Der kalte Engel

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Kapitel 9

Albert Steinbock aus Cottbus, Witwer und gerade sechsundvierzig Jahre alt geworden, war mit Leib und Seele Polizist. Die Menschen brauchten eine Ordnung, wenn sie überleben wollten, und sie brauchten Männer, die darauf achteten, dass diese Ordnung auch eingehalten wurde. Leute wie ihn, Polizisten. Die waren genauso wichtig wie Ärzte. Die einen bekämpften die Krankheiten, die anderen das Verbrechen. Und Verbrechen waren nichts anderes als Krankheiten, Krankheiten des Volkskörpers. Sie gehörten ausgerottet. Also, ob Arzt oder Polizeiwachtmeister – ohne sie beide ging es nicht, und folglich sah sich Albert Steinbock als außerordentlich wichtiges und unentbehrliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft.

Umso schmerzlicher hatte es ihn getroffen, als er zu Beginn des Jahres 1949 in seiner Heimatstadt entlassen worden war. Man hatte in der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) beziehungsweise DDR mit der Reorganisation der Polizei begonnen, in deren Folge alle die Polizisten ihren Dienst quittieren mussten, die nahe Angehörige in den Westzonen hatten oder während des Krieges zufällig in amerikanische, britische oder französische Kriegsgefangenschaft geraten waren. Und Steinbock hatte Sohn und Schwiegertochter im Westen, in Berlin-Charlottenburg. Außerdem war er altes SPD-Mitglied und hatte sich geweigert, die Zwangsvereinigung mit den Kommunisten mitzumachen. »In die SED – nur über meine Leiche.« Bei den Machthabern in der Zone war er aber auch auf die Abschussliste geraten, weil er sich im Frühsommer 1948 geweigert hatte, das sogenannte Volksbegehren der SED »Für Einheit und gerechten Frieden« zu unterstützen. Aber dass sie einen so verdienten und sachkundigen Mann wie ihn einfach auf die Straße setzen würden, hatte er trotz allem nicht erwartet. Was nun? Wenn er nicht mehr Polizist sein durfte …

»Dann nehme ich mir das Leben.« Sein Sohn hatte ihn angeschrien: »Vater, das ist doch ganz einfach: Dann packst du eben deine Sachen und kommst zu uns.« Was Albert Steinbock dann auch getan hatte. Obwohl man ja eigentlich alte Bäume nicht verpflanzen sollte. Über verschiedene Kontakte war er als Wachtmeister bei der West-Berliner Polizei untergekommen. Und da wollte und musste er sich nun beweisen. Was gar nicht so einfach war …

Seit 1948 war ein heftiger Machtkampf um den Einfluss in der Berliner Polizei entbrannt. Während die Westmächte demokratische Strukturen anstrebten und das Modell von 1932 wiederbeleben wollten, war die Polizei in der DDR als Machtinstrument der SED gedacht und sollte daher in stalinistischer Art und Weise organisiert werden, also straff zentralistisch und mit militärischen Befehlsstrukturen. Im Berliner Alltag wurden die beiden so unterschiedlichen Prinzipien sehr schnell an den Namen zweier Männer festgemacht: Paul Markgraf stand für den Osten, Dr. Johannes Stumm für den Westen. Die Polizei Ost residierte in der Dircksenstraße nahe Alexanderplatz, die Polizei West in der Friesenstraße am Zentralflughafen Tempelhof. Und es war durchweg so, wie es Der Morgen, in Ost-Berlin erscheinend, am 19. August 1948 in seiner Überschrift zum Ausdruck brachte: Gespaltenes Berlin – günstig für Verbrecher. Im Text hieß es dazu: Erschwert wird die Verfolgung der Verbrecher auch dadurch, dass einige westliche Kriminalkommissariate sich grundsätzlich weigern, Festgenommene der Dircksenstraße vorzuführen. Im Westen witterte man fast immer eine kommunistische Schurkerei, gab es doch eine Reihe spektakulärer Entführungen, und waren immer wieder politisch unliebsame Zeitgenossen plötzlich spurlos verschwunden. Die jeweils andere Polizei wurde für unrechtmäßig erklärt, und wer im fremden Sektor eine Amtshandlung begehen wollte, war auf der Stelle festzunehmen. Es herrschte Kleinkrieg zwischen den beiden Polizeipräsidien, und das Reizklima war schließlich derart ausgeprägt, dass der Ost-Berliner Kripochef prompt von der Stumm-Polizei verhaftet wurde, als er privat eine Boxveranstaltung in der Waldbühne besucht hatte.

Während also die Zuständigkeit der Polizei an den Sektorengrenzen endete, konnten die Gesetzesbrecher weiterhin in beiden Stadthälften agieren und sich darauf verlassen, dass sich die verfeindeten Polizeien auch noch Sand ins Getriebe streuten, zumindest aber die nötige Kooperation erschwerten oder verweigerten. Der Morgen kommentierte das so: Wenn sich früher ein schwerer Junge dem strafenden Arm entziehen wollte, musste er schon über den Ozean fliehen, und selbst dann war er nicht völlig in Sicherheit. Heute begibt er sich in den anderen Sektor, um das behagliche Gefühl des Geborgenseins auszukosten.

»Vater, musst du denn andauernd Überstunden machen?« Sein Sohn sah es gar nicht gern, wenn Steinbock noch spätabends durch die Trümmerlandschaft streifte, die sich zwischen Zoo und Knie erstreckte, um nach Männern zu suchen, die Buntmetalle klauten.

»Ich muss die Burschen haben, das bin ich mir selber schuldig.«

»Pass bloß auf.« Ortwin Steinbock war Journalist und wusste, dass es in der Stadt Menschen gab, die vor nichts zurückschreckten. Es war man gerade ein halbes Jahr her, dass man Werner Gladow und seine Bande nach einem Schusswechsel à la Al Capone im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain festgenommen hatte. Es galt als sicher, dass der Oberstaatsanwalt am Ende des Prozesses für Werner Gladow wegen zweifachen Mordes und einer Reihe anderer schwerer Straftaten die mehrfache Todesstrafe beantragen würde. Trotzdem – oder gerade deswegen – wurde Gladow in beiden Teilen Berlins zum heimlichen Helden. Es gab kaum Jungs in der Stadt, die nicht Gladow-Bande spielten.

Albert Steinbock lachte und spielte die Sache herunter. »Ich versteh’ immer Gladow … Heißt das nicht Kladow da unten an der Havel?«

»Immer deine Kalauer. Du hast doch gelesen, was ich über den Leichenfund am Stettiner Bahnhof geschrieben habe. Da ist wieder einer am Werke, der …«

Sein Vater winkte ab. »Einen Tod kann man nur sterben.« Damit machte er sich auf den Weg. Buntmetalldiebstähle waren an der Tagesordnung, denn an Blei, Kupfer und Messing ließ sich eine Menge verdienen. Besonders wenn man es im Osten klaute und im Westen verscheuerte. Aber auch hier in Charlottenburg war man nicht untätig. Überall, insbesondere in alten Kellern und auf leer geräumten Grundstücken, warteten Schrotthändler auf fette Beute. Steinbock hielt sie allesamt für Hehler. Und wenn sich in den Ruinen keine Bleirohre, keine Wasserhähne und Türklinken aus Messing und keine Fensterbretter aus Zinkblech mehr finden ließen, dann schlich man sich eben in die Häuser, die stehengeblieben waren, und machte sich dort mit Säge, Zange und Schraubenzieher zu schaffen. Dadurch hatten sie gestern in der Carmerstraße ein Haus unter Wasser gesetzt. Und wer bekam dann die Schuld für alles? Die Polizei. Er, Albert Steinbock also. Darum war er so verbissen darauf aus, sich die Burschen zu schnappen.

Und so drehte er auch am Abend des 9. Dezember 1949 wieder seine Runde. Hardenberg-, Schiller-, Schlüterstraße und so weiter. Gewissenhaft hatte er sich aufgeschrieben, welche Häuser in der Hardenbergstraße zerstört waren: 1 bis 5, 13 bis 15, 20 bis 21, 23 bis 24, 27 und 37 bis 42. Die Nummern 1 bis 5 waren die Häuser auf der südlichen Straßenseite zwischen Knie beziehungsweise Bismarckstraße und dem Renaissance-Theater an der Knesebeckstraße, das nur vergleichsweise geringe Schäden aufwies. Albert Steinbock war das egal, ob sie schon wieder und was sie dort spielten, er würde sowieso nie hineingehen. »Ich hab’ schon so genügend Theater.«

Er vermutete, dass die Buntmetalldiebe zu dritt unterwegs waren. Einer stand Schmiere, während die anderen beiden am Sägen oder Abschrauben waren. Es war auch günstig, wenn einer die Taschenlampe hielt oder, war man in Ruinen an der Arbeit, darauf achtete, dass einem nicht alles auf den Kopf fiel. War da eben ein Pfiff gewesen? Er war sich nicht ganz sicher, denn eine Straßenbahn rumpelte vorüber. Wenn, dann musste der Pfiff vom Eckgrundstück Schillerstraße 3 / Hardenbergstraße gekommen sein. Steinbock machte ein paar Schritte und blieb dann stehen, um das Objekt zu mustern. Der ganze Block war zerstört, doch die Trümmer des Vorderhauses waren bereits weggeräumt worden. Seitenflügel und Quergebäude standen aber noch – als Ruinen. Und die Parterrefenster und Kellereingänge waren immer noch nicht zugemauert worden, so dass jeder dort einsteigen konnte. Am Tage die Kinder und nachts das zwielichtige Gesindel, dem Steinbock Kontra bieten wollte. Wieder ein Pfiff? Schwer zu sagen, woher er, wenn überhaupt, gekommen war. Vielleicht von einem Studenten drüben an der Technischen Hochschule.

Oder doch vom Ruinengrundstück an der Ecke? In Albert Steinbock kämpften Jagdeifer und Eigensicherung miteinander. Der erste Antrieb war stärker. Also betrat er das Grundstück und ging mit vorsichtigen Schritten über die rissige Betonplatte wie über dünnes Eis. Jeden Augenblick konnte er einbrechen. Nein, natürlich nicht. Ein Blick nach oben. Die rußgeschwärzten leeren Fensterhöhlen. Ein schauriger Anblick. Er wartete nur darauf, dass die Geister in ihren weißen und wallenden Gewändern erschienen. Das Licht der ohnehin nur matten Laternen vorne auf der Hardenbergstraße reichte schon lange nicht mehr, und er knipste seine Taschenlampe an. Deren Strahl traf den Eingang zum Keller. Von dort her war ein schleifendes Geräusch gekommen. Eine Ratte? Ein Liebespaar, das sich davonschleichen wollte? Ein Landstreicher, der hier auf seiner Decke schlief? Oder aber »seine« Buntmetalldiebe. Alles war möglich.

Die Kellertreppe. Er wagte sich ein paar Schritte hinunter. Angst, ja, die hatte er, aber wer die Ardennen-Offensive überlebt hatte, der … Und dennoch schrie er jetzt auf. Denn vor ihm lag ein Toter. Nein, kein Toter, das hätte ihn nicht so zusammenfahren lassen, denn Tote hatte er viel gesehen, sondern nur der Rumpf eines Menschen. Mit einem Stückchen Hals. Kein Kopf mehr dran, keine Arme, keine Beine. Das war das Entsetzliche.

 

ZWEITER TEIL

Kunstgerecht zerlegt

Kapitel 10

Bernhard Bacheran hätte gleich um 4 Uhr morgens aufstehen sollen, als seine Mutter auf die Toilette gegangen war und dabei im Korridor die leeren Bügel heruntergerissen hatte. Es hatte gewaltig gescheppert, und natürlich war er hochgefahren. Ein Blick auf den Wecker: Noch eine Stunde Schlaf. So hatte er sich wieder ins warme Federbett gekuschelt … um einen seiner schlimmsten Alpträume zu erleben. Es war in irgendeinem düsteren Keller. Aus den Ritzen in den Wänden quoll der Nebel. Schwaden zogen durch den Raum. An einem hölzernen Tisch, der auch eine Werkbank sein konnte, stand sein Onkel Waldemar. Mit einem Beil in der Hand. Und auf dem Tisch lag seine Mutter. Tot. Schon dieser Anblick allein war entsetzlich genug, nun aber nahm Onkel Waldemar sein Beil und begann, seiner Mutter die Arme abzuhacken.

Er schrie derart schrill, dass Annemarie Bacheran sofort in der Tür stand: »Junge, mein Gott, was ist?!«

»Nichts, Mutter, nichts.« Mühsam konnte er sich aufrappeln. »Ich hab’ nur schlecht geträumt.« Was, verschwieg er ihr lieber. Nach dem Grund seines Alptraums brauchte er nicht lange zu suchen: der Anruf gestern spätabends. Er möge doch bitte um 7 Uhr 30 in der Pathologie des Robert-Koch-Krankenhauses sein. Der Herr Staatsanwalt selber sei dringend verhindert, und da möge er doch bitte an seiner Stelle den Termin wahrnehmen. Ein Kapitalverbrechen. Man habe am U-Bahnhof Knie Leichenteile gefunden, und die wolle sich Dr. Weimann nun ansehen. Waldemar Weimann war die Koryphäe der deutschen Gerichtsmedizin, ein Mann mit Charisma. Waldemar … Der Vorname musste den Alptraum ausgelöst haben. Waldemar, Onkel Waldemar … Onkel Waldemar hatte einen Bauernhof in Kuhsdorf in der Prignitz, und wenn man hinkam, war er immer am Schlachten. Schweine, Hühner, Gänse und Karnickel.

Annemarie Bacheran, Lehrerin an einer Neuköllner Oberschule und vertraut mit den Nöten junger Menschen, ahnte die Zusammenhänge. »Warum willst du auch partout Staatsanwalt werden? Im Kriminalgericht. Immer diese Leichensachen …«

»Die erste Leiche ist immer die schlimmste.« Bacheran setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden. »Noch bin ich nur ein kleiner Referendar …« Aber er freute sich darauf, einmal selber Staatsanwalt zu sein und dafür zu sorgen, dass das Recht durchgesetzt wurde. Ein gutes Recht, nicht das Unrecht der Nazis oder das der Stalinisten.

»Frühstücke mal nicht zu üppig, damit dir nachher nicht alles wieder hochkommt, wenn du am Seziertisch stehst.«

»Nein, Mutter. Und wenn, dann bringe ich dir alles Erbrochene mit nach Hause, damit ihr’s am Montag im Unterricht ganz genau untersuchen könnt.« Ihr Hauptfach war die Biologie. Damit ging er ins Bad. Ein solches zu haben, war ein Luxus in diesen Nachkriegsjahren, ganz besonders im Bezirk Neukölln.

Dann frühstückten sie zusammen. Allein zu zweit, denn Erna Nostiz – ihre Schwester, seine Tante – schlief noch, und Berthold Bacheran – ihr Mann, sein Vater – war 1944 in den Ardennen gefallen. Ein Pfarrer. Er hatte ihn immer »mein kleines Häschen« genannt. Bei dieser Konstellation hatte Bernhard immer Angst, dass die alte Volksweisheit »Lehrers Kinder, Pfarrers Vieh, dat geiht nie« zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden könnte.

Heute war Sonnabend, und so kam die obligatorische Frage seiner Mutter, ob er am Abend etwas vorhabe. »Gehst du mal wieder aus, zum Tanzen oder so?«

»Nein.« Er sah seiner Mutter genau an, was sie nun dachte: Andere in deinem Alter – vierundzwanzig war er jetzt – sind schon lange verheiratet, zumindest aber verlobt, nur du nicht. Nicht einmal eine feste Freundin hast du. Kann schon sein, was die Nachbarn flüstern, dass er andersherum ist. »Ich will mich noch an meinen Artikel für die juristische Fachzeitschrift setzen. Der Kampf gegen Carl Schmitt muss endlich und mit aller Kraft geführt werden.« Für ihn war Carl Schmitt mit seiner Verherrlichung des totalen Staates ein Wegbereiter der Nazis.

Seine Mutter bemühte sich, schelmisch zu blicken. »Nicht auch mal eine Carla statt eines Carls?«

Da verlor er die Contenance, sprang auf und warf die Serviette auf den Tisch. »Nein. Du weißt doch, dass ich Frauen nur als Tote und im zerstückelten Zustand so richtig genießen kann.« Und dann sang er wie ein französischer Chansonnier: »Mein Sohn Bernhard, das war ein Mann mit einem ganz besonderem Stil, denn er war so furchtbar nekrophil … so furchtbar nekrophil.«

Zehn Minuten später stand er auf der Straße, der Fuldastraße. Die zog sich ein wenig schräg zur Nord-Süd-Achse vom Neuköllner Schifffahrtskanal zur Karl-Marx-Straße, querte dabei die Sonnenallee und wies nur eine einzige architektonische Besonderheit auf: die Martin-Luther-Kirche, in der Bacheran getauft wie auch eingesegnet worden war. Sein Ziel war das West-Berliner Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin im Pathologischen Institut des Robert-Koch-Krankenhauses in Moabit, und da kam er am besten hin, wenn er … Es war schwierig zu entscheiden: lieber mit der 95 bis zum Bahnhof Sonnenallee und dann mit der S-Bahn bis Bellevue, umsteigen in Ostkreuz, oder mit der U-Bahn bis Stettiner Bahnhof und dann mit der Straßenbahn, der 44. Nein, die fuhr ja nicht mehr die Invalidenstraße hinunter. Die Spaltung der Stadt, die Spaltung der Welt. An der Sandkrugbrücke begann der Osten. Und mit der Blockade war der Betrieb der 44 eingestellt worden. Erst am 2. Januar 1950 sollte er wiederaufgenommen werden. Er erinnerte sich daran, das irgendwo gelesen zu haben. Ein Auto müsste man haben … Wenn er erst Staatsanwalt war …

»Was nun, Bacheran?!«, schnauzte er sich selber an. Er konnte sich über keinen Menschen mehr aufregen als über sich selbst. Da war er nun geborener Berliner und stand so blöd herum wie jemand, der eben angekommen war. Aus der tiefsten Provinz, Kyritz-Pyritz. Gleich, welche Route er letztendlich nehmen würde: Er musste sich irgendwann einmal in Marsch setzen. Das tat er dann auch – nachdem er beschlossen hatte, einen noch ganz anderen Weg zu nehmen: mit der U-Bahn von Rathaus Neukölln bis zum Knie, Stadtmitte umsteigen von der Linie C in die Linie A, und dann mit der 2 nach Moabit. Ein wenig umständlich, aber: Eine schlechte Entscheidung war besser als gar keine. Alte Soldatenregel, auch von ihm zu beherzigen, schließlich war er Leutnant. Gewesen. Noch im April 1945 zu einem solchen ernannt. Wie schön.

Doch als sein Blick zur Sonnenallee hinaufging, kam von rechts eine Straßenbahn und rollte in Richtung Tempelhof/ Attilaplatz, und da fiel ihm ein, dass die 95 ja am Halleschen Tor der 21 begegnete – und die fuhr nach Moabit. Das wusste er, weil sie die früher immer genommen hatten, um vom Lehrter Bahnhof aus zu Onkel Waldemar zu fahren. Nicht zu Waldemar Weimann. Da war er wieder … der Traum von der zerstückelten Leiche. Unschlüssig blieb er stehen. Ohne direkt an einer Klaustrophobie zu leiden, fuhr er im Zweifelsfall lieber mit der Straßen- als mit der U-Bahn, denn jene verlief weithin im Keller – und das erinnerte unbewusst an die Bombennächte im Luftschutzkeller. Jeden Augenblick konnte es einen Volltreffer geben, konnte man verschüttet werden und elend verenden. Also: heute mal die Straßenbahn.

Während er zur Haltestelle lief und auf die nächste 95 wartete, fiel ihm ein, dass sie ihm gar nicht gesagt hatten, was man in der Ruine am Knie gefunden hatte: einen Mann oder eine Frau. Die Wahrscheinlichkeit sprach für Letzteres. Er erschrak, als er beim Einsteigen gegen den üppigen Körper der Schaffnerin prallte. Wie würde ihr Rumpf aussehen, wenn er … Bernhard Bacheran hatte das Gefühl, irgendwann reif fürs Irrenhaus zu sein. Und da fuhr die 68 hin. Die hatten schon seine Großeltern allen Zeitgenossen empfohlen, die man für meschugge hielt, denn die Straßenbahnlinie 68 verband zwei Nervenheilstätten miteinander: Dalldorf, später Wittenau, im Westen und Herzberge im Osten. Seit der Teilung der Stadt bediente sie nur noch die westliche Anstalt, aber die wäre ja für Bacheran auch zuständig gewesen.

Er hörte die Straßenbahn schon von weitem, sozusagen um die Ecke herum, und lief los wie ein Sprinter. Ein gelber Triebwagen hielt genau vor seiner Nase. Ohne sich zu besinnen, sprang er hinein. Während der Fahrt erholte er sich ein wenig. Er stand vorn links neben dem Fahrer und sah dem Mann an der Kurbel mit Behagen zu, wie der seine Arbeit tat. Den Blick geradeaus nach vorn gerichtet, durch nichts zu beirren. Die linke Hand drehte die Kurbel, schaltete den Motor hoch und wieder herunter. Die rechte Pranke umklammerte die Notbremse. Oder war es nur der Sandstreuer? Lief jemand kurz vor der Bahn über die Schienen, fuhr die rechte Schuhspitze auf eine Bimmel, die im Wagenboden eingelassen war. Bacheran war von allem sehr beeindruckt. Schon als Kind hatte er Straßenbahnfahrer werden wollen.

Zuerst ging es die Sonnenallee hinunter, immer dicht neben der breiten Promenade entlang. Es wollte noch immer nicht hell werden. Klar, sie hatten die kürzesten Tage des Jahres. Links der Innplatz. Auf dessen Spritzeisbahn hatte er Schlittschuhlaufen gelernt. Davor noch das alte Rixdorfer Polizeipräsidium. Bacheran fragte sich, ob der Schuster Voigt auch an dieser Stelle vorgesprochen hatte, um seinen Pass zu bekommen. »Mein Gott!« Erst kurz vor dem Hertzbergplatz fiel ihm auf, dass er ja in die falsche Richtung fuhr. In Panik sprang er auf die Straße, kaum dass sie gehalten hatten, und lief zur gegenüberliegenden Haltestelle, um dort erneut zu fluchen. »Idiot, du!« Er hätte ja auch drinbleiben und zur S-Bahn fahren können. Zurück ging es. Wildenbruchstraße, Fuldastraße, Pannierstraße. Dann der Hermannplatz mit der Karstadt-Ruine, noch in den letzten Kriegstagen von der SS gesprengt. Die Urban-Straße, das Urban-Krankenhaus. Auch hier lagen Tote, um von Pathologen geöffnet zu werden. Aber keine zerstückelten Leichen, keine Mordopfer.

Hallesches Tor, Mehringplatz. Er stieg aus und wartete auf die 21. Was kam, war ein Triebwagen vom Typ »Stube und Küche«. Da die 21 jetzt schon am neuen Polizeipräsidium West-Berlins in der Friesenstraße einsetzte, war der freie Fahrersitz am hinteren Ende des Triebwagens zu seinem großen Leidwesen schon besetzt. Auch als junger Mann saß er noch gerne dort, obwohl seiner Mutter das mehr als peinlich war. Ob er sich denn wirklich so »entblöden« müsse, da gehörten doch nur Kinder hin. »Ach, Mutter, das Kind im Manne …« Kopfschütteln ihrerseits: »Wenn du bloß endlich selber Kinder hättest.« Grinsen seinerseits: »Du, wie heißen eigentlich die Pflanzen, die sich selber befruchten?«

Jetzt ging es durch Gegenden hindurch, die Bacheran immer an Karthago denken ließen. Ceterum censeo Carthaginem esse delendam. (Cato) Er war stolz auf seine wenigen Lateinkenntnisse. »Im Übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden muss.« Im Falle Berlins musste es Gott selber beschlossen haben, als Strafe für Auschwitz und die über fünfzig Millionen Toten, die von den Nazis zu verantworten waren. Die große Frage war: Blieb dieses Stück Berlin für immer und ewig so liegen und wurde es die große Sehenswürdigkeit des Jahres 2000 – oder machte man sich daran, alles wiederaufzubauen, original oder im Stil der neuen Zeit? Wenn es denn schon einen gab. Doch ja, in den USA. Da, wo die neuen Götter ihr Zuhause hatten, die Halbgötter zumindest. Das dachte er, als er Washingtonplatz las. Gottverlassene Quadratmeter Pflasterfläche zwischen Spreebogen und Lehrter Bahnhof. Auch dieser war nichts weiter als nur noch Fassade. Wie der Reichstag. Trübe waren die Wasser der Spree. Mit Schaudern dachte Bacheran daran, jetzt in einem Faltboot zu sitzen, dort zu paddeln und zu kentern. Er war ein schlechter Schwimmer, und die steinernen Kaimauern waren zu glatt und zu steil, um sich an ihnen hochzuziehen. »Herr Doktor Weimann, eine Wasserleiche für Sie.«

Eine Viertelstunde später stand der kleine Referendar Bernhard Bacheran dem großen Weimann gegenüber, Goethe im Kopf: Ich komme voll Ergebenheit, einen Mann zu hören und zu kennen, den alle mir mit Ehrfurcht nennen.

»Guten Morgen, Herr Obermedizinalrat. Ich bin …«

»Ich weiß. Kommen Sie. Auch Tote warten nicht gerne.« Das wäre, fand Bacheran, ein schöner Titel für einen Kriminalroman gewesen. Offenbar hatte Dr. Weimann gewisse literarische Ambitionen und schrieb für seine Memoiren alles auf, was er erlebte. Hoffentlich nicht auch, dass er im Dezember 1949 einen jungen Juristen von der Staatsanwaltschaft in den Leichenkeller mitzunehmen hatte und der beim Anblick eines Torsos in Ohnmacht fiel …

 

Ins Reich der Toten führte ein langer, kahler Gang. Die Heizungsrohre an der Decke waren so marode, dass sie jeden Augenblick platzen konnten. Fast hoffte Bacheran, dass sie es taten, denn das hätte ihm ein paar Minuten Aufschub verschafft. Er fühlte sich so elend wie ein Seekranker, der sich über die Reling gebeugt hatte, weil er glaubte, sich jeden Augenblick erbrechen zu müssen. Und das im Beisein eines Mannes mit einem solchen Charisma, wie Dr. Weimann es hatte. Unwillkürlich wurde er langsamer.

Dr. Weimann blieb stehen. »Sie sind doch leichenfest?« Bacheran sah ihn verständnislos an, so als würde der Mediziner plötzlich in einer völlig fremden Sprache mit ihm reden. Was für ein Fest mit Leichen? Endlich schaltete er. »Ja, nein … Ich meine: Ich war öfter auf dem Lande, auf dem Bauernhof bei meinem Onkel Waldemar … Pardon.« Er merkte, dass er wirklich völlig durcheinander war. »Ich war Soldat, ich habe genügend Kameraden fallen sehen.«

Dr. Weimanns Sekretärin stieß zu ihnen und wurde ihm vorgestellt. »Hildegard Lehmann …« Bacheran machte eine leichte Verbeugung, Marke erste Tanzstunde. »Angenehm …« Sie mochte kaum älter sein als er. Wenn er bei ihr Eindruck schinden wollte, dann musste er sich jetzt heldenhaft geben. Vorn war die stählerne Tür zum Kühlraum. Noch zehn Schritte, noch neun, acht, sieben … Bei seiner Feuertaufe, 1945 im Gefecht gegen die vorrückenden Russen bei Seelow an der Oderfront, hatte er nicht solche Angst gehabt. Angst vor einem Toten. Nun dachte er wie Dr. Weimann in Krimititeln: Tote schießen nicht, Tote morden nicht. Es war eine archaische Furcht und etwas Magisches: Wo ein Toter lag, da war der Tod erschienen und hatte zugeschlagen. Und wenn er noch nicht fortgegangen war …

Reiß dich zusammen! Bacheran war es gewohnt, Befehle zu geben und Gehorsam zu erwarten. Nur bei ihm selber klappte das nicht. Alles in ihm schrie danach, sich loszureißen und aus dem Krankenhaus zu laufen. Er selber verstand sich nicht. Fünfzig Jahre später hätte ihm ein Psychologiestudent im ersten Semester sagen können, dass er unter einem posttraumatischen Belastungssyndrom leiden würde und zum Therapeuten gehörte. Das Dauerfeuer, neben ihm die zerfetzten Leiber der Freunde … das war der Grund. Aber er wagte es nicht, Dr. Weimann zu erzählen, warum sich sein Organismus weigerte, den Leichenkeller zu betreten.

Die Sekretärin musste bemerkt haben, wie er immer blasser wurde, wahrscheinlich schon aschfahl und etwas grün, denn sie tupfte schnell ein wenig Eau de Cologne auf ihr Taschentuch und hielt es ihm hin. Er schüttelte den Kopf. Der Geruch war es nicht, der ihm zusetzen würde.

Als würden sie ihm jeden Rückzug abschneiden wollen, kamen zwei Männer hinter ihnen her und schlossen auf. Es waren Dr. Spengler, Weimanns Mitarbeiter, und Assessor Behrens, der als Amtsrichter bei dieser gerichtlichen Leichenöffnung Zeuge sein musste.

Behrens war es auch, der die anderen über das informierte, was man bislang in Erfahrung gebracht hatte. »Ein Wachtmeister vom Polizeirevier 131 in Charlottenburg hat den Rumpf gestern Abend in einer Ruine am U-Bahnhof Knie entdeckt. Ohne Zweifel männlich. Kriminalkommissar Menzel – M I/3 – hat den Fall übernommen. In der Ruine, im Keller, haben er und seine Leute nichts entdecken können: keine Kampfspuren, keine Kleidungsstücke, keine Habseligkeiten. Völlig nackt. Und kein Blut. Der Mann ist also hundertprozentig woanders umgebracht und zerstückelt worden.«

Bacheran konnte es nicht fassen: So ein Rumpf, der wog doch gut und gerne … ja, was eigentlich … mindestens 60 Kilo, wenn es der Mann insgesamt auf 80 brachte. Es musste ja fast ein Schwerathlet sein, der einen solchen … nun, Klotz … durch die Straßen schleppen und in einen Ruinenkeller werfen konnte.

Diese und ähnliche Überlegungen waren es, die ihn nun ruhiger werden ließen. Und immer wieder hämmerte er sich ein: Stell dir vor, was da vor dir liegen wird, ist ein Tierkadaver, den Onkel Waldemar ausweiden will. Der Körper eines Schweines, eines Kalbes, eines Schafes. Und denk dir, dass du alles nur träumst oder im Kino sitzt und dir einen Film ansiehst, in dem du selber eine Rolle spielst. Die des jungen Referendars Bernhard Bacheran, der dabei ist, als der berühmte Gerichtsmediziner Dr. Waldemar Weimann ein Mordopfer in Augenschein nimmt.

Als er dann am Seziertisch Nr. 6 angekommen war, hatte er sich völlig im Griff. In diesem Augenblick war er nichts weiter als eine mechanische Puppe. Alles lief so ab, wie es auch abgelaufen wäre, wenn es ihn gar nicht gegeben hätte. Die beiden Mediziner hatten sich die Gummischürzen umgebunden und waren an die beiden Längsseiten des Tisches getreten. Der war so lang, dass der Torso lächerlich wirkte, lächerlich klein. Und so komisch wie eine Schaufensterpuppe, der man Kopf und Hals sowie Arme und Beine abgeschraubt hatte. Was Dr. Weimann wie Dr. Spengler so faszinierte, war die Schulter des Toten.

»Diese glatten Schnittflächen«, sagte Dr. Spengler. »Wie die Arme mit kunstgerechten Zirkelschnitten vom Körper getrennt wurden, das ist schon höchst erstaunlich.«

»Das könnte ein Chirurg nicht besser gemacht haben«, war Dr. Weimanns erster Kommentar.

Dr. Spengler lachte. »Ein Schlächter auch nicht.«

Auch Amtsrichter Behrens gab seinem Erstaunen darüber Ausdruck, dass die Arme nicht abgehackt oder abgesägt, sondern so kunstgerecht aus den Pfannen des Schultergelenks herausgelöst worden waren. »So etwas ist mir in der Literatur noch nicht untergekommen, bei keinem unserer Massenmörder.«

Ins Bild fügte sich, dass an den Stellen, wo der Kopf vom Hals und die Beine vom Körper abgetrennt worden waren, dieselbe saubere und absolut fachkundige Schnittführung zu erkennen war.

»Irgendjemand, der etwas von Anatomie versteht«, sagte Dr. Weimann und wandte sich zu seiner Sekretärin, die mit Tisch, Stuhl und Schreibmaschine dicht an den Seziertisch gerückt war, um alles zu Protokoll zu nehmen. Mit fünf Durchschlägen. »Ein Laie hätte da ganz anders gehandelt«, erklärte er Behrens und Bacheran. »Der wäre voller Hemmungen gewesen und hätte das Werkzeug wiederholt und zögerlich angesetzt. Dabei wären dann unregelmäßige und gezackte Wundränder mit unterschiedlich tiefen Kerben entstanden, hier aber: nur wenige tiefgreifende Schnittführungen. Der Täter muss also medizinische oder anatomische Kenntnisse gehabt haben.«

»Oder aber Schlächter gewesen sein, Blockgeselle in einer Fleischerei.« Bacheran erinnerte sich an die Bemerkung, die Dr. Spengler eingangs gemacht hatte, wie auch an die Hausschlachtungen bei seinem Onkel auf dem Lande. »Aber nach dem Kriege haben sie doch in Berlin hier überall selber geschlachtet, zumindest Kaninchen.«

»Junger Mann, zwischen einem Karnickel und einem Menschen gibt es ja doch noch ein paar Unterschiede – oder?«

»Wirklich? Es ist doch sprichwörtlich, dass manche Menschen wie die Karnickel hecken.«

»Bitte, wir haben eine Dame im Raum.«

Bacheran wurde wieder sachlich. »Womit hat denn der Täter die Leiche zerstückelt?«

Dr. Weimann reagierte auf so viel Unwissenheit mit einem unfreundlichen Brummen. »Sieht man doch auf den ersten Blick: mit einem Messer natürlich.«