Skandal um Zille

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»Das verbitte ich mir!«

»Pardon, das war nicht auf Sie bezogen.«

»Ich will was Gruseliges hören.«

Heinrich Zille muss nur kurz überlegen. »Dann erzähle ich Ihnen, wie schlimm es einem Mann ergehen kann, der in Berlin zu Besuch ist. Ein Landsmann von mir, der sächsische Geheimschreiber Conrad Schütz, gehört zum Gefolge von Rudolf II. und dem Erzbischof von Magdeburg und ist dienstlich unterwegs. Als eingefleischter Lebemann will er sich natürlich in Berlin ein kleines Abenteuer nicht entgehen lassen, und so schlendert er an der Mühlendammschleuse vorbei zum Krögel, wo sich zwei Badestuben befinden. Da begegnet ihm eine schöne Bürgersfrau, und er fordert sie auf, mit ihm in den Badezuber zu steigen. Die ist entsetzt über diesen unsittlichen Antrag, schreit auf und läuft davon. Die Berliner sind so zornig, dass sie zum Rat laufen und die Bestrafung des auswärtigen Sittenstrolchs fordern. Conrad Schütz speist gerade zu Mittag, als ihn die Schergen ergreifen und vor Gericht bringen wollen. Doch den aufgebrachten Bürgern dauert das zu lange, sie schleppen Schütz zum Neuen Markt, wo er ohne großes Federlesen geköpft wird.«

Die Ehefrauen grinsen schadenfroh, während den unternehmungslustigen Männern in der Gruppe gar nicht zum Lachen zumute ist.

»Immer geht es gegen die Männer«, findet der Hamburger. »Was haben die Berliner denn an mordenden Frauen zu bieten?«

Heinrich Zille schmunzelt. »Zum Beispiel die Anna Maria aus der Stralower Straße. Die hat sich – 1675 muss es gewesen sein – im Hause des Bäckermeisters Peter Baumen hinter dessen Bett versteckt, um ihm in der Nacht mit einem langen Messer die Kehle durchzuschneiden. Doch der Bäcker erwacht rechtzeitig und kann um Hilfe rufen. Sein Geselle und eine Magd retten ihn und machen Anna Maria dingfest. Am 12. Januar 1676 wird sie vor dem Berlinischen Rathaus enthauptet. Aber damit nicht genug – zu anatomischen Zwecken wird ihr auch noch die Haut abgezogen.« Zille hält inne, weil er das Gefühl hat, dass diese Geschichten für die empfindsamen Gemüter unter den Zuhörern doch ein bisschen zu arg sind. Deshalb ist er froh, als ein Ehepaar aus Zwickau nun fragt, ob man nicht nach Stralow fahren könne, um das Schloss zu sehen, das in Die Bauernfänger von Berlin eine so große Rolle spiele.

Zille ist ein wenig verlegen, denn dieses Schloss ist eine Erfindung der Romanschreiber. Er fällt sogar kurz ins Sächsische zurück. »Was da in dem Roman drinne steht, das geht in geenen Zergus ’nein, und Stralow is änne Reese nich wert. Die haben nur ein herrschaftliches Gemäuer mit einem Park herum, eben das Romanhaus.«

»Wir wollen trotzdem nach Stralow.«

»Gut, dann gehen wir zum Molkenmarkt und nehmen einen Torwagen«, schlägt Zille vor.

»Wir wollen lieber in einer Droschke fahren.«

»Die Droschken dürfen nicht aus der Innenstadt raus.«

»Bleedsinn! Mach geeh grohses Gesummsä!« Der Zwickauer winkt eine gerade vorüberfahrende Droschke herbei, und der Kutscher ist bereit, die Innenstadt trotz des Verbots zu verlassen.

Zille freut sich und berlinert nun ganz spontan. »Det is ja prima, denn kann ick Ihnen ooch jleich mal die Jaststube von dem Julius Tübbecke zeijen, die is nehmlich einmalich uff da Welt!«

13

Juni 1870 — Wirtshaus von Julius Tübbecke in Stralow

Heinrich Zille steht mit der Mehrzahl der Berlin-Besucher, mit denen er eben am Brandenburger Tor war, in der Gaststube. Deren Besonderheit sind die Kupferstiche, Lithographien und Malereien, die an den Wänden hängen.

»Das ist alles auf meinem Mist gewachsen«, erklärt Julius Tübbecke seinen Gästen. »1843 hab ich meine Prüfung vor der Kunstakademie abgelegt und wollte Maler werden, so einer wie Anton von Werner. Aber sie haben mir nur eine mittelmäßige Begabung bescheinigt, und aus mir ist nichts geworden – außer Wirt.«

Zille hat sich die Schöpfungen Tübbeckes mit großen Augen angesehen und ruft nun: »Ich finde die Bilder herrlich! So möchte ich auch mal malen können. Besonders schön ist dieses hier.«

Tübbecke lacht schallend. »Das ist ja auch von Theodor Hosemann.«

Wie peinlich! Heinrich Zille läuft rot an und möchte am liebsten im Boden versinken.

Die Gäste setzen sich und bestellen Potsdamer Stange, Spree-Athener oder Weiße mit Himbeer, der Droschkenkutscher lässt sich zu einem Glas Gilka einladen.

Tübbecke erläutert das Stralower Wappen und wird gefragt, ob er auch Fischer sei.

»Ja, das auch, vor allem bin ich aber Leichenfischer. Selbstmörder kommen von weit her, um sich zwischen der Liebesinsel drüben am Treptower Ufer und unserer Stralauer Kirche in der Spree zu ertränken. Im Leichenhaus neben der Kirche liegt immer ein Gefischter zum Abholen.« Er blickt wohlwollend zu Heinrich Zille hinüber, wird aber ein wenig spöttisch. »Wenn du einen Gefischten naturgetreu abzeichnen kannst, wirst du die Aufnahmeprüfung an der Akademie der Künste ohne Mühe bestehen.«

»Lieber zeichne ich Leute, die ins Wasser gehen, um zu baden, und nicht, um sich das Leben zu nehmen.«

»Am besten, du machst beides, mein Junge.«

14

Anfang 1872 — Klassenraum in einer Volksschule

Der Lehrer, ein strammer Preuße, sitzt vorn auf dem Katheder. Auf seinem Tisch liegt ein Stapel Zeugnisse. Er hebt an zu einer feierlichen Rede. »Meine lieben Jungen! Eben hat es geläutet, und damit ist euer letzter Schultag angebrochen. Früher hätte man gesagt, dass ihr nun ins feindliche Leben hinaustreten müsst, heute aber entlassen wir euch in ein freundliches Leben, denn nach dem glorreichen Sieg über die Franzosen haben wir Deutschen nun ein einig Vaterland und einen Kaiser, unseren Wilhelm I., der Tag für Tag bis in die späte Nacht hinein an seinem Schreibtisch sitzt und arbeitet, um uns allen eine rosige Zukunft zu bescheren. Wir erheben uns jetzt zu einem dreifachen Hurra!«

Die weit über dreißig Knaben fahren von ihren Bänken hoch und schreien ihr Hurra heraus.

»Danke! Setzen! Nun will ich euch der Reihe nach fragen, bei wem ihr in die Lehre geht.«

Einer nach dem anderen steht auf und antwortet dem Lehrer. Viele Berufe werden genannt, vom Schlosser bis zum Bäcker, und alle Jungen sind fröhlich – nur Heinrich Zille nicht. Der druckst herum, als er an der Reihe ist.

»Ich möchte so gerne Zeichner werden, aber ich muss Fleischer lernen. Meine Mutter will es so.«

Er hasst den Anblick der Fleischersfrau mit ihrem blutverschmierten Kittel und ihren Wurstfingern, und er leidet, wenn er bei seinen Wanderungen durch Berlin die Schweine, die zur Schlachtbank geführt werden, fürchterlich quieken hört.

»Das kann ich gut verstehen«, sagt der Lehrer. »Schrecklich, wenn man den Tieren mit dem Messer die Kehle durchschneidet und sie dann mit dem Beil zerhackt!«

Zille stehen Tränen in den Augen.

15

März 1872 — Fleischerei

In einem sehr unappetitlichen Schlächterkeller ist ein totes und in der Mitte aufgetrenntes Schwein an den Hinterbeinen aufgehängt. Der Fleischermeister ist dabei, die Haut herunterzuschneiden, Heinrich Zille sieht angewidert zu.

»Aus der Haut kannste noch Leda machen«, sagt der Fleischer.

»Nüscht wird wegjeworfen. Haste vastanden?«

»Ja«, presst Zille hervor.

»So, nu jeht et an’t Entweiden«, fährt der Meister mit seinen Erklärungen fort. »Dabei is eens det Wichtichste: Von der Scheiße, die noch im Darm drin is, darf nüscht an’t Fleisch ran, sonst kannste dit in Müllkasten schmeißen, det kooft keena mehr.«

»Ja.« Mehr bringt Zille noch immer nicht hervor.

»Du kümmerst da jetzt um die Blutwurscht, los ab!«

Zille tritt an eine riesengroße Schüssel, die mit breiigem Blut gefüllt ist. Ekel steigt in ihm auf, aber er überwindet sich und geht zu einem Tisch, auf dessen rissiger Holzplatte ein großes Stück Speck und gegarte Schwarten liegen. Daneben sind alte Schrippen angehäuft. Er nimmt nun eine Reibe und macht aus den Schrippen Paniermehl, das er in das Schweineblut schüttet. Danach zerkleinert er Speck und Schwarte und wirft sie in die Schüssel.

»Imma wieda umrühr’n!«, ruft der Meister.

Zille rührt – und muss sich erbrechen. Mit der Hand vor dem Mund stürzt er durch eine offenstehende Tür in den Hof hinaus.

16

März 1872 — Wohnung des Zeichenlehrers Spanner

Spanner sitzt am Tisch und studiert Skizzen von Leonardo da Vinci. Dabei schläft er ein. Als an seinem Klingelzug gerissen wird, schreckt er auf und ist über diese Störung alles andere als erfreut. Er hinkt zur Tür.

»Wer ist denn da?«

»Heinrich Zille«, kommt es vom Treppenhaus her.

»Du? Es ist doch gar kein Unterricht heute.«

»Nein, aber Sie müssen mir helfen, lieber Herr Spanner, Sie sind meine letzte Hoffnung.«

»Na, dann immer rein in die gute Stube.«

Spanner öffnet die Tür und lässt Heinrich Zille eintreten. Nachdem sie sich die Hände geschüttelt haben, führt er den Vierzehnjährigen zu den Plätzen, die sie beide in den Unterrichtsstunden immer einnehmen.

»Dann fang mal an, mir dein Herz auszuschütten. Obwohl …« Spanner winkt ab. »Ich kann mir ohnehin schon denken, um was es geht. Um deine Lehre als Fleischer …«

Zille nickt. »Ich habe geholfen, ein Tier zu töten. Ich habe es zur Schlachtbank geführt und festgehalten. Ich will kein Schlächter werden! Ich kann kein Blut sehen!«

Spanner steht auf und legt seinen Arm um die Schulter des Jungen. »Ach Heinrich, du bist mir ans Herz gewachsen, und ich kann dich nicht leiden sehen. Du hast Talent zu ganz was anderem als zum Schweineschlachten. Komm, ich rede noch einmal mit deinen Eltern.«

 

Er holt sich seine Stiefel, zieht die Jacke über, setzt einen alten Filzhut auf seinen nahezu kahlen Kopf und geht zur Tür.

17

März 1872 — Wohnung Kleine Andreasstraße Nr. 17

Anton Spanner sitzt bei Zilles Eltern in der mittlerweile schon wesentlich besser ausgestatteten Stube. Statt der Strohsäcke gibt es richtige Betten, und ein sehr solide gearbeiteter Tisch hat den großen Pappkarton ersetzt. Seit Traugott Zille als Mechaniker bei Siemens & Halske Arbeit gefunden hat, ist er ein ganz anderer Mensch geworden, und auch Ernestine Zille erscheint inzwischen als akzeptable Bürgersfrau.

»Wir sitzen jetzt in der Friedrichstadt, an der Ecke Markgrafen- und Charlottenstraße«, erzählt Traugott Zille dem Zeichenlehrer seines Sohnes. »Wir bauen nicht nur Zeigertelegraphen, sondern auch eine Telegraphenlinie nach der anderen. Zuletzt haben wir sogar ein Atlantikkabel verlegt. Und seit Werner Siemens das dynamoelektrische Prinzip entdeckt hat, fangen wir mit dem Bau von Generatoren an.«

Spanner nickt. »Das hört sich gut an, da kann man Ihnen nur gratulieren, Herr Zille. Ich erinnere mich noch gut daran, was die Leute bei Borsig 1848 gerufen haben: Wir sind keine Proletarier, wir sind Maschinenbauer! Heute kann man hinzufügen: Auch die Mechaniker von Siemens & Halske gehören zum Adel des Arbeiterstandes. Und Sie wissen doch, liebe Frau Zille, lieber Herr Zille, noblesse oblige

»Bitte?«

»Adel verpflichtet.« Spanner versucht, so gewinnend wie möglich zu lächeln. »Damit meine ich, dass es weit unter Ihrem Stand ist, Ihren Sohn Fleischer lernen zu lassen … Alles blutig, alles eklig.

Das hat Ihr Heinrich nicht verdient. Sein zeichnerisches Talent zu verschleudern, würde ich fast in die Nähe einer Todsünde rücken. Ich flehe Sie an, schicken Sie ihn in die Lithographielehre. Da sitzt er in einer warmen Stube, friert nicht an Händen und Füßen, bekommt keine schmutzigen Finger und trägt Kragen und Schlips. Er wird mit Sie angeredet und geht pünktlich um viere nach Hause. Lithographen sind begehrte Leute und werden mehr als gut bezahlt, denn überall werden neue Mietshäuser hochgezogen, und jede kahle Wand will mit einem bunten Druck behängt werden. Kurz gesagt, ich habe mit einem Lithographen in der Alten Jakobstraße gesprochen, und wenn Sie zustimmen, dann kann Ihr Sohn am 1. April bei Fritze Hecht anfangen.«

18

April 1872 — Hecht’sche Werkstatt in der Alten Jakobstraße

Fritz Hecht geht durch seine nicht eben große Werkstatt und schaut seinen Gesellen und dem neuen Lehrling bei der Arbeit zu. Schon fertig oder noch im Entstehen sind Öldrucke mit frommen Motiven wie Heiligenbildern, Madonnen mit blutendem Herzen oder Jesus am Kreuz sowie die Bildnisse deutscher Heerführer und Fürsten, allen voran des Kaisers Wilhelm I. Ein Geselle bedient eine imposante Handhebelpresse.

Heinrich Zille steht an einem Arbeitstisch und ist dabei, für ein medizinisches Werk mit der Feder den Beinstumpf eines Kriegsveteranen auf ein Blatt Transparentpapier zu zeichnen.

»Weeßte eijentlich, warum die Lithographie so heißt, wie se heißt?«, fragt ihn der Meister.

»Nee …«

»Det kommt von lithos. Det is Jriechisch und bedeutet Stein. Und wer hat den Steindruck afunden?«

Wieder muss Zille passen. »Tut ma leid, keene Ahnung.«

»Det war der Alois Senefelder.« Hecht nimmt aus einem Regal einen Lithographiestein und hält ihn Zille hin. »Wo jiebtet die besten Steene? In Solnhofen. Wat Besseret als den Solnhofer Plattenkalk findste uff da janzen Welt nich. Schön jraublau mussa sein. Und weil die Steene so teua sind, schleifen wa se, wenn allet jedruckt is, imma von Neuem ab und verwenden se wieda.«

Zille nickt. »Det hab ick jestern schon machen müssen.«

»Jut.« Hecht nimmt nun das Blatt mit dem Beinstumpf hoch und betrachtet es sorgfältig. »Janz ausjezeichnet. Wie in natura. Ick war bei den Düppeler Schanzen dabei, ick weeß, wie sowat uff’n Schlachtfeld aussieht. Und wie kriejen wa nun deine schöne Zeichnung uff den Stein hier ruff?«

Zille überlegt einen Augenblick. »Ich reibe die Rückseite von mei’m Transparentpapier mit Graphit ein und übertrage meine Zeichnung seitenverkehrt auf den Stein. Dann nehme ick die Stahlnadel und ritze die Konturen auf dem Stein so ein, det allet jut sichtbar is. Danach nehm ick die Tusche und …«

Der Meister hebt die Hand. »… und fang ma vorja noch ’ne Maulschelle ein!«

Zille zieht unwillkürlich den Kopf ein. »Wieso’n ditte?«

»Weil du mit deinen fettigen Pfoten oben auf den Stein gefasst hast. Da nimmta doch nu keene Tusche mehr an!«

Zille gibt sich zerknirscht. »Vastehe.«

»So, wat machste nu, wenn de dia mal uff dem Stein ’n bisschen vazeichnet hast? Dann nimmst den Schaber und korrigierst det. Und wenn de schummrige Überjänge ham willst, dann verreibst de die Kreide mit dem Wischer hier, dem Estompe, wie wir sagen. Aba det kann ick dia erst nach’m Frühstück zeigen, wenn ick wat jejen mei’m Durscht jetan habe. Mit anderen Worten, du jehst jetzt erst mal Bier holen. Und zwar im Orpheum, det is det Balllokal jenau unta uns. Die Kellna da vakoof’n dir wat.«

19

April 1872 — Balllokal Orpheum in der Alten Jakobstraße Nr. 32

Heinrich Zille betritt das volkstümliche Etablissement, in der Hand einen Siphon. Mehrere Kellner sind dabei, den Fußboden zu wienern und die großen Spiegel an den Wänden zu putzen. Dabei müssen sie über Männer und Frauen, oder besser gesagt, Kerle und Weiber hinwegsteigen, die noch volltrunken auf den Plüschsofas liegen. In einer der Nischen ist ein dickes Frauenzimmer zu sehen, auf dessen nacktem Gesäß drei Kellner einen Skat kloppen.

»Grand Hand!«, ruft einer von ihnen und lässt seinen Karo-Buben auf eine der rosigen Pobacken klatschen. »Die Kleinen sagen’s den Großen.«

»Na, Kleena, willste mitspielen?«, wird Zille gefragt.

Der ist nicht auf den Mund gefallen und grinst frech. »Ja, aba nur, wenn ihr die Dame andersrum dreht.«

»Wenn der Meister Hecht oben ein Bild davon druckt und wir das dann hier verkaufen dürfen …«

»Ick werd’s ihm sagen. Kann ick nu mein Bier kriegen?« Er hebt seine Siphonflasche hoch wie eine Fackel.

Doch die Kellner lassen sich Zeit, erst muss das Spiel zu Ende gebracht werden. Der Mann mit dem Grand wirft seine letzte Karte auf den »Tisch«.

»Das war’s. Grand Hand. Ohne 1, Spiel 2, Hand 3, mal 24, macht 72. Schreib mal uff, Paule!«

Zille ist so fasziniert vom Skatspiel, dass er den Platz des Kellners einnimmt, der jetzt aufsteht, um mit seinem Siphon in die hinteren Räume zu eilen.

»Weeßte denn, wie’t jeht?«, wird er gefragt.

»Ick bin doch nich von jestan.« Zille fährt mit der Hand über das entblößte Hinterteil der noch wie narkotisierten Dame und sammelt die Karten ein, um sie gekonnt zu mischen und zu verteilen.

20

April 1872 — Commandantenstraße und Dönhoffplatz

Morgengrauen. Berlin ist noch nicht erwacht. Heinrich Zille geht durch die weithin stille Commandantenstraße. Unerwartet tritt Fritz Hecht aus einem der Hausflure. Beide prallen zurück.

»Wat machst du denn hier?«, fragt Hecht. »Wollteste einbrechen bei mir?«

»Nee, ick wollte früh in der Werkstatt sein und üben, bevor et richtich losjeht. Und da dacht ick mir, ick jeh noch ’n bisschen spazieren, um mir die Jegend anzukieken und mitzukriejen, wo wat los is so in alla Herrjottsfrühe.«

»Warste denn schon uff’m Dönhoffplatz?«

»Nee.«

»Na, denn komm ma mit!«

Ein Einjähriger, mit dem Zille oft denselben Weg geht, kommt ihnen entgegen. Der Mann ist ebenso naiv wie eingebildet.

»Gehen Sie bloß nicht weiter!«, ruft Zille dem anderen schon von weitem zu.

»Warum denn nicht?«

»Ham Se nich jehört von dem Robert Koch? Dem is neulich ’ne Bazille ausjerückt, se soll sich noch hier in der Jejend rumtreiben. Die Bevölkerung is schon janz uffjeregt.«

Der Einjährige fährt zusammen. »’ne Bazille! Wie groß is se denn?«

»Inne Hunderter-Zigarrenkiste wird se jrade reinjehn.«

Daraufhin entschließt sich der andere zu einem erheblichen Umweg.

Hecht verzieht das Gesicht, grinst dann aber doch. Was er seinem Lehrling nun auf dem Dönhoffplatz zeigt, ist ein Stillleben ganz besonderer Art. Wie die Heringe liegen da Männer in den Hausfluren.

Zille erschrickt. »Sind die alle tot?«

Hecht lacht. »Nee, die sind schon jestan Abend jekommen und schlafen hier, damit se rechtzeitich zur Stelle sind, wenn nachher der Wochenmarkt losjeht. Det sind allet welche, die keen Zuhause ham und ’n bisschen wat vadienen woll’n.«

»Det müsste man ma zeichnen und drucken«, findet Zille. Hecht schüttelt den Kopf. »Det kooft doch keena.«

Während sie noch miteinander reden, kommen Schutzleute herbeigelaufen, um die Obdachlosen zu wecken und zu vertreiben. Wer nicht schnell genug aufsteht, den reißen sie an den Haaren hoch. Schmerzensschreie hallen über den Platz.

21

1874 — Wohnung Theodor Hosemann, Luisenstraße, am Neuen Tor

Der Kunstmaler, Zeichner, Illustrator und Karikaturist Theodor Hosemann hat sich in der Hauptstadt einen Namen gemacht. 1807 in Brandenburg an der Havel als Sohn eines königlich-preußischen Offiziers zur Welt gekommen, gilt er als vortrefflicher Chronist des biedermeierlichen Berlin. Bekannt geworden ist er auch als Illustrator der Schriften Adolf Glaßbrenners. Seit 1857 lehrt er als Professor an der Akademie der Künste, seit 1860 ist er dort auch Mitglied.

Hosemann, dessen Gesicht ein wenig an eine Seerobbe erinnert, hält Heinrich Zille eine Illustration zu Hänsel und Gretel hin. »Det zeichneste jetzt mal ab.«

Zille ist nicht übermäßig begeistert. »Das sieht ja fast so aus wie

’ne Lithographie.«

Hosemann lacht. »Keen Wunder, schließlich war ick mal Lithograph. Bei Arnz & Winckelmann in Düsseldorf hab ick jelernt und bin dann mit Winckelmann nach Berlin. 1828 muss det jewesen sin. Beim Verlag von Winckelmann in Berlin war ick Erster Zeichner, mit vierhundert Talern Jehalt im Jahr. Kannst mia ruhich als Vorbild neh’m. Oda hast schon eens?«

»Ja, den Hogarth.«

Hosemann ist darüber sehr amüsiert. So’n Zufall! »Hogarth war mein Name im ›Tunnel über der Spree‹. Det war so’n Literatenverein.«

»Jetzt sind aber Sie mein Vorbild geworden«, versichert ihm Heinrich Zille.

Hosemann winkt ab. »Nee, Junge, lass det lieba. Du musst rausgehen int Freie, uff die Straße raus, und selbst beobachten. Det is bessa als nachmachen. Für’n Vollblutzeichner liegt det Jlück in Berlin sozusagen auf der Straße.«

Zille ist unsicher, was seine Karriere als Künstler betrifft. Was muss er tun, um Erfolg zu haben? »Wenn ich Menschen richtig wiedergeben will, muss ich dann nicht auch auf die Königliche Kunstschule gehen?«

»Schaden kann det nüscht. Aba da kommste nur hin, wenn de vorher den Akademiefürschten jefragt hast.«

»Wen?«

»Den Anton von Werner.«

22

1874 — Atelier Anton von Werner in seiner Villa an der Potsdamer Straße

Anton von Werner ist 1843 in Frankfurt an der Oder geboren worden, hat an den Kunstakademien in Berlin und Karlsruhe studiert und sich in Paris inspirieren lassen. 1870 kam er durch die Gönnerschaft hochgestellter Persönlichkeiten am Ende des Deutsch-Französischen Krieges nach Versailles und erhielt dort den Auftrag, die Proklamation des Deutschen Kaiserreiches bildlich festzuhalten. Mit seinen detailgetreu gemalten Historienbildern sorgte er danach für Aufsehen. Man wählte ihn 1874 in die Preußische Akademie der Künste und machte ihn zum Direktor der Hochschule für die Bildenden Künste.

Wir sehen eingangs Anton von Werner vor seiner Staffelei. Die Leinwand vor ihm hat riesige Ausmaße, fast 4,5 mal 7,5 Meter. Nur wenige Figuren sind schon vollendet, das meiste ist nur mit schwarzer Kreide skizziert.

Ein Diener öffnet die Tür.

Der Maler fährt herum und gibt sich ungnädig. »Was ist denn, Franz?«

»Der Lithographielehrling Heinrich Zille wünscht Sie zu sprechen. Er hat sich angemeldet.«

 

»Soll hereinkommen.«

Heinrich Zille leistet dieser Aufforderung Folge. In der Hand hält er eine Mappe mit seinen Zeichnungen. Mit sichtbarer Hochachtung tritt er vor den Mann, der ihm als außerordentlich einflussreich geschildert worden ist. »Ich bitte die kleine Störung zu entschuldigen, Herr von Werner, aber Professor Hosemann meint, dass es unumgänglich sei, Ihre Zustimmung einzuholen.«

»Wozu?«

»Ich möchte die Aktzeichenklasse von Professor Domschke besuchen.«

Der Maler besinnt sich seiner Pflichten als Direktor der Hochschule für die Bildenden Künste. »Wie alt sind Sie denn, Herr …«

»Zille, Heinrich Zille, geboren am 10. Januar 1858 in Radeburg bei Dresden.«

»In Sachsen also!« Man sieht Anton von Werner an, was er denkt: Auch das noch! »Dann bist du gerade einmal sechzehn Jahre alt – und willst weibliche Akte zeichnen?«

»Meinetwegen auch männliche!«

Anton von Werners Miene verdüstert sich weiter. »Du hast dich hier in Berlin schon ganz schön assimiliert, alle Achtung.«

Zille weiß nicht, was »assimiliert« bedeutet, und redet weiter frisch von der Leber weg. »Was die Frauen betrifft, habe ich schon alles gesehen. Ich bin Lehrling in der Lithographiewerkstatt von Fritze Hecht in der Alten Jakobstraße und muss immer ins Orpheum gehen, um Bier zu holen.«

»Kunst sollte etwas Hehres sein«, murmelt Anton von Werner.

»Aber zeig mal her, was du schon alles gezeichnet hast!«

Zille holt seine Skizzenblätter hervor. Auf dem ersten sehen wir die Szene aus dem Orpheum, wo die Kellner auf dem entblößten Hinterteil einer voluminösen Dame ihre Skatkarten anhäufen. Von Werner hält das Blatt so, dass es genau vor seinem Genregemälde ins Bild kommt, das Die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal zu Versailles am 18. Januar 1871 heißen soll. Größer kann ein Kontrast nicht sein. Auf dem zweiten Blatt von Zille sind die Obdachlosen vom Dönhoffplatz zu sehen. Anton von Werner zieht die Augenbrauen hoch und kann es nicht fassen.

Zille verfällt nun ins Berlinische. »Ick hab nur det jemacht, wat Professor Hosemann mir jeraten hat: Ick bin uff de Straße jejangen und hab jezeichnet, wat ick jesehen hab. Und ick hab da draußen nich nur den Kaiser jesehn, wie er in seine Kutsche sitzt und die Linden runta fährt.«

Anton von Werner ist nachdenklich geworden. »Ich bin sicherlich ein sehr konservativer Mensch, aber in erster Linie bin ich durch und durch Künstler und möchte alle fördern, die etwas können.

Das Deutsche Kaiserreich braucht sie, um seine Geltung draußen in der Welt zu erhöhen. Sie sollen die Wirklichkeit abbilden und einem Realismus huldigen, der ebenso erhebend wie unterhaltend sein kann und erzählerische oder belehrende Elemente nicht scheuen muss, aber eines auf keinen Fall darf: schockieren. Wenn Sie mir versprechen, sich daran zu halten, dann haben Sie mein Plazet, zu Carl Domschke zu gehen.«

23

1874 — Zeichensaal in der Akademie der Künste

Anatomisches Zeichnen bei Prof. Carl Domschke, geboren 1812 in Berlin, was nicht zu überhören ist. In dem Unterrichtsraum gibt es keinen freien Platz mehr, Domschke schreibt mit schwarzer Kreide auf ein Schild WEGEN ÜBERFÜLLUNG GESCHLOSSEN und drückt es Heinrich Zille in die Hand.

»Det häng’n Se mal draußen an die Türe, det hier nich andauernd eena rinjekleckert kommt. Und Sie da …« Er zeigt auf einen Studenten, der kurz eingenickt ist. »Wenn Se nich mehr könn’n, dann setzen Se sich mit Ihr’m Brett uff de Treppe draußen und nehm nich die hoffnungsvollen Jünglinge hier die Plätze weg, die woll’n alle bald nach Italien, Schinkeln hintaher. Se könn’n sich ooch mein Buch koofen und zu Hause üben. Wegweiser für den praktischen Unterricht im Freihandzeichnen heißt det.« Er macht eine kleine Pause. »Wat denn, keena züscht ab? Na denn, danke, meine Herren.« Ein Pedell kommt in den Saal und trägt ein menschliches Skelett, einen Schädel und eine Reihe von Knochen herein, die er auf einem großen Tisch ausbreitet.

Johannes, Zilles Nachbar, beugt sich zu ihm hinüber. »Mal sehen, was Knochen-Domschke heute wieder zu bieten hat.«

Domschke rückt seinen goldenen Kneifer auf der auffallend rötlich gefärbten Nase zurecht und beginnt zu dozieren. »Wat ick Ihnen nu azähle, is nich allet von mir, sondern von Jottfried Schadow. Wie heißt sein Buch über die Lehre von den Proportionen?« Mehrere Studenten melden sich, er übersieht sie aber.

»Wenn’t keena weeß, will ick et Ihnen varraten: Polyclet oder Von den Maassen des Menschen nach dem Geschlechte und Alter. Erschienen issit zuerst 1834. Und wat is det Wichtigste daran? Der anjehende Künstla muss lernen, dem Jefühl wat entjejenzusetzen, so det er nich von ihm übamannt wird. Det Jejenjewicht is ein rationales Jerüst, det menschliche Knochenjerüst nämlich.« Er zeigt auf den Tisch mit den anatomischen Schaustücken. »So, denn ma ran an die Balken, die wa in unsam Körpa drin ham!«

Die Kunstschüler machen sich an die Arbeit. Heinrich Zille versucht sich an einem Schädel. Es dauert eine Zeit, bis er ihn aufs Papier bringt. Als er fertig ist, geht er mit seinem Blatt zu Domschke. Ein anderer Schüler drängelt sich vor. Er ist stolz auf die Unterarmknochen, die er gezeichnet hat.

Domschke aber verzieht das Gesicht. »Det sollen die Unterarmknochen sein? Ick seh da höchstens ’n paar kleene Baumäste, aber keene Knochen. Det machen Se man wieda weg!«

Nun ist Zille an der Reihe. Domschke betrachtet seine Bemühungen mit dem gewohnt kritischen Blick und kommt auch bei ihm zu einem wenig schmeichelhaften Urteil. »Det soll der Schädel sein? Hm, da ham se wohl eher ’n Selleriekopp jezeichnet. Det machen Se man wieda weg!«

24

1874 — Hinter dem Häuschen der Eltern in Rummelsburg

Nach Abzahlung ihrer Schulden haben sich Traugott und Ernestine Zille ein Baugrundstück in Rummelsburg, in der späteren Fischerstraße Nr. 8, kaufen können. Nun ist ihr bescheidenes Haus fertig geworden. Hinter dem sitzen sie in einem kleinen Gärtchen und trinken mit Heinrich und Fanny zusammen Kaffee.

»Ist das mit deinem Kunstunterricht nicht verschwendetes Geld?«, fragt ihn der Vater. »Was macht die Kunst? Sie geht Wasser saufen.«

Zille antwortet ihm in schönstem Sächsisch: »Es wärd sich schon zusammenläppern, nu ja, das Leben is doch scheen.«

Die Mutter ergreift das Wort. »Im nächsten Jahr geht deine Lehre zu Ende – und was machste dann?«

Zille gibt eine ausweichende Antwort. »Ach, weißte, man lernt nie aus.«

Der Vater wechselt lieber das Thema und zeigt auf das Häuschen. »Klein, aber mein.«

»Unser!«, verbessert ihn die Mutter.

»Du hast recht, aber das reimt sich nicht so gut.«

Die Mutter schwärmt: »In Rummelsburg haben wir es so gemütlich wie in Potschappel. Wie auf’m Lande ist es hier.«

Zille blickt sich um. »Aber langsam wird ringsum alles bebaut, ihr werdet viel Trubel haben. Na, nich umsonst heißt eua Kiez ja ooch Rummelsburg.«

Der Vater korrigiert ihn. »Der Name stammt vom Weinhändler Rummel. Der Johann Jakob Rummel hat die alte Meierei hier gekauft und ’n Wirtshaus draus gemacht, die Rummelsburg. Aber was willste mehr: Wir haben ’n schönen See und sogar ’ne Bahnstation, Stralow-Rummelsburg.«

»Prima, det allet.« Heinrich Zille freut sich mit den Eltern. »Wenn ick ma heirate, dann zieh ick ooch hierher.«

Die Schwester sieht ihn mit großen Augen an. »Aber ’ne Braut haste noch nich?«

»Nee, det komm noch. Vielleicht lerne ich eine beim Aktzeichnen kennen.«

Mutter und Schwester sind entsetzt, der Vater aber grinst. »Wo bleibt denn dann in der Hochzeitsnacht die Überraschung?«

Heinrich Zille muss ihm recht geben. »Da is wat dran. Dann zeichne ick doch lieba Männa.«

25

1875 — Hecht’sche Werkstatt in der Alten Jakobstraße mit angrenzendem Hof

Heinrich Zille steht an einer Steinhandhebelpresse und ist schwer beschäftigt. Fritz Hecht tritt zu ihm heran.

»Uff ’n Tach jenau ham wa den 31. März 1875, deine Lehrzeit jeht heute zu Ende. Ick würde dir zu jerne behalten, so jut, wie de bist, aba noch een’n Jesellen jiebt det Jeschäft nich mehr her. Tut ma leid … Wat willste nu machen?«

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