Wie ein Tier

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Kapitel 3

Alberts Hand schlich sich heran, um unter Emmis Nachthemd zu kriechen.

»Hör auf damit!« Sie stieß ihn zurück und machte vollends dicht.

»Bist du nun meine Frau oder nicht?«

»Ich kann jetzt nicht. Ich muss immer noch an Helga denken …«

In den letzten zweieinhalb Jahren hatte es zwei Dutzend Sittlichkeitsverbrechen in den Laubenkolonien ringsum gegeben, und gestern Nacht hatte es Emmis Freundin erwischt.

»Und wie ich ihm neulich gerade noch entkommen bin …« Die Erinnerung daran riss sie mit wie die starke Strömung eines Flusses einen schwachen Schwimmer. Sie begann, am ganzen Körper zu zittern.

»Ich bin doch nicht der …« Albert wälzte sich wieder auf die andere Seite des Bettes, um Emmi zu streicheln und mit seinem Körper zu wärmen. Dann schrie er auf, denn ihre abwehrende Hand hatte sein schon hartes Glied wie mit einem Sichelhieb getroffen.

»Du Unhold!« Sie glaubte, er hätte die Vergewaltigungsszene vor Augen gehabt und sich seine Lust dabei geholt.

Albert wusste wie sich die meisten Männer in einer solchen Lage verhielten: Sie schlugen ihre Frauen windelweich und zwangen sie danach, ihnen zu Willen zu sein. Er nicht. Er war ein sanfter Charakter und sich absolut sicher, dass Emmi ihn liebte und keine Schuld an allem hatte. Die Verhältnisse, die waren halt so. Und was konnten sie beide dafür, dass sie so waren.

Aber dennoch war er von Emmis Zurückweisung erheblich gekränkt. Und der Samen wollte ausgestoßen werden. Außerdem: Morgen konnte er im Felde stehen, und was dann, wenn er fiel, ohne vorher Manfred gezeugt zu haben oder Marianne.

Emmi weinte. Albert knipste die 15-Watt-Nachttischlampe an und starrte gegen die Decke. Wenn es noch lange regnete, konnte der Wasserfleck um Mitternacht Moskau eingenommen haben. Warschau, Budapest, Belgrad, Rom, Bordeaux, London, Kopenhagen und Oslo waren schon erfasst. So oft er sein Dach auch teerte, immer wieder lief es durch, und in der weißen Schlemmkreide zeichneten sich nach dem Trocknen viele schmutzigbraune Linien ab. Mit einiger Phantasie ließen sie sich als die Umrisse verschiedener Kontinente deuten. Über Alberts Augen dehnte sich Europa, und genau da, wo man sich Berlin zu denken hatte, war die undichte Stelle.

Er versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Wie er als Kind vorn im hölzernen Boot seiner Eltern gesessen hatte und wie sie überall umhergepaddelt waren. Von Schmöckwitz, wo es gelegen hatte, den Zeuthener See hinunter. Durch die Schleuse bei Neue Mühle hindurch, die Bootsschleppe benutzt. Dann über den Krimnick- und den Krüpelsee die Dahme hinauf. Bis zum Dolgensee. Der konnte, wenn Sturm aufkam, gefährlicher als die Ostsee werden. Einmal waren sie auch umgekippt, als sie die Ausfahrt bei Dolgenbrodt nicht mehr erreichen konnten. Wenn er da nun ertrunken wäre … Was machte es für einen Unterschied, ob man als Vierjähriger starb oder jetzt mit einunddreißig Jahren, wenn einen eine Fliegerbombe traf oder die Kugel eines SS-Mannes im KZ. In dem Moment, in dem man gestorben war, konnte es einem doch völlig egal sein, ob man vier oder vierundneunzig Jahre gelebt hatte.

Albert erschrak. Wie aufgebahrt lag seine Frau jetzt da. Er strich ihr mit den Fingerspitzen über Kinn, Lippen und Wangen.

»Lass mal, es wird schon wieder.«

»Ich hab Onkel Paul daliegen sehen, ganz verkohlt …« Ihr Lieblingsonkel war während eines Luftangriffs bei lebendigem Leibe verbrannt.

»Wir leben doch noch«, sagte Albert.

»Ja. Dann komm …« Es hatte so flehentlich geklungen, dass sie sich einen Ruck gab und ihn unter ihre Bettdecke zog.

Sie lagen eine Weile schweigend da, dann trieb es ihn zu einem neuen Versuch. Er fuhr mit seiner Hand sanft ihre Schenkel hinauf, um sie endlich wieder zu öffnen.

Doch Emmi presste sie zusammen. »Ich kann jetzt nicht …«

»Immer kannst du nicht.«

»Ich hab mir gerade vorgestellt, wie sie Berthold in den Stacheldraht jagen und erschießen.«

Das KZ Sachsenhausen lag im Norden vor den Toren Berlins, ein paar hundert Meter von jenem Bahnhof entfernt, an dem die S-Bahn-Linie Wannsee–Oranienburg ihren einen Endpunkt hatte. Albert hatte es nicht ertragen können, auf dieser Strecke Dienst zu tun und alles darangesetzt, einer anderen Zuggruppe zugeteilt zu werden.

»Meinst du, ich …« Albert erzählte ihr von dieser Geschichte.

Sie nahm seine Hand. »Ich weiß, du bist kein grober Klotz …«

Albert wurde seinem Zorn auf sie und alles nicht mehr Herr.

»Und du bist nicht Frau Jesus, du musst nicht alles Elend dieser Welt auf dich beziehen und daran leiden. Daran geh’n wir beide zugrunde!«

Sie sah ihn hilflos an. »Was soll ich denn machen?«

»Alles mal für zehn Minuten vergessen!«

»Dass von Frau Lewandowski nebenan der Sohn gefallen ist? Dass wir ausgebombt sind? Dass Berthold im KZ sitzt? Dass mein anderer Bruder im Krieg ist und jeden Tag fallen kann? Dass hier in der Laubenkolonie einer wie ein Tier über uns Frauen herfällt? Das soll ich vergessen?«

»Jaaa!«, schrie er. »Für ein paar Minuten mal.«

»Das kann ich nicht.«

Albert sprang aus dem Bett. »Dann kann ich mich ja gleich entmannen lassen.«

Damit stürzte er zur Tür, entriegelte sie und trat ins Freie hinaus. Es mochte kurz vor Mitternacht sein, und da eine dichte Wolkendecke das Mond- und Sternenlicht verschluckte, herrschte eine derart totale Finsternis, dass Albert unwillkürlich dachte, die Erde hätte sich aus ihrer Bahn gelöst und sei irgendwo in den Tiefen des Weltalls für immer verschwunden.

Es war Herbst, und die feuchte Erde wie die vielen Astern bewirkten, dass es wie auf einem Friedhof roch. Ende und Verwesung überall. Albert fühlte, dass das ein Zeichen war für das, was kam und kommen musste. Die ganze Welt war jetzt an Krebs erkrankt, und Heilung gab es nicht.

So stand er lange da und beneidete die, die noch einen Gott hatten und an ihn glauben konnten.

Wie versteinert war er, als Emmi plötzlich hinter ihm stand, sich an ihn schmiegte und ihre weichen Arme vor seiner Brust verschränkte.

»Wir lassen uns nicht unterkriegen«, sagte sie. »Jetzt gerade nicht!« Und damit meinte sie, dass es Zeit wäre, an Manfred oder Marianne zu denken. »Es wird weitergehen.« Sie nahm ihn an die Hand.

Als sie wieder nebeneinanderlagen, war es an Albert, zu zögern. Er schaffte es nicht mehr, hart zu werden. Wenn es Manfred wurde, dann machten sie ihn womöglich zum SS-Obersturmführer oder zum KZ-Aufseher. Und wenn es Marianne war, dann wuchs sie vielleicht zum willigen BDM-Mädel heran und diente der SS im Lebensborn zur Aufzucht der deutschen Herrenrasse. Viel wahrscheinlicher aber krepierten beide nach einem Volltreffer anglo-amerikanischer Bomberverbände.

Dann aber siegte das Leben. Er lag auf ihr und rang dieser Welt stöhnend-schreiend das ab, was sie an Lust noch geben konnte.

Doch kaum war sein Samen in Emmis Schoß geströmt, da stieß sie ihn in wilder Panik zur Seite.

»Da steht einer am Fenster!« Und richtig, Albert sah das Gesicht genau wie sie. Unbemerkt hatte der Mann den einen Fensterflügel aufzudrücken vermocht.

Albert stürzte zum Fenster, um es vollends aufzureißen und sich in den Garten zu schwingen, dann aber fiel ihm ein, dass er nackend war und sich erst zumindest eine Hose anzuziehen hatte. So schrie er nur aus Leibeskräften nach Hilfe, nach der Polizei.

Als er dann in einer Trainingshose steckte und rausgesprungen war, verhakte er sich im Stacheldraht des Nachbargrundstücks und hörte nur, wie mehrere Männer dabei waren, dem Täter fürchterliche Prügel zu verschaffen. Albert stürzte zum Hauptweg, um sicherzustellen, dass er auch wirklich überwältigt und der Polizei übergeben wurde.

Zu spät. Als Albert zur Stelle war, hatte es der Täter tatsächlich geschafft, sich wieder loszureißen und ins Dunkel abzutauchen. Albert schimpfte mit den drei Männern, die das zugelassen hatten. Sie gingen alle auf die Sechzig zu und verteidigten sich mit Argumenten, die nicht von der Hand zu weisen waren.

»Wir sind gerade aus der Kneipe gekommen und …« Albert roch es. Sie hatten eine ziemliche Fahne.

»Wenn ’ne Frau geschrien hätte, dann … Aber du als Mann, da ham wa nur jedacht, det et ’n Eibrecha jewesen is!«

»Vielleicht ooch bloß ’n Ritzenkieker.«

Albert konnte es nicht fassen. »Quatsch, das wird der Kerl gewesen sein, der … Wo wir ihn schon gehabt haben! Soll das denn ewig so weitergehen hier mit den Überfällen hier!? Unsere Frauen, die …«

»Nach dem Denkzettel heute lässt der sich nicht mehr blicken hier.«

Albert war da skeptisch. »Dein Wort in Gottes Ohr. Hoffentlich behältste recht.«

Kapitel 4

Albert versah in der Nacht vom 20. auf den 21. September 1940 seinen Dienst auf der Zuggruppe L, pendelte also hin und her zwischen Potsdam und Erkner. Eine Fahrt dauerte etwas mehr als anderthalb Stunden.

Es war genau 22 Uhr 22, als er auf dem Bahnhof Friedrichstraße stand. Einmal noch durch die Reichshauptstadt hindurch und nach Erkner hinaus, dann zurück bis zum Bw, und er hatte Feierabend. Sofern es keine Luftangriffe gab. Sein Alptraum war es, dass einmal, so zwischen Friedrichstraße und Börse, direkt vor ihm eine Sprengbombe in die gemauerten S-Bahn-Bögen krachte und er mitsamt seinem Triebwagen in die Tiefe stürzte. Das verfolgte ihn bei jeder Fahrt die Stadtbahn entlang.

Sein Schaffner stand draußen auf dem Bahnsteig und wartete auf den Abfahrauftrag. Zum Glück war es wie fast immer in den letzten Monaten sein alter Freund Karl-Heinz. Sie kamen beide aus der Braunauer Straße und hatten beim 1. FC Neukölln, kurz ›95‹ genannt, das Fußballspielen gelernt; sie hatten allerdings auch nie in derselben Mannschaft gespielt, da er runde fünf Jahre älter war als der Kamerad.

 

Karl-Heinz klopfte an die Scheibe, was das Zeichen für Türen schließen war. Mit einem schnellen Reflex drückte Albert auf den Türschließschalter, der gleich rechts neben dem Fahrschalter angebracht war. Dann gab Karl-Heinz den Abfahrauftrag der Bahnhofsaufsicht weiter, indem er auf den Summer drückte. Albert drückte den Fahrschalterknopf, und der Dreiviertelzug der Baureihe 167 setzte sich mit dem typischen Ööööhhh-Laut aller Berliner S-Bahnen in Bewegung. Währenddessen hatte sich Karl-Heinz in die offene Begleitertür geschwungen und behielt nun den Bahnsteig im Auge, um seinem Triebwagenführer eventuelle Vorkommnisse weiterzugeben und ihn notfalls anhalten zu lassen.

»So ’n Quatsch«, sagte Karl-Heinz. »Bei die Dunkelheit siehste doch sowieso nischt mehr.«

Obwohl die verschärfte Verdunkelungsverordnung erst in den nächsten Wochen in Kraft treten sollte, waren schon jetzt alle entbehrlichen Lampen abgeschaltet worden. Nicht nur, um den anfliegenden Bombern kein Ziel zu bieten, sondern auch, um Strom zu sparen. Zu diesem Zweck hatten sie auch eine besondere Signaltafel auf den Stromschienenkästen befestigt, die Albert und seine Kollegen aufforderte, das Triebfahrzeug auszuschalten. Als hätte er nicht selber gewusst, wann sein Zug die Streckengeschwindigkeit erreicht hatte.

»Ich hab auf jedem Bahnhof Angst, dass mir die Leute vor ’n Zug fallen«, sagte Albert. »Diese Verdunklung, nee …«

»Oder zwischen die Wagen, weil se die Lücke für ’ne Tür jehalten ham.«

Die Zielrichtungsschilder zeigten nur noch ein düsteres Blau, und insbesondere die älteren Leute, die nicht mehr richtig hören konnten, bemerkten die herannahenden Züge oftmals zu spät. Und die Jüngeren sprangen manchmal aus den Zügen, bevor diese überhaupt in den Bahnhof eingefahren waren, oder sie verließen den Zug auf der falschen Seite. Kein Wunder, wenn man nichts mehr richtig sehen konnte. Kamen jene Menschen hinzu, die leichtfertig die Gleise überquerten, um eine Abkürzung zu nehmen. Ganz zu schweigen von denen, die Selbstmord begingen.

Albert stöhnte auf. »Ja, so ’n S-Bahn-Zug ist schon ’n richtiges Mordinstrument geworden. Ich warte nur noch auf die Sekunde, wo wir mal einen erwischen.«

»Beschrei’s mal nich!«, warnte Karl-Heinz. Alberts größte Angst aber war, dass sich Emmi einmal das Leben nehmen würde, sich vor seinen Augen von der Bahnsteigkante löste, um in den Tod zu springen. Nicht nur, dass sie ihren Bruder schon ins KZ gebracht hatten, auf ihre beiden jüdischen Freundinnen wartete noch Schlimmeres. Er kam mit seinen Zügen mehrmals in der Woche an den Bahnhöfen vorbei, auf denen sie die Transporte zusammenstellten.

Mit Karl-Heinz konnte man reden. Schon ihre Eltern hatten sich gekannt. Aus der Arbeitersportbewegung, dem ASV Fichte Berlin, der zur Kampfsportgemeinschaft Rot-Sport gehört hatte und 1933 aufgelöst worden war.

»Wie soll das bloß mal enden?«, fragte Albert.

»Det se uns alle so zermantschen, wie ick die Mücke hier!« Karl-Heinz machte es ihm vor. »Entweder die Nazis selber oder die Alliierten, weil wa für die alle Nazis sind. Ooch, wenn wa in Wahrheit keene sind. Wie soll ’n die det aus’nanderhalten, wenn se da oben in ihre Maschine sitzen?« Er zeigte zum Himmel hinauf.

Albert musste sehen, dass er wieder auf andere Gedanken kam. »Was gibs’n für neue Witze?«

»Sechs Monate KZ.« Sie lachten, und Albert sagte, dass ihm, wenn er an diese Reaktion denke, immer das Experiment mit dem Frosch einfiele.

»Welchet mit ’m Frosch?«

»Na, sie setzen ihn in einem Labor in einen großen Topf mit Wasser, stellen den auf eine Herdplatte und schalten die ein. Der Frosch könnte schon noch herausspringen und sich retten, aber er will mal sehen, wie lange er es in dem immer heißer werdenden Wasser aushalten kann …«

»Und?«

»Er passt sich den veränderten Verhältnissen so gut an, dass er schließlich verdampft.«

Sie schwiegen, weil sie beide fühlten, dass sie eigentlich viel zu wenig taten, um die Dinge aufzuhalten. Ganz im Gegenteil.

Albert musste sich auf das Bremsen konzentrieren.

360 Tonnen aus 80 Kilometern in der Stunde auf den Meter genau ruckfrei zum Halten zu bringen, das erforderte schon eine ziemliche Meisterschaft. Kein Fingerspitzengefühl, obwohl die Hand das Führerbremsventil zu betätigen hatte. Das richtige Bremsgefühl saß im Hintern. Je nachdem, wie man mit dem auf dem Sitz ins Rutschen kam, hatte man das Bremsen zu dosieren. Und das war jedes Mal anders und hing davon ab, ob die Schienen trocken oder glitschig waren, ob man nur wenig Fahrgäste in den Abteilen hatte oder ganze Menschentrauben.

Albert schaffte es in dieser Nacht nicht immer, genau am weißen H auf schwarzem Grund zu halten, dazu war das Licht zu schlecht, die Haltetafel oftmals nur zu ahnen.

»Kampf der Neger im Tunnel«, sagte Karl-Heinz. Schlesischer Bahnhof, Warschauer Straße, Ostkreuz, Rummelsburg. Es war eine monotone Fahrt durch die Nacht, und sie wurden immer müder.

Als sie am Betriebsbahnhof Rummelsburg hielten, warf Albert einen Blick nach links, wo sich das Laubengelände weit nach Karlshorst und Friedrichsfelde zog. Ob Emmi schon schlief? Oder wieder nicht einschlafen konnte. Aus Angst vor dem Tier, das um die Laube schlich. Aus Angst, dass Berthold erschossen wurde. Aus Angst vor den Bomben. Er fragte Karl-Heinz, was denn nun die neuesten Witze seien.

»Der Führer kommt in ’ne Stadt, und kleene Mädchen steh’n da, mit Blumen inne Hand. Eene aba is dabei, die hält dem Führer ’n Grasbüschel hin. ›Was soll ich denn damit tun?‹, fragt Hitler.

›Essen‹, antwortet die Kleene.

›Wieso denn das?‹

›Weil die Leute jeden Tag sagen: Erst wenn der Führer ins Gras beißt, kommen bessere Zeiten.‹«

Von den Witzen wechselten sie zum Fußball über und schwärmten vom 3:2-Sieg ihres 1. FC Neukölln über Tennis Borussia, ohne sich einigen zu können, ob sich dieses historische Ereignis nun 1931 oder 1932 zugetragen hatte.

»Jedenfalls hieß der Torwart von Tennis Butterbrodt.«

»Und unser Mittelstürmer Skorzus.«

»Skorzus mit seinem Torschuss.« Vor ’33, vor dem Krieg. Alles Leben zerfiel für sie in die Zeit davor, die immer mehr etwas Paradiesisches gewann, und das Jetzt, das immer mehr zum Alptraum wurde.

»Die englischen Flieger sollen jetzt sogenannte Brandplättchen einsetzen«, sagte Albert. »Die werden abgeworfen und fangen Feuer, wenn sie mit Sauerstoff in Berührung kommen. Stichflammen von einem Meter Höhe.«

»Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen«, sagte Karl-Heinz und sprach dann davon, wie er noch Karriere bei der Deutschen Reichsbahn machen wollte. Vom Betriebsarbeiter im Bw Rummelsburg hatte er es über den Aushilfsschaffner bis zur Planstelle als Triebwagenschaffner gebracht. »… ’45 mach ick dann ’n Führerlehrjang …«

»Wenn du vorher nicht eingezogen wirst«, kommentierte Albert. Er war denselben Weg gegangen, hatte aber jede freie Minute genutzt, um sich selber fortzubilden. Seine Großmutter kam aus einem sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein und hatte ihm den Floh Diplom-Ingenieur in den Kopf gesetzt. »Wenn der braune Spuk vorbei is, dann studierste.«

Sie erreichten Erkner, und Albert war so unkonzentriert, dass er fast den Prellbock gerammt hätte. Er erschrak. Wenn das passiert wäre, hätten sie ihm womöglich noch Sabotage unterstellt und ihn ins KZ gebracht. Er wusste, dass seine ganze Sippe auf der Abschussliste stand.

Albert zog den Fahrschalterschlüssel ab und griff sich seine abgewetzte schwarze Aktentasche. Sie hatten jetzt ein paar Minuten Pause, um sich ein wenig die Beine zu vertreten, pinkeln zu gehen und sich dann im Führerstand am anderen Ende des Zuges auf die Rückfahrt einzurichten.

Um 23 Uhr 14 bekamen sie den Abfahrauftrag. Erkner, Wilhelmshagen, Rahnsdorf, Friedrichshagen, Hirschgarten, Köpenick, Wuhlheide, Karlshorst … und so weiter. S-Bahn-Fahrer sein, das war wie Rosenkranzbeten. »Da musste ’n Jemüt ham wie ’ne Weihnachtsgans«, wie Karl-Heinz immer wieder betonte.

Sie kamen auf ihr großes Idol zu sprechen, Hanne Sobeck von Hertha BSC.

»Weeßte noch, wie se det erste Mal Deutscha Meista jeworden sind: 1930, det 5:4 jegen Holstein Kiel in Düsseldorf.«

»Ja, und wie der Sobeck erzählt hat, was er zu Hause immer für Keile von seinem Vater bekommen hat … Da hat mein Vater mich auch noch mal tüchtig verdroschen, obwohl ich schon fast zwanzig war. ›Solange du noch deine Beine unter meinem Tisch hast …‹«

»Meina imma mit ’m Siebenstriemer …« Das war eine Hundepeitsche. »Bis ick jeblutet habe wie ’ne Sau.«

Albert schwieg. Wer seine Kinder schlug und wer als Kind geschlagen wurde, der erschlug auch Menschen. Er wusste es: Das Mördertier, das steckte auch in ihm. Wie in allen Männern. Die Frage war allein, ob man stark genug war, es zu bändigen. Nein, ob andere einen dazu brachten, es rauszulassen.

»Friedrichshagen.« Hier hielten sie immer ein paar Sekunden länger, weil Karl-Heinz ein wenig Süßholz raspeln musste. Sie hieß Elisabeth Bendorf, und Albert neckte seinen Schaffner des Öfteren mit dem schönen Schlager: »Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt …« Betti saß zwar unten am Fahrkartenschalter, kannte aber ihren Umlaufplan und kam schon mal eben schnell nach oben auf den Bahnsteig, wenn sie in Friedrichshagen hielten. Heute Nacht aber war sie ein paar Sekunden zu spät. Karl-Heinz sah sie nur schemenhaft im Abgang auftauchen, als die Aufsicht schon aus ihrer Bude trat. Ehe sie sich ein paar Scherzworte zurufen konnten, hatte die Aufsicht schon die grüne Fliegenklatsche gehoben. Der Abfahrauftrag. Weiter.

»Köpenick.« Als Karl-Heinz auf dem Bahnsteig stand, um auf den Abfahrauftrag zu warten, kam eine junge Frau auf ihn zu. Sie war auffallend schmächtig, aber so attraktiv, dass Karl-Heinz gerne seinen Dienst verlassen hätte, um mit ihr einen flott zu machen. Sie hatte sich offenbar in der Länge des Zuges verschätzt und viel zu weit vorne gewartet.

»Wo ist denn hier die 2. Klasse?«

»Weita hinten. Aba da is imma so leer. Fahr’n Se lieba Dritta.«

»Kann ich nicht bei Ihnen mitfahren?«

Karl-Heinz lachte. »Det is leida bei Todesstrafe verboten.« Er sah der jungen Frau hinterher. Sogar bei der Funzel von Lampe oben am Dach war zu sehen, dass sie sehr schöne Beine hatte. Karl-Heinz wartete mit dem Klopfen an die Scheibe, bis sie wirklich eingestiegen war.

Das Fräulein mit den schönen Beinen ließ Karl-Heinz die strammen Fußballerwaden vergessen, und statt von Sobeck schwärmte er nun vom Hotten.

»Niggerjazz, det is, wo de die Nazis am meisten mit ärgern kannst.« Und dann erzählte er Albert, wie er im März ’40 bei dem großen Tanzabend der Swing-Jugend im Hamburger Curiohaus teilgenommen hatte. »Jetzt will die Gestapo det allet vabieten.«

Als sie in Wuhlheide hielten, wäre Karl-Heinz am liebsten den Zug entlanggelaufen, um die junge Schöne noch einmal zu sehen. Morgen konnte er schon bei der Wehrmacht sein, übermorgen tot, da galt es, jede Chance zu nutzen, noch mal eine Frau zu haben. Schnell hinlaufen und sich mit ihr verabreden. Sie schien der Typ dafür zu sein. Alles mitnehmen, bevor die Welt in Scherben fiel.

Quatsch, Dienst war Dienst. Aber so schnell kam er nicht mehr von ihr los. Vielleicht sah er sie beim Aussteigen noch einmal wieder. Schon ein paar hundert Meter vor Karlshorst zog er seine Fensterscheibe nach unten und steckte den Kopf in den Fahrtwind raus. Die Wolken waren aufgerissen, der Mond brach hervor. So war plötzlich eine ganze Menge zu erkennen.

Karl-Heinz schrie auf. Ein Schatten, eine große Puppe flog auf das Gegengleis. »Da haben se eene aus ’m Zug jeschmissen!«