Der kalte Engel

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Kapitel 3

Hannes Seidelmann, gelernter Telegraphenbauhandwerker, war Störungssucher bei der Post und als solcher ein ziemlich freier Mann. Sein Vorgesetzter saß in der Skalitzer Straße am Prüfschrank und konnte nur schwer kontrollieren, wie schnell ein kaputtes Telefon repariert war und was er zwischen zwei Aufträgen so alles anstellte – zum Beispiel mal eben schnell nach Hause fuhr und Kaffee trank. Oder in seiner Laube nach dem Rechten sah. Oder seine Geliebte kurz beglückte. Heute aber hatte er sich offiziell abgemeldet.

»Sie wissen ja, was mit meinem Bruder los ist …« Seit mehr als fünf Tagen warteten sie auf ihn. Vergeblich. Am 3. Dezember hatte Hermann Seidelmann die Wohnung verlassen. Mit über 3000 DM-Ost in der Tasche … Und da war mit dem Schlimmsten zu rechnen. Obwohl … Von der Vermisstenstelle im Britischen Sektor, zu der sie gleich am nächsten Tag gegangen waren, hatten sie noch nichts gehört; was hoffen ließ. Zu Hause war der Bruder im sächsischen Plauen, doch wiederholte Anrufe bei seiner Frau Irma hatten nichts ergeben. »Nein, Hermann ist hier nicht wiederaufgetaucht.« Sehr zu bedauern schien sie das nicht. Am 17. November war Hermann nach Berlin gekommen. Zur Beerdigung seiner Mutter, ihrer Mutter. Mit der Heimreise hatte er sich Zeit lassen wollen. Er wollte noch Geld tauschen, Ost gegen West, und in West-Berlin Ersatzteile für seine Fahrgeschäfte einkaufen. Schausteller war er und hatte seine Karussells, Schiffschaukeln und Losbuden in Leipzig, Dresden, Chemnitz und anderswo in Sachsen stehen. Offenbar war er aber auch nach Berlin gekommen, um galante Abenteuer zu suchen. Jedoch bis jetzt, wie es schien, ohne Erfolg.

»Mit siebenundvierzig ist der Lack auch schon ’n bisschen ab«, sagte Hannes Seidelmann.

Seine Schwester winkte ab. »Bei dem Männermangel heute, da gibt et viele Frauen, die jeden nehmen. Erst nehmen … und dann tüchtig ausnehmen. Wie ’ne Weihnachtsgans. Aber bei Hermann würde’s mir auch nicht leid tun. Vier Kinder hat er und dann …«

Gerda, Fahrkartenknipserin bei der Berliner S-Bahn, war ein sehr misstrauischer Mensch. Schon von Berufs wegen. Saß sie am Bahnhof Wedding in ihrer Wanne, dann hatte sie nicht nur die gelben Pappkarten der abfahrenden Fahrgäste zu knipsen, sondern auch die der ankommenden zu kontrollieren – dass sie die richtige Preisstufe gelöst hatten. I war mit 20 Pfennigen die billigste, galt aber nur auf und innerhalb der Ringbahn. Und wie oft kam es vor, dass jemand nur I gelöst hatte, aber beispielsweise von Gartenfeld oder Wollankstraße kam. »Ich traue allen Menschen alles zu«, war ihre stehende Wendung. »Auch dir, Hannes …« Das bezog sich darauf, dass ihre beiden Brüder sich nie so recht verstanden hatten, ganz im Gegenteil. »Denk mal an Kain und Abel.«

Hannes Seidelmann fuhr auf. »Spinnst du wohl?!«

»Tu doch nicht so. Als er vor dir eingezogen worden ist, hast du gleich was mit seiner Irma angefangen. Und jetzt, wo er wieder zurück ist, da ist er dir doch ’n Dorn im Auge.«

Hannes Seidelmann war perplex. »Ich würde doch nie meinen eigenen Bruder …«

»Nein, würdest du nicht. Aber Tatsache ist ja mal, dass er verschwunden ist.«

»Mit mächtig viel Geld in der Tasche. Auf das du immer scharf gewesen bist …«

Hannes Seidelmann stand auf, trat ans Fenster, zog die Gardine zur Seite und sah auf die Straße hinunter. »Ach, Unsinn alles. Jeden Augenblick wird er auftauchen und … Wahrscheinlich hatte er doch irgendwo ’ne Frau aufgegabelt und kommt nun gar nicht mehr los von der. Irma liebt er ja schon lange nicht mehr. Oder er ist im Puff gelandet, und sie behalten ihn da, bis er alles Geld vervögelt hat.«

»Hannes, bitte!« Gerda Seidelmann war empfindlich gegen alles Obszöne.

»Wir müssen wirklich was unternehmen. Wenigstens noch mal zur Vermisstenstelle gehen.«

»Das ist mir irgendwie peinlich.«

»Dann lass uns mal gucken, ob wir in seinen Sachen was finden.«

Gerda winkte ab. »Das ist doch Quatsch, das haben wir doch schon x-mal gemacht.«

»Vielleicht haben wir wirklich was übersehen?«

»Na schön …«

Das Ziehharmonikabett, auf dem Hermann Seidelmann genächtigt hatte, stand in einem schmalen halben Zimmer, das sie als Kammer bezeichneten. Früher hatte es als Mädchenkammer gedient, jetzt war es die Rumpelkammer. Hermanns Koffer war aufgeklappt und bot den Anblick von langen Unterhosen, schlecht gebügelten Oberhemden und zusammengerollten Socken. Darüber hing an einem locker in der Wand sitzenden Nagel ein Anzug, der arg nach Kneipe roch.

»Hast du denn in dem schon nachgesehen?«, fragte Hannes seine Schwester.

»Ja, na klar, was hast du denn gedacht.« Sie konnte nicht anders, als barsch zu sein. »Guck mal, was der Hermann für schöne Schlipse hat.« Sie hielt zwei hoch.

»Den schönsten hat er doch umgehabt, als er weggegangen ist: den blauen mit den gelben und den roten Streifen. Den hat er schon früher immer umgebunden, wenn er zu einem Rendezvous gegangen ist. Mensch, du …« Hannes Seidelmann fiel ein, dass sein Bruder ihn gleich nach seiner Ankunft gefragt hatte, wo er denn hier in West-Berlin am besten Präservative herbekam. »›Männerschutz‹? Beim Friseur, wenn du Haare schneiden gehst.« Und wo verbarg ein Mann die, wenn er sich ins Nachtleben stürzte? In einem kleinen Geheimtäschchen am Hosenbund, rechts unter dem Gürtel. Da also sah er nach.

Und richtig, da steckte etwas drin. Aber kein »Fromms«, sondern ein kleiner Zettel, von einer Zeitung abgerissen. Vier Worte waren hingekritzelt: Schöne Frau am Zoo. Zweifellos Hermanns Handschrift. Er wandte sich zu seiner Schwester hin. »Sieh mal hier …«

»Da hat er sich bestimmt mit einer treffen wollen. Los, nichts wie hin! Und steck ’n Foto von ihm ein.«

Sie machten sich auf den Weg. Die Haltestelle der 21 war ganz in der Nähe, und so fuhren sie mit der Straßenbahn bis zur Gotzkowskystraße, wo in die Linie 2 umzusteigen war. In einer knappen Viertelstunde waren sie am Bahnhof Zoo. Hier war Berlin fast schon wieder so quirlig wie in den Goldenen Zwanzigern. Das lag weniger an der Zahl der Fernreisenden, denn noch gingen die meisten der nur fünf bis sechs Interzonenzüge täglich von den alten Kopfbahnhöfen ab, als an seinem legendären Ruf: »Chia, chia, cho, Schieber steh’n am Bahnhof Zoo …« Mit dem Ende der Blockade und der Währungsreform war es zwar weithin vorbei mit dem Schwarzen Markt, doch das Geschäft der Geldwechsler blühte noch immer und nun erst recht. Abgesehen davon stiegen Zehntausende hier um, kreuzten sich doch mehrere S- und Straßenbahn-Linien mit der U-Bahn-Linie A. Kamen jene hinzu, die nebenan im »Garten« sehen wollten, welche Elefanten, Löwen, Bären und Affen, alles alte Bekannte, bei Kriegsende übriggeblieben waren. Wie sie selbst. Das stählerne Skelett der Bahnhofshalle hatte den Bomben standgehalten, nur fehlte alles Glas. Trotzdem wirkte es wie ein Fremdkörper inmitten all der Ruinen. Nein, auch das Oberverwaltungsgericht war relativ unbeschädigt geblieben. Doch ausgebrannt waren die Rundkuppel des Zeiss-Planetariums und des Ufa-Palastes, und vieles andere lag in Schutt und Asche.

Wo traf man sich zu dieser Zeit? Unter der großen Normaluhr neben der Parfümerie von Dr. E. Kuhlmann. Die Geschwister gingen in den Laden, um der Verkäuferin das Bild ihres verschwundenen Bruders zu zeigen. »War der zufällig bei Ihnen hier und hat Parfüm für eine schöne Frau gekauft? Jahrgang 1902 ist er, korpulent und sächselt etwas, manchmal spricht er auch noch ostpreußischen Dialekt.«

Kopfschütteln. »Tut mir leid, kann ich mich nicht mehr dran erinnern.«

Sonderlich enttäuscht waren sie nicht. Wäre ja wirklich ein Zufall, wenn … Mit etwas mehr Hoffnung mischten sie sich unter die Geldwechsler. Aber auch da: Fehlanzeige. »Er hat eine Menge Geld bei sich gehabt …«

Da grinsten die Angesprochenen nur: »Das wird er mit ein paar Miezen durchgebracht haben.« Man verwies sie auf die Cafés am Kudamm und die einschlägigen Pensionen in der Augsburger Straße.

Hannes Seidelmann schüttelte den Kopf. »Der Zettel mit der Notiz Schöne Frau am Zoo spricht dagegen, dass Hermann auf käufliche Liebe aus gewesen ist.«

Seine Schwester teilte seine Meinung nur bedingt. »Kann doch sein, dass die auch so eine war … Und wenn nicht: Auf alle Fälle wird er mit ihr in ein Café oder eine Bar gegangen sein.«

»Die sollen wir nun alle abklappern? Vielleicht ist er auch mit ihr in die Straßenbahn gestiegen und sonst wo hingefahren …« Das bezog sich auf einen Straßenbahnzug der Linie 77, die hinter ihnen gerade »abgeklingelt« wurde. »Lichterfelde West – Goerzallee … Die Kaiserallee runter, Steglitz … Schöne Gegenden für schöne Frauen.«

»Ach, Quatsch!« Gerda Seidelmann glaubte nicht an die Theorie vom Liebesnest. »Hermann lässt doch nicht alles stehen und liegen, was er sich mühsam aufgebaut hat, nur um sich mal wieder so richtig auszutoben.«

»Hast du ’ne Ahnung.« Und er zählte ihr alles auf, was er über »des Menschen Hörigkeit« gesehen, gelesen und gehört hatte. »Wenn da eine kommt …«

»… dann geht er mit der doch nicht gleich ins Bett, sondern erst mal was trinken.« Gerda beharrte darauf, in den umliegenden Cafés und Bars nach Hermann zu fragen. So zogen sie los. Der Kurfürstendamm lebte noch immer, trotz der Ruinen und der Lebensmittelkarten war er auch ohne Lichterglanz und Stars verführerisch geblieben. Ein Versprechen, das nicht totzukriegen war: Komm her und fühl dich im Champagnerrausch. Sogar ein so nüchterner Mensch wie Hannes Seidelmann erlag diesem Flair, und bald fühlte er sich wie im Film, wie Paul Kemp in Amphitryon, Willi Forst in Bel ami oder Willy Fritsch in Die drei von der Tankstelle. Er brachte es für sich auf den Punkt: »So als wenn’s de schwebst …«

 

Doch auch am Kurfürstendamm konnte sich niemand an einen Hermann Seidelmann aus Sachsen erinnern. Ihnen wurde geraten, es einmal in der Casablanca-Bar in der Augsburger Straße zu versuchen. »Wenn jemand eene abschleppen will, denn da.«

Sie machten sich auf den Weg und kamen sich immer deplatzierter vor, denn in dieser Gegend waren viele der pompösen Häuser aus der Gründerzeit stehen geblieben, und es roch noch immer etwas nach Bourgeoisie, obwohl die riesengroßen Wohnungen nun ganz sicher aufgeteilt und untervermietet waren. Dennoch: Es war nicht ihre Welt. Und sie wurden auch misstrauisch beäugt. Wohl als Gaunerpärchen, das hergekommen war, etwas auszubaldowern. Oder war das nur Einbildung? Hannes Seidelmann wusste es nicht. Wie auch immer: Er hatte große Hemmungen, an die schwere hölzerne Tür der Casablanca-Bar zu klopfen. Zu dieser frühen Stunde war noch gar nicht geöffnet. Schließlich bequemte sich ein muffliger Bediensteter, der Barkeeper offensichtlich, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen. »Was’n: Die Kripo schon wieder?« Hannes Seidelmann überlegte blitzschnell, ob es schon den Straftatbestand der Amtsanmaßung erfüllte, wenn er die Frage nicht verneinte, sondern so tat, als hätte er sie gar nicht gehört.

Nein. Also reagierte er nicht, sondern hielt dem Barkeeper wortlos das Foto seines Bruders hin.

»Ob der hier war …« Der Mann fuhr sich mit der flachen Hand über den kahlen Schädel. »Ja, gestern erst. Mit ’ner schönen Frau zusammen.«

Das kam so prompt, dass die Geschwister es unbesehen glaubten. Sie hörten, was sie hören wollten: dass ihr Bruder noch am Leben war. »Ich hatte schon gefürchtet, ihm sei was zugestoßen«, sagte Gerda, und Hannes fügte hinzu: »Du wirst lachen, ich auch. Aber: Unkraut vergeht nicht.« Erleichtert fuhren sie nach Moabit zurück und kochten sich eine Kanne Hagebuttentee.

Kaum hatten sie sich am Couchtisch niedergelassen, klingelte das Telefon. Als einer der wenigen Berliner seines Standes hatte Hannes Seidelmann einen Anschluss, aber er war ja Technischer Fernmeldesekretär bei der Post … und an der Quelle saß der Knabe. Es war die Vermisstenstelle. Man möge doch bitte in das Ost-Berliner Leichenschauhaus in der Hannoverschen Straße fahren.

»Hat man meinen Bruder gefunden? Ist er …«

»Weiß ich nicht. Es gibt da Gliedmaßen, die sich einem erwachsenen Mann zuordnen lassen, und wir benachrichtigen alle, die einen Mann als vermisst gemeldet haben.«

»Ach so …« Hannes Seidelmann war beruhigt.

Wieder pellten sie sich an und machten sich auf den Weg. Im Dezember bei Kälte und Dunkelheit durch die Berliner Ruinenlandschaft zu reisen, war kein reines Vergnügen, eher schon ein Abenteuer. Mit der 21 fuhren sie bis zur Invalidenstraße und stiegen dort in die 44 um, die sie bis zur Endstation Sandkrugbrücke brachte. Von dort war es nur ein Fußweg von ein paar hundert Metern. Aber die Gegend! Wenn einer das Fürchten lernen wollte, dann hier. Sie redeten nicht viel. Wozu auch.

In der Hannoverschen Straße nahm sie ein hagerer und außerordentlich mürrischer Mann in Empfang und führte sie durch ein Labyrinth von Treppen und Gängen. Alles reine Routine. Schließlich waren sie am Ziel. »Keinen Schreck kriegen«, sagte der Hagere, und man sah ihm an, dass er sich genau darauf freuen würde. Über einen der stählernen Tische war ein weißes Tuch gebreitet, und darunter lag etwas: offenbar die Leichenteile, um die es hier ging.

»Achtung!«, rief der Hagere und riss das Tuch so schnell zur Seite wie ein Zauberkünstler eine Tischdecke, wenn dabei Gläser und Geschirr nicht umstürzen sollten. »Hier haben wir zwei Unterschenkel mit Füßen dran, einen linken Oberschenkel und einen linken Arm. Der Rest, der fehlt noch … Nun gucken Sie mal, ob das Ihr Bruder ist.«

Gerda Seidelmann schlug die Hände vors Gesicht, brach in Tränen aus und stürzte aus dem Saal, weil sie fürchtete, sich übergeben zu müssen.

Auch Hannes spürte ein heftiges Würgen im Hals, schaffte es aber standzuhalten. Es war entsetzlich, sich vorzustellen, dass das … Er wollte die Augen zur Decke richten, zum Fenster, zum Wasserhahn, doch er schaffte es nicht. Wie von einer magischen Kraft wurden seine Blicke von den Leichenteilen angezogen. Vom Ungeheuerlichen. Das gab es nicht, das konnte doch nicht wahr sein, solche Bilder hatten nur die Leute im Kopf, die sie ins Irrenhaus steckten: »Ich sehe immer meinen Bruder vor mir, wie er in kleinen Portionen vor mir auf dem Tisch liegt. Fein säuberlich zerlegt.«

Der Hagere wurde ungeduldig. »Na, was ist nun?«

Hannes Seidelmann schwankte, musste sich festhalten. Die Hautfarbe stimmte schon … etwas weißlich … Auch die schwarzen Haare … Alles sprach dafür, dass Arm und Schenkel zu Hermann gehörten, Hermann waren. Aber … Nein, und abermals nein. Er hatte das Gefühl, dass sein Bruder erst dann wirklich tot war, wenn er zugab, dass die Teile ihm gehörten. Also sagte er wider besseres Wissen, dass er nichts identifizieren könne. »Wer auch immer das ist, mein Bruder ist es nicht.«

Da stand seine Schwester hinter ihm, und Gerda Seidelmann war, nachdem sie sich nun wieder gefangen hatte, ganz Realistin: »Doch, das issa. Er ist doch gerade frisch am Hühnerauge operiert worden … Und hier am linken Fuß ist noch das Pflaster dran.«

Kapitel 4

Elisabeth Kusian war noch im OP geblieben, um ein wenig Ordnung zu schaffen. Allein mit der Toten, die noch immer von den Lampen über dem Operationstisch angestrahlt wurde wie eine Schauspielerin vor der Kamera. Wieder einmal hatte alle ärztliche Kunst nichts genutzt. Zu weit war das Karzinom an der Gebärmutter fortgeschritten. Sie beugte sich über die Frau und schloss ihr die Augen. »Da, wo du jetzt bist, wirst du’s besser haben als hier …« In ihren langen Berufsjahren, zumal im Krieg, hatte sie zu viele Menschen sterben und zu viele Tote so liegen sehen, um noch irgendwie beeindruckt, geschweige denn erschüttert zu sein. Es war so, wie es war, und sie war mit dem Tod auf Du und Du. Jeden Abend ging die Sonne unter und jeden Winter war es kalt, was sollte man sich darüber aufregen.

Andererseits … Die Operation selber, die nahm sie ganz schön mit. Wenn das Blut in Fontänen herausspritzte aus den geöffneten Leibern, wenn die Chirurgen wie die Schlachter in den Gedärmen wühlten. Und dann … Die Frau, die die Operation nicht überlebt hatte, war in ihrem Alter gewesen, auch Jahrgang 1914. Eine Serviererin aus Tiergarten. Was hatte sie bisher vom Leben gehabt – nicht viel. Und nun war alles aus, keine Chance mehr, sich auch mal ein Stück vom Kuchen abzuschneiden. Apropos Kuchen. Elisabeth Kusian dachte an die Lebkuchen, die sie für die Weihnachtsfeier der Krankenschwestern besorgen sollte. Das hatte sie glattweg vergessen. Ebenso wie das Julklapp-Geschenk für ihre Freundin Anni.

Ihre Kolleginnen kamen, sie zum Mittagessen abzuholen. Sie war überaus beliebt bei ihnen, weil sie an allem Anteil nahm und Mittelpunkt der Gruppe war. Alle hatten Respekt vor ihr, denn in ihrem Personalfragebogen stand, wie sie längst herausgefunden hatten, dass sie die Frau des im Krieg gefallenen Chirurgen Dr. med. Wilhelm Kusian war und sogar angefangen hatte, selber Medizin zu studieren. Scherzend und schnatternd zog man durch die Gänge und aß dann in der Kantine zusammen Kartoffelsalat und gebratenen Fisch. Auch da ging es hoch her.

Das Gespräch verstummte erst, als Oberschwester Anita an ihren Tisch getreten war. Ansonsten sehr zugänglich und alles andere als ein alter Drachen oder Dragoner, gab sie sich heute streng und inquisitorisch.

»Der Ramolla macht mir die Hölle heiß, weil schon wieder etliche Geräte und Spritzbestecke verschwunden sind. Und sein Verdacht, meine Damen, richtet sich vor allem gegen Sie. Wenn mir eine was zu sagen hat, dann bitte nachher in meinem Zimmer.«

Annemarie Gruschwitz verbat sich diese Anschuldigungen.

»Der saubere Herr Verwaltungsleiter soll sich bloß vorsehen, dass er nicht bald mal ’ne Verleumdungsklage am Hals hat. Von dem lasse ich mich nicht länger beleidigen.«

»Tatsache ist nun mal, dass bei uns gestohlen wird. Geräte, Medikamente …«

»Zehn Prozent Schwund gehört zu jedem Laden«, lachte jemand.

»Wir hören noch voneinander.« Die Oberschwester rauschte davon.

Ihr Auftritt war schnell vergessen, man hatte Wichtigeres zu bereden, sowohl Dienstliches wie auch Privates. Wer mit wem den Dienst tauschen wollte, welche Patienten ganz besondere Probleme hatten oder machten, wer in welchen Arzt verknallt war: Herta, Gerda, Christa. Langsam löste sich die Gruppe wieder auf, Elisabeth Kusian und Anni Gruschwitz blieben als Letzte zurück.

»Ich muss dir noch was erzählen …« Elisabeth Kusian beugte sich zur Freundin hinüber. »Du, ich hab’n Neuen. Er heißt Kurt und ist ganz wunderbar.«

»Verheiratet?«

»Ja, aber ich krieg’ ihn schon los. So einen hab’ ich mir immer gewünscht, seit mein Mann gefallen ist, mit dem möchte ich noch einmal ganz von vorn anfangen. Alles nachholen.«

»Was macht er denn?«

»Kriminalsekretär ist er.«

Anni nickte. »Nicht schlecht. Wenn er dich nach Hause bringt, bist du wenigstens sicher.«

»Wieso denn das?«

»Na, wo sie jetzt die Leichenteile gefunden haben, da hab’ ich immer Angst um dich.«

Elisabeth Kusian winkte ab. »Ich pass’ schon auf. Und das soll ja auch ’n Mann gewesen sein.«

Anni steckte sich eine Zigarette an. »Ach Gott, meine Lisbeth: die große Liebe ihres Lebens mit 35 Jahren …«

»Dazu ist es nie zu spät.«

»Womit du recht haben dürftest.«

»Ich möchte ihm so viel schenken, aber das Geld dafür …« Anni bedauerte. »Da kann ich dir auch nicht helfen.«

»Heute Abend sehen wir uns wieder, Kurt und ich. Mal sehen, was er sich zu Weihnachten wünscht.«

»Man kann Männern auch ohne Geld viel schenken, was sie juchzen lässt.«

»Das sowieso.«

Die Freundin drückte ihre Zigarette aus. »Heute ist der Doktor Weimann wieder bei uns im Haus, gehst du da hin?«

»Klar, du weißt doch, dass ich den anbete. Das ist derselbe Typ wie mein Vater in Thüringen. Wenn dessen Klinik nur mehr abwerfen würde … Dann hätte ich auch keine Geldsorgen mehr. Aber in der DDR, da treiben sie ja die Privatkliniken alle in die Pleite.«

Man trennte sich, und Elisabeth Kusian kam gerade noch rechtzeitig zum Lichtbildervortrag des renommierten Gerichtsmediziners. Heute sprach Dr. Waldemar Weimann über das gewaltsame Ersticken und über das Erdrosseln. Ach, das wusste sie alles schon.

Wieder auf der Station 14 zurück, machte sie sich daran, allen möglichen Papierkram zu erledigen. Dabei wurde sie aber sehr bald von einer Patientin gestört, der Gerda Zepter, die morgen entlassen wurde und sich noch einmal bei ihr sehen lassen wollte.

»Ganz, ganz herzlichen Dank, Frau Kusian … Wenn ich so schnell wieder gesund geworden bin, dann habe ich das vor allem auch Ihnen zu verdanken.« Sie überreichte Elisabeth Kusian eine Azalee und einen Kasten Konfekt.

»Danke, das ist mir aber peinlich … Das ist doch alles selbstverständlich, was wir für unsere Patienten tun.«

»Nein, ist es nicht.«

Elisabeth Kusian brachte die Geschenke in den Aufenthaltsraum. Das Konfekt teilte sie sich natürlich mit ihren Kolleginnen. Obwohl … Die Versuchung, es irgendwo zu verkaufen, war groß, denn sie brauchte buchstäblich jeden Pfennig. Nicht nur für ihren Kurt. Vor allem für ihre drei Kinder im Heim in Teltow. Die kosteten allein schon 225 Mark im Monat – und sie verdiente im Krankenhaus nur 285 Mark. Kam die Miete hinzu, die sie für ihr Zimmer in der Kantstraße zahlen musste. Was blieb ihr da noch für Essen und Trinken, für Kleidung und Kosmetika? Nichts, im Gegenteil. Sie kam nur über die Runden, wenn sie Schulden machte. Zum Glück gab es immer wieder Patientinnen, die nicht nur Mitleid mit ihr hatten, sondern auch Geld genug, es zu verleihen. Sie nahm den Bettenplan zur Hand und überlegte. Die Gast vielleicht. Der Mann hatte einen kleinen Betrieb, Damenoberbekleidung, und kam im Mercedes vorgefahren.

Irmgard Gast lag in einem Vierbettzimmer, und sie dort anzusprechen, war ihr nicht nur peinlich, sondern barg auch die Gefahr, dass die Zimmernachbarinnen es hörten und der Oberschwester weitererzählten. Worauf es dann garantiert Ärger gab, denn es war verboten, Patienten anzupumpen. Doch Elisabeth Kusian musste es riskieren, der Kinder wegen. So legte sie sich auf die Lauer und wartete, bis ihr Opfer auf dem Flur erscheinen und zur Toilette gehen würde.

 

Ein Mann etwa in ihrem Alter kam den Flur entlanggehumpelt. Unterschenkelamputation, links. Bei einer seiner Gehstützen fehlte unten der Gummi, und so verursachte er einen ziemlichen Lärm. Er trug einen umgearbeiteten Militärmantel und sah auch sonst nicht so aus, als sei er auf Rosen gebettet. War das wieder einer, der etwas klauen wollte?

Sie verstellte ihm den Weg. »Im Augenblick haben wir keine Besuchszeit.«

»Entschuldigen Sie, ich habe mich nur verlaufen.«

»Zu wem wollen Sie denn?«

»Zu einem Herrn Ramolla.«

»Das ist aber kein Arzt.«

»Nein, der Verwaltungsleiter, ich weiß …« Der Mann blieb endgültig stehen und nutzte die Gelegenheit, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Ich bin Vertreter … Prothesen, Glasaugen … Nun, nicht so schöne, wie Sie welche haben, aber …« Er stutzte und musterte sie. Dann schoss jähe Freude in ihm auf. »Gott, ja, Sie sind doch die Schwester Elisabeth aus Seelow!«

»Elisabeth schon, aber nicht aus Seelow, sondern aus Berlin.«

»Ja, aber in Seelow im Feldlazarett, da haben Sie mir das Leben gerettet. Die Ärzte hatten mich schon aufgegeben, bei mir lohne sich der Aufwand nicht mehr. Bei dem wenigen, was man hatte – Kraft, Medikamente –, da war es sinnvoller, andere auf den Operationstisch zu legen. Da sind Sie aber gekommen und haben gesagt: ›Der Karl-Heinz Gößnitz hier, der ist zu schade fürs Massengrab, bei dem versuchen wir’s noch mal!‹ Und dann haben mich Ihre Medizinmänner ja wirklich wieder zusammengeflickt. Bis auf das Bein hier. Aber trotzdem bin ich glücklich, unendlich glücklich, dass ich noch am Leben bin. Meine Frau, meine Kinder …« Die Rührung übermannte ihn. Er umarmte Elisabeth Kusian und küsste sie auf die Stirn. »Danke, danke für alles. Sie sind ein wahrer Engel! Ich weiß, dass Sie dadurch fast selber ums Leben gekommen wären. Der plötzliche Beschuss …«

Als der Mann wieder gegangen war, fühlte Elisabeth Kusian eine entsetzliche Leere in sich aufsteigen. Wozu das alles, die Opfer alle? So schön dieser Dank eben auch gewesen sein mochte: Was konnte sie sich dafür kaufen? Nichts. Und alles, was sie hatte, waren Schulden. Und Schmerzen. Wegen der Wunden von damals. Sie hatte keinen Mann, sie hatte keine Wohnung, sie hatte keine Zukunft. Oder … Wie im Traum sah sie plötzlich einen anderen Mann vor sich, ihren Kurt. Er sah diesem Gößnitz auffallend ähnlich, die beiden hätten Brüder sein können. Sollte das Schicksal doch alles wieder gutmachen, was es an ihr verbrochen hatte?

Da kam Irmgard Gast aus ihrem Zimmer, und Elisabeth Kusian wollte den Aufwind nutzen, den sie gerade zu spüren meinte.

»Na, Frau Gast, Sie haben ja schon wieder einen Schritt am Leibe! Und blendend sehen Sie aus!«

Die Patientin, Mitte der fünfzig und ziemlich schwergewichtig, zuckerkrank, blieb stehen und fühlte sich geschmeichelt. »Ja, bei der guten Pflege hier. Besonders durch Sie, Schwester Elisabeth.«

»Wir tun, was wir können.«

»Aber Sie – Sie sehen schlecht aus. Sind Sie selber krank?« Elisabeth Kusian winkte ab. »Das kann ich mir nicht leisten. Nein, nein, höchstens dass meine Narbe mal schmerzt.« Sie rieb sich über den Unterbauch.

»Auch eine Totaloperation?«

»Nein, im Krieg, im Feldlazarett hat mir ein Granatsplitter den Bauch aufgerissen, und immer wenn es kälter wird, kommen die Schmerzen.«

Frau Gast schüttelte sich. »Das ist ja entsetzlich. Und in diesem Zustand arbeiten Sie?«

»Was soll ich machen: Mein Mann ist im Krieg gefallen, meine Eltern sitzen in der DDR im Zuchthaus, Geschwister und wohlhabende Verwandte besitze ich nicht … nur meine drei Kinder im Heim draußen in Teltow, die ich allein durchbringen muss …« Sie begann zu schluchzen. »Ich kann Ihnen nicht einmal Weihnachtsgeschenke kaufen … Wo alles so teuer ist …«

Die Patientin, immer resolut im Leben, nahm sie in den Arm. »Nun machen wir’s mal umgekehrt, jetzt bin ich mal dran, mich um Sie zu kümmern. Soll ich Ihnen was borgen?«

»Das ist lieb von Ihnen, aber wir dürfen das nicht.«

»Gott, Kindchen, das merkt doch keiner. Ich habe fünfzig Mark im Schrank. Wenn ich nachher auf die Toilette gehe, dann kriegen Sie die. Bis zum neuen Jahr. Dann kommen Sie mal bei mir zu Hause vorbei und bringen mir die zurück. Ohne Zinsen.« Sie lachte, froh über ihre gute Tat.

Elisabeth Kusian konnte aufatmen. Wieder einmal. Und zugleich war sie niedergedrückt. Was war sie denn: eine Bettlerin. Da hatte sie sich auch ein anderes Leben erträumt. Aber immerhin: Zwei Stunden später hatte sie das Geld und konnte überlegen, worüber sich die Kinder am meisten freuen würden.