Das Duell des Herrn Silberstein

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»Ich weiß nur, was alle wissen: dass er in Friedersdorf wohnt.«

»Er will aber nach Berlin zurück, weil es seiner Frau auf dem Dorf nicht recht gefällt«, sagte Dr. Stieber. »Wir dürfen uns dann einmal bei Ihnen umsehen …«

»Aber gern … Auch mein Vater wird sich freuen.« So ausgeschlossen schien Aaron dies gar nicht einmal, erzkonservativ, wie der war. Jetzt erst wurde ihm klar, dass Dr. Stieber vielleicht etwas ganz anderes bei ihm suchte: Schriften seines Freundes Wilhelm Blumenow. Der hatte sich nämlich mit Daniel Benda und einigen anderen zusammengesetzt, um zu überlegen, ob man den »Volksverein«, der sich 1848 aufgelöst hatte, nicht wieder beleben könne und vielleicht die Gründung einer Partei mit dem Namen »Deutscher Volksverein« wagen solle. Aaron selbst liebäugelte eher mit der linksliberalen Fortschrittspartei, die von Rudolf Virchow gegründet worden war, hatte sich aber noch nicht entschließen können, ihr beizutreten. All dies musste bei Hinckeldeys Schnüfflern auf hohes Interesse stoßen, doch sie fanden nichts, sosehr sie sowohl bei Aaron als auch bei seinem Vater alles auf den Kopf stellten.

Als sie wieder abzogen, war der erboster als Aaron selber.

»Wenn sie bei dir alles durchsuchen, dann mag das ja noch angehen, schließlich ist dieser Blumenow dein Freund, und der hat nichts weiter im Sinn, als die Monarchie abzuschaffen. Aber ich bin schließlich ein absolut königstreuer Mann … Ich kann mir das Ganze nur so erklären, dass der Rana den Dr. Stieber auf mich gehetzt hat. Dieser üble Verleumder, dieser Lump!«

AARON SILBERSTEIN machte sich auf den Weg in seine kleine Anwaltskanzlei in der Brüderstraße, die den Schlossplatz mit der Petrikirche verband. Das war vom Hackeschen Markt nicht gerade meilenweit entfernt, aber zu Fuß doch ein ganz schönes Stück, zumal es trotz des nahenden Frühlings nasskalt war. Märzenschnee lag in der Luft. Das Königsschloss, das er als glühender Anhänger der 48er Revolution am liebsten in die Luft gesprengt hätte, umging er weitläufig. Dies auch in der geheimen Angst, einmal so einer zu werden wie der ehemalige Storkower Bürgermeister Heinrich Ludwig Tschech: Der hatte am 26. Juli 1844 im Portal des Schlosses auf den König geschossen. Auf dass Aaron Silberstein gar nicht erst in Versuchung geriet, nahm er den Umweg über die Spandauer Brücke, die Neue Friedrichstraße und die Spandauer Straße in Kauf und erreichte die Brüderstraße, nachdem er die Spree am Mühlendamm überquert hatte und ein Stück die Gertraudenstraße entlanggegangen war, erst an ihrem südlichen Ende, das heißt an der Petrikirche.

»Sand, weeßer Sand!«, schrie ihm jemand ins Ohr. Die Sandwagen kamen aus den Rehbergen im Norden oder vom Kreuzberg im Süden, denn die Hausfrauen brauchten ihn zum Bestreuen der weißgescheuerten Dielen. Als Nächstes hemmte ein Bücklingswagen seinen Lauf, dann ein Kolporteur mit seinem Karren. Der brachte seine Schundromane, seine Geister- und Rittergeschichten in die Dienstbotenkammern, vielleicht auch die Neuruppiner Bilderbogen von Gustav Kühn.

Als Aaron Silberstein die Petrikirche vor sich sah, stieß er fast mit seinem Freund Wilhelm Blumenow zusammen. Der ernährte sich, seit er 1848 auf den Barrikaden gekämpft und dadurch seinen Posten als Assessor im Justizministerium verloren hatte, als kleiner Zeitungsschreiber mehr schlecht als recht und war gezwungen, ständig durch die Stadt zu streifen und auf ein Ereignis zu hoffen, das Stoff für ein paar Zeilen hergab.

»Ich hab was für dich«, sagte Aaron Silberstein, kaum dass sie sich begrüßt hatten.

Blumenow lachte. »Du willst auch konvertieren?«

»Nein. Rosentreter ist ganz offenbar verschwunden.«

»Klar, bevor er dich zum Schwiegersohn bekommt, wandert er lieber nach Amerika aus.«

»Nein, ich bin ernsthaft besorgt: Er hat Katharina nichts von einer Reise oder Ähnlichem erzählt, und es gab auch keinen Streit zwischen ihnen, jedenfalls ist er gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«

Blumenow nahm die Sache noch immer heiter. »Es soll ja Frauen geben, die es schaffen, einen Mann wenigstens eine Nacht lang zu fesseln.«

»Unsinn, so einer ist er nicht. Vor Katharinas Mutter hat er keine andere Frau besessen – und nach ihr auch nicht.«

»Hm …« Blumenow sah den Turm von St. Petri hinauf. »Nur der Himmel mag wissen, was da geschehen ist. Aber was interessiert sich der Himmel schon für uns.«

»Gehst du der Sache mal nach?«

»Ja, mache ich.« Wilhelm Blumenow zog seinen Block hervor und machte sich Notizen. Dabei fiel sein Blick auf eine kleine Eintragung, die da lautete: »Tharah Seligsohn hat mir wieder tüchtig die Leviten gelesen.« Er zeigte sie dem Freund. »Hat dir dein Schwager gesagt, dass er mich gestern bei Stehely getroffen hat …«

»Nein, das hat er nicht. Aber kein Wunder, da du in seiner Gunst sowieso ganz unten stehst.«

Der Grund dafür war ganz einfach: Kaum majorenn geworden, war Wilhelm Blumenow konvertiert. »Da es sowieso keinen Gott gibt, sondern der Kosmos ein sinnloser Ablauf chemischer und physikalischer Prozesse ist«, hatte er kühn erklärt, »erscheint es mir völlig egal zu sein, welcher Religion man angehört.« Stark beeinflusst hatte ihn bei dieser Sicht der Dinge ein gewisser Kaspar Schmidt, ein ehemaliger Lehrer aus Bamberg, der 1845 unter dem Pseudonym Max Stirner eine Schrift mit dem Titel Der Einzige und sein Eigentum verfasst hatte. Darin hatte Wilhelm Blumenow zwei Sätze gefunden, die sozusagen sein Leitstern geworden waren: »Meine Sache ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich.« Auf die Religion bezogen hieß das für ihn, dass man reinen Zweckmäßigkeitserwägungen folgen sollte. Und in Preußen war es, wollte man im Staat Karriere machen, zweifellos zweckmäßig, kein Jude zu sein.

Sonderlich glücklich darüber, ein Converso zu sein, war er allerdings nicht, zumal viele seiner jüdischen Freunde und Bekannten, wenn sie auch nicht gleich mit ihm brachen, zornig auf ihn waren, Tharah Seligsohn allen voran. Immer wieder brachte er es zur Sprache.

»Nu, erinnerst du dich nicht mehr an das, was in Spanien mit den Conversos passiert ist?!« Tharah Seligsohn meinte die Zeit um 1400, als infolge sozialer Unruhen und Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung viele tausend Juden zwangsgetauft wurden. Angeregt vom Gegenpapst Benedikt III., hetzten die Prediger die Spanier auf, die Juden zum Christentum zu zwingen. Viele der Conversos stiegen dann auch wirklich auf und bekleideten hohe Ämter in Kirche und Staat. Bekannt war der Dialog, den es zwischen Pedro de la Cavalleria, dem Finanzminister von Aragón und Berater von Alfonso V., und einem Juden gegeben hatte: »Warum warst du so erpicht darauf, ein Christ zu werden, obwohl du in unserem jüdischen Gesetz so bewandert bist?« – »Sei still, Dummkopf! Konnte ich als Jude hoffen, zu einer höheren Position als ein Rabbi aufzusteigen? Wegen eines Gekreuzigten erhalte ich jetzt solche Ehren, und ich befehle in der Stadt Saragossa. Wenn ich am Versöhnungsfest fasten will, wer kann mich daran hindern?« Und Tharah Seligsohn ließ es sich nicht nehmen, dem Freund seines Schwagers zu erzählen, wie übel die Sache ausgegangen war: »Unter den Altchristen gab es Neid und Missgunst, als die Conversos sich hoher Stellungen und großen Reichtums erfreuten – und was machten sie? Sie brachten viele um.« Insbesondere jene getauften Juden, die sie für Marranos hielten. Mit diesem Schimpfwort – abgeleitet von »Schwein« – belegten die Spanier während der Inquisition von 1481 die Neuchristen, die weiterhin heimlich ihrer alten Religion anhingen.

Aaron Silberstein kannte das und fühlte sich eher gelangweilt davon. »Und weißt du, was mein Schwager immer sagt, wenn wir auf dich zu sprechen kommen?«

»Klar.« Blumenow lachte. Dann musterte er Aaron mit einem spöttischen Blick. »Ich weiß genau, warum du nicht gerne hinhörst, wenn ich davon erzähle, überhaupt darauf zu sprechen komme, dass ich konvertiert bin … Na?«

»Keine Ahnung«, sagte Aaron, obwohl er genau wusste, worauf der Freund hinauswollte.

»Du möchtest es auch, wagst es aber nicht und freust dich klammheimlich, wenn dein Vater auf mich einschlägt. Warum? Weil du mir meinen Mut neidest und erbost über dich bist, denn immer nur zu zögern und zu zaudern ist wenig heldenhaft. Und du musst mein Verhalten grässlich finden, um ein Argument dagegen zu haben, es auch zu tun.«

Aaron wollte auffahren, besann sich aber, weil er sich eingestehen musste, dass der Freund nicht ganz im Unrecht war. Schnell wechselte er das Thema. »Ehe ich’s vergesse, abgelenkt von der Sache mit Rosentreter: Der Dr. Stieber war bei uns zu Hause.«

»Als Gast?« Blumenow sah ihn verständnislos an. »Dein Vater ist doch Baumeister und kein Lumpenhändler.«

»Nicht als Gast war Dr. Stieber bei uns, sondern zur Hausdurchsuchung – und ich bin mir sicher, dass er deinetwegen da war.«

Blumenow schmunzelte. »Ist doch schön, wenn man in einem solchen Maße ernst genommen wird. Je brutaler die Reaktion zuschlägt, desto größere Chancen haben wir. Die preußische Regierung riecht den Atem der Revolution inmitten der scheinbaren Apathie und greift an. Aber damit bewirkt sie nur, dass sich der passive Widerstand in einen aktiven wandelt.«

Aaron Silberstein war hellhörig geworden. »Das klingt mir aber sehr nach diesem … Marx – wie hieß er noch mit Vornamen?«

»Heißt! Noch lebt er ja. Wenn auch in England. Karl, Karl Marx.« Er erinnerte sich gern an die marxsche Polemik, die preußische Führung betreffend. Friedrich Wilhelm IV. hatte er von London aus einen »imbezillen König« genannt und Ferdinand von Westphalen, den Innenminister, einen »schwachköpfigen und fanatischen Reaktionär« und hinzugefügt, er habe genügend Gelegenheit gehabt, die Geisteskraft dieses Mannes richtig einzuschätzen, da er sein Schwager sei. »Und weißt du auch, wer beim Kölner Kommunistenprozess, über den Marx sich so aufgeregt hat, einen Meineid nach dem anderen abgelegt hat, um damit Karriere zu machen?«

 

Aaron Silberstein wusste es. »Ja, unser lieber Dr. Stieber. Und gleich nachdem er in Berlin Polizeidirektor geworden ist, Hinckeldeys rechte Hand, hat er alle verhaften lassen, die Kalabreserhüte aufhatten, weil er geträumt hatte, daran würde man die Revolutionäre erkennen.«

»Die nächste Revolution wird etwas auf sich warten lassen«, sagte Blumenow. »Erst wird es ein paar Kriege geben. Preußen als Großmacht – wie soll das gut gehen?«

Aaron Silberstein winkte ab. »Du, es gibt schlimmere Länder.«

Blumenow lachte. »Wenn du Glück allein als die Summe des Unglücks verstehst, dem man entgangen ist, dann schon. Aber wenn man unser Dasein an den Utopien misst, an Bacon, Morus, Campanella … Ich kämpfe jedenfalls dafür!«

»Und ich bin der Advokat, der dich dann wieder aus dem Gefängnis holt.«

Damit verabschiedeten sich die Freunde, und Aaron Silberstein machte sich daran, die letzten Meter bis zum Eingang seiner kleinen Kanzlei zurückzulegen. Das Fenster war etwas geöffnet, und er sah Menuchim Halbleib, seinen Schreiber und Gehilfen, weit nach vorn gebeugt am Pult stehen und eifrig die Feder ins Tintenfass tunken, um lange Sätze zu Papier zu bringen. Er liebte den alten Kauz, der alleinstehend war und eine kleine Wohnung in der nahen Sperlingsgasse gemietet hatte. Sie begrüßten sich und besprachen einen Rechtsstreit, bei dem es um das Zugangsrecht zu einer Wiese am Stralauer Thor ging. Gerade wollte er sich in sein kleines Bureau zurückziehen, da stand Katharina Rosentreter in der Tür. Er eilte auf sie zu.

»Ist dein Vater wieder … hat er sich wieder …« Er stockte, weil er das rechte Wort so schnell nicht fand. »Angefunden« hätte merkwürdig geklungen.

»Nein.« Katharina Rosentreter setzte sich auf den Besucherstuhl.

»Dürfen wir Ihnen etwas reichen, mein Fräulein?«, fragte Halbleib mit einer so tiefen Verbeugung, dass es in seiner Wirbelsäule hörbar knackte.

»Danke, mir ist jeglicher Appetit vergangen.«

»Vielleicht ein Glas Wasser?«

»Nein, erst wenn ich in Ohnmacht falle.«

Aaron Silberstein setzte sich neben sie, dabei aber um so viel Abstand bemüht, dass kein Außenstehender auf die Idee kommen konnte, hier würden Brautleute miteinander plaudern. Nichts drängte ihn auch, ihr nahe zu sein und ihren Körper zu umfangen. Zu hager und knochig war sie ihm und roch irgendwie nach Mottenpulver statt nach Pariser Parfum. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«

»Bei der Polizei haben sie mich sehr herablassend behandelt.«

»Ich muss nachher sowieso zur Polizeidirektion, da werde ich sehen, was ich für dich tun kann. Wann hast du ihn denn zum letzten Mal gesehen?«

Katharina Rosentreter überlegte einen Augenblick. »Am Dienstagnachmittag gegen drei. Da ist er aus dem Haus gegangen. In dringenden Geschäften. Mehr hat er mir nicht gesagt.«

»Und du kannst dir auch nicht denken, zu wem er wollte?«

»Nein, darüber hat er nie mit mir gesprochen. Und an wen er Geld verliehen hat, das steht in einer dicken Kladde, die er immer in seinem Rock stecken hat.«

Halbleib drehte sich zu ihnen herum. »Eine Reise hat er nicht antreten wollen?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

Die Sache war mysteriös, und Aaron Silberstein konnte sich keinen Reim auf Rosentreters Verschwinden machen. Er wusste nur: Geldverleiher wie er leben stets gefährlich.

DIE FÜNFZIGERJAHRE des 19. Jahrhunderts waren geprägt vom Scheitern der deutschen Revolution von 1848. Die Blütenträume vom liberalen Verfassungsstaat waren ausgeträumt, die Reaktion hatte auf ganzer Front gesiegt. König Friedrich Wilhelm IV. indes war, bedingt durch seine Geisteskrankheit, immer weniger in der Lage, das Land zu regieren. Es verfiel in eine Art Winterschlaf.

In Berlin hatte sich die demokratische Linke, organisiert in der »Volkspartei« und den »Demokratischen Volksvereinen« und mit Benedikt Waldeck als Galionsfigur, nach Aufhebung des Belagerungszustandes zunächst noch halten können, doch dann sorgten insbesondere ein Knebelgesetz vom 11. März 1850 und die »Revidierte Städteordnung« vom 30. Mai 1853 für den Kahlschlag. Die Polizei erhielt ein erheblich erweitertes Kontrollrecht über die politischen Vereine und ihre Versammlungstätigkeit, und der Innenminister Ferdinand von Westphalen erklärte 1851, es sei die Pflicht der Behörden, allen bekannten Führern der Demokratie »eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und nach Befinden der Umstände mit Haussuchungen, Beschlagnahme der Papiere und nötigenfalls Verhaftungen vorzugehen«. Besonders starken Repressionen waren die Oppositionellen in Berlin ausgesetzt, wo der Polizeipräsident Karl Ludwig v. Hinckeldey herrschte.

Die Berliner Polizei hatte 1848 anfangs die Revolutionäre unterstützt, war aber dann zur königlichen Armee übergelaufen, nachdem diese die Oberhand gewonnen hatte. In den Folgejahren hatte sich die Königliche Schutzmannschaft zwar redlich bemüht, die öffentliche Ordnung zu hüten, ihr dringlichstes Ziel aber war es gewesen, sich dem Heer anzugleichen. So trug man seit 1850 Pickelhauben, die den Helmen der Soldaten ähnlich waren. Auch die Polizei stand ja einem gefährlichen Feind gegenüber: der Verbrecherwelt.

Das Königliche Polizeipräsidium befand sich am Molkenmarkt 1, also im Gebäude der Stadtvogtei, und dorthin lenkte Aaron Silberstein seine Schritte. Wie immer betrat er das Gebäude mit unguten Gefühlen, so als würde er sich selber dem Henker ausliefern. Aber ab und an ließ sich ein Besuch in diesem Haus nicht vermeiden, wollte er herausbekommen, wie sich die Dinge für seine Klienten entwickelten. Weit kam er diesmal nicht, denn der Wachhabende drängte ihn in eine Nische. Es war Platz zu schaffen für den Polizeipräsidenten, der gerade mit großem Gefolge die Treppe herunterkam. Nicht mehr als drei Meter mochten Aaron Silberstein von Hinckeldey trennen. Hätte er jetzt eine Pistole bei sich gehabt … Er klammerte sich an eine Säule, um nicht unwillkürlich nach vorn zu stürzen und sich auf den so sehr Gehassten zu werfen. Der Anfall ging vorüber, und er besann sich des Grundes seines Besuchs. Aus seiner Studienzeit kannte er noch den einen oder anderen Beamten, und er ließ sich melden, um ein wenig mit ihnen zu plaudern. So bekam er schnell heraus, wen man mit den Nachforschungen im Fall Rosentreter betraut hatte: »den Schlötel«. Aaron Silberstein verzog das Gesicht, dankte für die Information und machte sich auf den Weg zum Kommissarius.

Ernst Theodor Schlötel stammte aus Fürstenberg an der Havel und war als königlicher Feldwebel zur Polizei gekommen. Er war groß gewachsen und dabei eher hager. Kantig wie sein Schädel war auch seine Art. Sein weizenblondes Haar trug er kurz geschoren, sodass manche es mit einem Stoppelfeld verglichen. Als wortkarg und vierschrötig galt er, und eine lockere Konversation hielt er für eine »welsche Sache«, eines preußischen Beamten unwürdig. In einem ordentlich geführten Staate hatte man mit allem sparsam umzugehen, auch mit seinen Worten. Nur bei der Ausschüttung seines Samens war er verschwenderisch vorgegangen: Er hatte nicht weniger als acht Kinder gezeugt. Die hatten bald begonnen, jeden Tag eine kleine Untat zu begehen, und bei deren Aufklärung hatte er seine ersten Erfahrungen als Kriminaler sammeln können. Wer etwa hatte die Haselrute des Lehrers heimlich angesägt, sodass sie, als er losprügeln wollte, schon in der Luft zerbrach? Und wer hatte der Hökerin auf dem Markt einen Apfel geklaut?

»Ich komme«, begann Aaron Silberstein die Unterredung, »um darauf zu dringen, dass man die Suche nach meinem Mandanten Meir Rosentreter etwas intensiver betreibt.«

Schlötel ließ sich nicht davon abhalten, an einer Speckschwarte zu kauen. »Da ist nichts zu suchen.«

Aaron Silberstein fuhr auf. »Sie meinen, weil er Jude ist, müsse man nicht …«

»Da ist nichts zu suchen«, wiederholte Schlötel ohne jede Regung.

»Wieso?«

»Weil nur noch etwas zu finden ist.«

Aaron Silberstein rang die Hände. »Ja, er.«

»Nein, seine sterblichen Überreste.«

»Das ist ja entsetzlich! Was wissen Sie?«

»Ich habe seinen Mörder schon dingfest machen können.«

»Und wer ist es?«

»Das können Sie morgen in der Zeitung lesen.«

Kapitel 4

»DU STEHST immer noch am Brandenburger Thor, willst noch nicht zu Bett gehen, aber auch nicht mehr viel unternehmen. Gut. Da biete ich dir zweierlei. Rechts von dir winkt der gastliche ›Pariser Keller‹, das fashionabelste dieser unzähligen, nach Hamburger Art entstandenen Delicatessenlocale, wo Dünnwald … seine guten Weine der Vernichtung Preis giebt, wenn du selbst den Preis giebst. Oder willst du noch eine Stunde die Sinne erregen, so folge mir zu Kroll, gehe aber dennoch vorher eine halbe Stunde in den Pariser Keller.«

So wie es Ludwig Löffler in seinem Reiseführer Berlin und die Berliner von 1856 empfahl, wollte es auch Karl-Hermann Rana halten, als er am Sonnabend kurz vor Mitternacht die Friedrichstraße entlangkam und auf die Linden zuhielt.

Eigentlich hätte er Karl-Hermann Frosch heißen müssen, doch sein Großvater väterlicherseits, hoher Beamter in der K.-u.-k.-Monarchie, hatte keine Kosten und Mühen gescheut, von diesem Nachnamen loszukommen. Zu sehr hatte er ihn der Lächerlichkeit preisgegeben. Bei Frosch, da assoziierte doch ein jeder: feige, glubschäugig und glibbrig. Bestenfalls wurde er als »unser Froschkönig« verspottet. Die Kaiserin hatte schließlich ein Einsehen gehabt und der Latinisierung seines Namens zugestimmt: rana, ae hieß »der Frosch«. Das Dumme war nur, dass das Gesicht des Karl-Hermann Rana in der Tat etwas Froschhaftes hatte und viele Menschen genügend Latein verstanden, um seinen Namen ins Deutsche rückübersetzen zu können. Und das taten sie bei seinem Anblick mit einem ununterdrückbaren Reflex, denn Ranas braune Augen traten so stark hervor, dass sie auf Stielen zu sitzen schienen. Hinzu kamen sein breiter Mund und eine Haut, deren Farbe so fahl wie Roggenmehl war und bei entsprechender Bekleidung fast grünlich schimmerte, aber auch die Eigenart, bei der geringsten Erregung im Raume hin und her zu springen, mit riesigen und extrem nach außen weisenden Füßen. Ein Faun war er, ein immer fröhlicher Zecher und einer, der nichts so liebte wie das Spiel. Ja, sein ganzes Leben verstand er als Spiel.

Zur Welt gekommen war er am 17. April 1817 in Salzburg als Sohn eines Diplomaten und einer Frau aus dem Volke, der Tochter eines Zuckerbäckers. Dieser, sein heiß geliebter Großvater, hatte ihn als Kind angeregt, aus Marzipan, Nougat und anderen süßen Materialien Türme, Burgen und Schlösser zu formen. »Das wird einmal ein großer Baumeister!«, hatten da die Erwachsenen ausgerufen, und er hatte das später immer als Prophezeiung verstanden. Dieser Berufswunsch hatte sich dann verfestigt, als sein Vater einige Jahre in Griechenland und Italien verbrachte und Karl-Hermann die großen Bauwerke der Antike aus nächster Nähe bestaunen konnte.

Nach dem Studium in Wien und München hatte er an der Isar sein Examen gemacht und sich im süddeutschen Raum mit dem Bau mehrerer Kirchen, Landhäuser und städtischer Verwaltungsgebäude schnell einen Namen gemacht. Wegen hoher Spielschulden war er dann im Jahre 1851 nach Preußen ausgewichen und hatte sich in Berlin mit kleineren Aufträgen über Wasser gehalten. Zumeist hatte er Villen entworfen und hochgezogen für Bauern, die durch den Verkauf ihrer Wiesen und Felder zu Geld gekommen waren – immer mit viel Schinkel an der Fassade. Aber auch am Bau des ersten Berliner Wasserwerks, das gerade am Stralauer Thor in Betrieb gegangen war, war er beteiligt.

Rana war ein ausgesprochener Nachtmensch. Jeden Abend trieb es ihn in die Stadt hinaus. In seiner Wohnung in der Behrenstraße glaubte er zu ersticken. Eine Ehefrau, die ihn im trauten Heim gehalten hätte, gab es nicht. Ein lupenreiner Hagestolz war er mitnichten, aber die Schönen und die Reichen mochten ihn nicht, und auf ein biederes Hausmütterchen konnte er gern verzichten. Überkam ihn die Fleischeslust, zog er los, sich eine Frau zu suchen, die bezahlbar war und wieder verschwand, wenn sie ihm lästig zu werden begann.

Als er Unter den Linden angekommen war und nach links zum Pariser Platz abbiegen wollte, kam ihm ein Mann entgegen, der ihm in diesem Moment höchst lästig war, weil er ihn an seine Arbeit erinnerte. In der Tat fragte ihn Louis Krimnitz sofort, ob er nicht eine tüchtige Maurerkolonne benötige oder einen Lastkahn voller Kies. Vielleicht auch Ziegel aus Zehdenick?

 

»Nichts von alledem, mein Lieber, das Einzige, was ich derzeit brauche, ist ein üppiges Weib.«

»Das geht mir nicht anders, ich bin gerade auf dem Wege ins Gesellschaftshaus.«

»Nicht zu Kroll?«

»Da geh ich erst wieder hin, wenn eine italienische Nacht angekündigt ist.«

Rana überlegte nicht lange. »Schön, dann begleite ich Sie. Ist ja auch näher.« Während Kroll’s Etablissement noch hinter dem Brandenburger Thor gelegen war, brauchten sie zum Gesellschaftshaus nur ein kurzes Stück die Friedrichstraße hinaufzugehen und dann rechts in die Dorotheenstraße einzubiegen, schon waren sie am Bauhaus 7.

Auf dem Weg dorthin begegnete Rana einem Kunsthändler, den er schon lange kannte und der ihm immer wieder Pikantes anzubieten hatte. Er trug ein Gemälde unter dem Arm, dessen Rahmen so groß war, dass er ihn, sosehr er ihn unter die Achsel presste, mit den Fingerspitzen kaum noch greifen konnte. Das Kunstwerk war nicht nur von einem weißen Laken verhüllt, sondern auch noch, gleich einem Paket, mit Bindfäden gesichert.

Rana lachte. »Na, Rotzis, was haben Sie denn da wieder Schönes zu verbergen?«

Der Kunsthändler trat nahe an ihn heran, um ihm ins Ohr zu flüstern, dass es ein einmaliger Genuss sei, dieses Bild zu betrachten. »Wieder etwas aus der Bibel, 1. Buch Mose, 19. Kapitel: Wie Lots Töchter ihren Vater betrunken machen, damit sie seinen Samen bekommen. Wollen Sie mal einen Blick drauf werfen?« Er zog das Laken ein Stück zurück.

Rana war begeistert. »Sofort gekauft! Das fehlt mir noch in meiner Sammlung. Schaffen Sie’s zu mir nach Hause, das Geld bringe ich Ihnen morgen vorbei.«

Im Gesellschaftshaus ging es so zu, wie es bei Löffler zu lesen war: »Allmählich finden sich die Tänzerinnen ein; die durch Toilette zu einer gewissen Geltung gebrachten Reize werden zur Schau gestellt, der Liebe-Markt beginnt. Gegen Mitternacht vergrößert sich die Gesellschaft und nimmt den ihr zukommenden gemischten Charakter an. Die Herren, bis dahin nur spärlich durch einige brotlose Ladendiener und duftende Frisörgehilfen vertreten, mehren sich durch edlere Ankömmlinge. Der Jurist kommt und sieht sich bald von seinen schönen, erst kürzlich entlassenen Sträflingen, der Arzt von der gesundeten Bevölkerung der Charité umgeben. Der Künstler findet seine Modelle, der Offizier in Civil lässt über das Ganze seine sieggewohnten Blicke schweifen, der Provinziale murmelt etwas von ›unterhaltenen Frauenzimmern‹. Die Logen füllen sich, die entlegenen Tische werden besetzt, und so mancher von der ängstlichen Frau erwartete Ehemann schwelgt, unbekümmert um die Entdeckung, an der Seite einer Marchande d’amour

Nach einer solchen suchten nun auch Karl-Hermann Rana und Louis Krimnitz: nach blonden Locken, nach dunklen Augen, nach einer in schottische Seide gezwängten schmiegsamen Taille. Doch auf wen stieß Rana? Auf seinen alten Freund Hans Wilhelm v. Rochow auf Plessow, Rittergutsbesitzer, Leutnant a. D. und Mitglied des Preußischen Herrenhauses. Sie setzten sich an einen Tisch, an dem sie weithin ungestört waren, und gaben Krimnitz ein Zeichen, sich doch bitte anderswo zu platzieren.

»Was gibt es Neues?«, fragte Rochow, nachdem er eine Flasche Wein geordert hatte.

Rana schmunzelte. »Du bist es doch, der Geschichtsträchtiges erlebt.«

»Ich hoffe jedenfalls.« Rochow wusste, worauf der Privatarchitekt da anspielte: auf die Ereignisse im Jockeyclub, der im »Hotel du Nord« Unter den Linden angesiedelt war. Junge Adlige trafen sich dort regelmäßig zum Glücksspiel, und Polizeipräsident v. Hinckeldey hatte dem Leutnant Damm befohlen, in die Räume einzudringen, die Runde aufzulösen und die Namen der Spieler festzuhalten. Zwei von ihnen waren daraufhin aus Preußen ausgewiesen worden. »Eine bodenlose Frechheit. Dieser Armleuchter v. Hinckeldey tut so, als sei er der König.«

Rana lächelte. »Man hört, seine Majestät haben geruht, die Razzia höchstpersönlich anzuordnen.«

Rochow zog die Augenbrauen hoch, um anzudeuten, was vom Geisteszustand Friedrich Wilhelms IV. zu halten war. »Wrangel und Prinz Wilhelm stehen fest zu uns, und das ist es, was zählt.« Rochow holte einen Artikel der Vossischen Zeitung aus der Brusttasche und faltete ihn auseinander. »Hör mal, was sie schreiben: dass sich der Adel von dieser Aktion brüskiert fühlt … Und dann über mich: ›Hans v. Rochow war so wenig damit einverstanden, dass er den Weg der Beschwerde betrat und hierbei Ausführungen machte, welche der General-Polizei-Director als beleidigend für sich ansehen zu müssen glaubte.‹ Schön, nicht?«

»Aber dich gefordert hat er nicht?«

»Zum Duell? Nein, leider nicht. Dazu war die Dosis diesmal noch zu niedrig. Aber wir werden sie zu steigern wissen. Denn eines steht fest: Dieser Hinckeldey muss eliminiert werden!«

KARL LUDWIG FRIEDRICH V. HINCKELDEY entstammte dem niederen Beamtenadel und war am 1. September 1805 in Sachsen-Meiningen als Sohn eines Geheimen Regierungsrats geboren worden. Er hatte von 1823 bis 1826 Rechtswissenschaften an den Universitäten Berlin und Göttingen studiert und war dann in den preußischen Staatsdienst eingetreten, wo er, erzkonservativ wie er war, schnell Karriere machte. 1834 wurde er zum Regierungsrat ernannt, 1842 kam er als Oberregierungsrat nach Merseburg, und am 14. November 1848 holte man ihn nach Berlin, um ihn zum Polizeipräsidenten zu berufen. Für Ruhe und Ordnung sollte er sorgen und das liquidieren, was von der Revolution noch geblieben war.

Diese Aufgabe erfüllte er überaus einfallsreich. Rücksichtslos und ohne jeden Skrupel ließ er alle jagen, die im Geruch standen, demokratisch zu sein. Im April 1851 gründete er den Deutschen Polizeiverein, dessen Aufgabe es wurde, die Kräfte der Geheimpolizei in den Staaten des Deutschen Bundes zu koordinieren. Ziel war »die Ausspähung, Prävention und Bekämpfung jeglicher oppositionell erachteter Bestrebungen«. Durch verschiedene Machenschaften gelang es ihm zudem, 1853 zusätzlich Generalpolizeidirektor zu werden, das heißt Leiter der Polizei im Ministerium des Innern. Er sorgte dafür, dass die Theater- und Pressezensur verschärft wurde, ließ Zeitungen beschlagnahmen und schuf eine gigantische Überwachungsmaschinerie. So wurden alle Reisenden und die Menschen, die sich in Berlin niederlassen wollten, überwacht, selbst wenn sie von Adel waren. Haussuchungen und Razzien in Wirts- und Vereinshäusern waren an der Tagesordnung, und es wimmelte überall von Spitzeln. Und vermochte er »subversive Elemente«, auch in den eigenen Reihen, auf diese Art und Weise nicht unschädlich zu machen, so wurden falsche Zeugen ins Spiel gebracht. Joseph Fouché hätte seine helle Freude an diesem Mann gehabt.

Karl-Hermann Rana war ein durch und durch dionysischer Mensch, und er liebte nichts mehr als das Spektakel, ja den Skandal. Und da sollte er im März 1856 voll auf seine Kosten kommen. Beim sogenannten Karussellreiten der Hof- und Gardeoffiziere hatten sich auch acht Polizeibeamte Zugang verschafft. Als sie von den erzürnten Adeligen des Platzes verwiesen wurden, ließen sie den Polizeipräsidenten herbeirufen. Hinckeldey erschien auch prompt, wurde aber am Eingang von mehreren Offizieren zurückgewiesen. Rochow, der mit dem preußischen Innenminister Ferdinand von Westphalen in der Nähe stand, beleidigte Hinckeldey derart rüde, dass der nicht mehr an sich halten konnte und Rochow zum Duell forderte.

»Der ist dem lieben Rochow also voll ins Messer gelaufen«, sagte Rana später zu seinem Freund Benno Frühbeis.

»Hinckeldey hat sich darauf verlassen, dass der König das Duell verbieten würde.« Benno Frühbeis war Schauspieler am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater und hatte Freunde, die am Hofe ein und aus gingen und stets auf dem Laufenden waren.