen Assistenten in Marsch und ließ sich die Dame kommen. Ella Jarke war mächtig zurechtgemacht, roch nach billigem Parfüm, musste ihre Haare literweise mit Wasserstoffsuperoxyd behandelt haben und fiel zweifellos in die Kategorie ordinär. Nicht, dass er sie schon zu den Prostituierten rechnen mochte, aber bestimmt ließ sie sich nicht lange bitten, wenn ein Kerl ein bisschen was hermachte und sie in die etwas besseren Etablissements einladen konnte.