Vater Goriot

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Wohl unbewußt von der Kraft des einen und der Schönheit des anderen angezogen, teilte Fräulein Taillefer ihre verstohlenen Blicke und heimlichen Gedanken zwischen diesem Vierzigjährigen und dem jungen Studenten; aber keiner von ihnen schien an sie zu denken, obwohl der Zufall von einem Tage zum anderen ihre Lage ändern und sie zu einer reichen Partie machen konnte. Im übrigen gab sich keiner der Leute hier die Mühe, nachzuforschen, ob das vorgebliche Unglück der anderen wahr oder unwahr sei. Alle hatten füreinander nur Gleichgültigkeit und Mißtrauen, eine Folge ihrer eigenen mißlichen Lage. Sie sahen sich machtlos, einander ihre Bürde zu erleichtern, und alle hatten schon längst zu den Klagen der anderen den Becher des Beileids geleert. Gleich alten Eheleuten hatten sie einander nichts mehr zu sagen. Es verband sie also nur die Gemeinsamkeit der äußeren Lebensbedingungen, – ein ungeöltes Räderwerk. Alle mußten sie dem blinden Bettler auf der Straße ausweichen, traurige Schicksalsschläge ungerührt mit ansehen und in jedem Todesfall die Lösung eines Problems erblicken, das sie gefühllos gemacht und sogar dem Todeskampf seine Schrecken genommen hatte. Die glücklichste unter diesen trostlosen Seelen war Frau Vauquer, die freie Herrin jenes Armenhauses. Für sie allein war der kleine Garten, den Hitze und Kälte, Trockenheit und Nässe in eine öde Steppe verwandelt hatten, ein blühendes Gehege. Für sie allein besaß das gelbe und düstere Haus mit seinem widerlichen Geruch einen Reiz. Seine Gefängniszellen gehörten ihr; sie nährte die armen Sklaven, die das Leid ihr zugeführt hatte und die sich ihrer Oberhoheit demütig unterwarfen. Wo hätten die armen Wesen in ganz Paris zu ebenso mäßigem Preise gesunde, zureichende Lebensbedingungen gefunden und einen Raum, den sie sich, wenn auch nicht elegant und behaglich, so doch sauber einrichten durften? Selbst wenn sie sich irgendeine schreiende Ungerechtigkeit erlaubt hätte, so würden ihre Opfer das ohne Klage hingenommen haben.

Mußte nicht das Leben in einer solchen Pension ein kleines Spiegelbild der großen menschlichen Gesellschaft sein? – So war es auch.

Unter den achtzehn Tischgenossen fand sich, wie in der Schule, wie in der großen Welt, ein armes ausgestoßenes Geschöpf, ein Sündenbock, auf den Neckerei und Bosheit niederregneten. Zu Beginn des zweiten Jahres, das Eugen von Rastignac hier zubrachte, wurde jene Gestalt für ihn die bedeutsamste von allen, in deren Mitte er noch zwei Jahre zuzubringen verurteilt war. Dieser Sündenbock war der alte Nudelfabrikant, der Vater Goriot, auf dessen Kopf ein Maler alles Licht seines Gemäldes vereinigt hätte. Durch welchen Zufall hatte diese halb gehässige Verachtung, diese halb mitleidige Niedertracht gerade den ältesten, ehrwürdigsten der Pensionäre getroffen? Hatte er durch irgendwelche Lächerlichkeiten oder Absonderlichkeiten, gegen die man unduldsamer ist als gegen das Laster, Veranlassung dazu gegeben? Diese Fragen streifen an gar manche Ungerechtigkeit der Welt. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, dem alles aufzubürden, der alles erträgt, sei es nun aus wahrer Demut, aus Schwachheit oder Gleichgültigkeit. Lieben wir nicht alle, auf Kosten irgendeines anderen unsere eigene Stärke darzutun? Das schwächste Geschöpf, der Gassenjunge, erdreistet sich, an allen Haustüren die Glocke zu ziehen, oder er klettert an einem neuen Denkmal empor, um seinen Namen daranzuschreiben.

Vater Goriot, ein Greis von etwa zweiundsechzig Jahren, hatte sich im Jahre 1813 von den Geschäften zurückgezogen und bei Frau Vauquer eingemietet. Er nahm damals die jetzt von Frau Couture bewohnten Zimmer ein und zahlte zwölfhundert Franken Pension, als ein Mann, dem es auf fünf Louis mehr oder weniger nicht ankam. Frau Vauquer hatte die Zimmer für eine im voraus bezahlte Summe neu eingerichtet und ihr Geschäft dabei gemacht; die Neueinrichtung bestand aus gelben Kalikovorhängen, lackierten, mit Utrechter Samt bezogenen Lehnstühlen, einigen Öldrucken und einer Tapete, wie sie schlechter kaum in der simpelsten Vorstadtschenke gefunden werden könnte. Vielleicht war es gerade die sorglose Freigebigkeit Vater Goriots, der damals noch achtungsvoll Herr Goriot genannt wurde, was ihn in den Augen der anderen zu einem Dummkopf machte, der von Geschäften nichts verstehe.

Goriot kam und brachte eine reiche Garderobe mit, die glänzende Ausstattung eines Geschäftsmannes, der sich nichts zu versagen braucht. Frau Vauquer hatte achtzehn Hemden aus holländischer Leinwand bewundert, deren Feinheit noch durch zwei von einem goldenen Kettchen zusammengehaltenen Brillantnadeln erhöht wurde, mit denen der Nudelfabrikant sein Vorhemd schmückte. Er trug für gewöhnlich einen blauen Anzug und legte jeden Tag eine weiße Pikeeweste an, unter der sein birnenförmiger Bauch behaglich schaukelte und eine schwere goldene, mit Verlocken behangene Uhrkette in Schwingungen setzte. Seine ebenfalls goldene Tabaksdose enthielt ein Medaillon voller Haarlocken, was ihm das Ansehen eines vom Glück begünstigten Mannes verlieh. Als seine Wirtin ihn vertraulich einen ›galanten Gecken‹ nannte, huschte über sein Gesicht das vergnügte Lächeln des Spießbürgers, dem man sein Steckenpferd tätschelt. In seinen Schränken und Kommoden verwahrte er Silberzeug. Die Augen der Wirtin leuchteten, als sie ihm liebenswürdig behilflich war, die Sachen auszupacken und einzuräumen. Da gab es Vorlegelöffel, Bestecke, Essig-und-Öl-Gestelle, Saucenschüsseln, Fisch- und Kuchenplatten, vergoldetes Frühstücksgeschirr, kurz, eine Menge mehr oder weniger schöner Dinge, die viele Pfund wogen und von denen er sich nicht trennen wollte, denn es waren Geschenke, die ihn an die Feierstunden seines Ehelebens erinnerten.

»Dies hier«, sagte er zu Frau Vauquer und legte die Hand zärtlich auf eine Platte und ein kleines Kännchen, dessen Deckel von zwei sich schnäbelnden Tauben gebildet wurde, »ist das erste Geschenk meiner Frau; sie gab es mir am Jahrestag unserer Hochzeit. Arme Kleine! Sie hatte ihre ganzen Mädchenersparnisse dafür hingegeben. Sehen Sie, liebe Frau, ich möchte lieber die Erde mit meinen Nägeln aufkratzen, als mich hiervon trennen. Gott sei Dank, ich werde bis ans Ende meiner Tage meinen Kaffee aus diesem Kännchen genießen können! Ich bin nicht zu beklagen, ich habe für lange Zeit Brot im Kasten.«

Schließlich hatte Frau Vauquers spähender Elsternblick auch noch in Goriots Hauptbuch ein paar Zahlen entdeckt, die, flüchtig zusammengerechnet, ergaben, daß der treffliche Alte eine Jahreseinnahme von acht- bis zehntausend Franken haben mußte. Von da an nährte Frau Vauquer, geborene von Conflans, die damals achtundvierzig Jahre zählte, aber neununddreißig zugestand, einen gewissen Gedanken. Obgleich Goriots Augen rot und geschwollen waren, weshalb er sie oft trocknen mußte, fand sie ihn von angenehmem und stattlichem Äußeren. Überdies ließ seine kräftige, schön geschwungene Wade und seine lange, breite Nase auf gewisse moralische Eigenschaften schließen, auf die die Witwe Wert zu legen und die das einfältige Vollmondgesicht des Biedermannes noch zu bestätigen schien. Das mußte ein kräftig gebauter Mann sein, fähig, all seinen Geist in Gefühle umzusetzen. Seine taubengrauen Haare, die der Friseur des Polytechnikums ihm jeden Morgen ordnete und puderte, zeichneten fünf Löckchen auf seine niedrige Stirn und standen ihm gut zu Gesicht. War er auch etwas plump, so kleidete er sich doch stets so sorgfältig, schnupfte so reichlich und streute dabei so viel Tabak um sich, daß er ganz den Eindruck eines Mannes machte, der sicher ist, seine Tabaksdose zeitlebens voll Makuba zu sehen. So kam es, daß am Tage seines Einzuges Frau Vauquer, als sie sich abends schlafen legte, im Feuer ihres glühenden Wunsches schmorte wie das Rebhuhn in seiner Speckschwarte; ihre Wünsche aber gingen dahin, das Leichentuch Vauquer abzulegen und als Goriot wieder aufzuerstehen. Sich verheiraten, ihre Pension verkaufen, diesem feinen Bürger die Hand reichen, in ihrem Viertel eine angesehene Dame werden, sich durch Mildtätigkeit angenehm auszeichnen, des Sonntags kleine Ausflüge machen nach Choisy, Soissy, Gentilly, nach Gefallen ins Theater gehen, in die Loge, ohne auf die Freibillette warten zu müssen, die ihr einige ihrer Pensionäre im Sommer zukommen ließen, – sie träumte sich das ganze Dorado eines kleinen Pariser Haushalts zusammen. Übrigens besaß sie, was sie niemandem verraten hatte, ein Sou für Sou zusammengespartes Vermögen von vierzigtausend Franken. Ja, was das Geld anlangte, hielt sie sich mit Recht für eine gute Partie.

›Und im übrigen bin ich dem guten Manne durchaus ebenbürtig‹, sagte sie sich und drehte sich im Bett herum, wie um sich selbst die Formenreize zu vergegenwärtigen, die die dicke Sylvia jeden Morgen im Bett eingedrückt fand.

Von jenem Tage an benutzte die Witwe Vauquer den Friseur des Herrn Goriot und gab etwas mehr für ihre Kleidung aus, was sie mit der Notwendigkeit entschuldigte, ihrem Hause einen gewissen Glanz zu verleihen, damit es der ehrenwerten Gäste würdig sei. Sie strengte sich sehr an, ihre bisherigen Pensionäre aus dem Hause zu bekommen, unter dem Vorgeben, von nun an nur in jeder Hinsicht angesehene Leute aufnehmen zu wollen. Zeigte sich ein Fremder, so rühmte sie sich der Ehre, die Herr Goriot, einer der geachtetsten Geschäftsleute von Paris, ihrem Hause erwiesen habe. Sie versandte Prospekte, auf denen zu lesen stand: ›Haus Vauquer‹. Es sei, sagte sie, eine der ältesten und berühmtesten Familienpensionen des Quartiers Latin. Man genieße von hier eine prächtige Aussicht auf das Val des Gobelins – vom dritten Stock aus war es sichtbar – und habe dicht beim Hause einen ›hübschen‹ Garten, an dessen Ende eine ›Lindenallee‹ sich ›erstrecke‹. Sie redete ferner von guter Luft und idyllischer Ruhe. Dieser Prospekt führte ihr die Gräfin de l'Ambermesnil zu, eine Frau von sechsunddreißig Jahren, die auf Regelung und Erledigung einer Pension wartete, die man ihr als der Witwe eines ›auf den Schlachtfeldern‹ gefallenen Generals schuldete. Frau Vauquer sorgte für bessere Kost, heizte fast sechs Wochen lang die Wohnräume und hielt die Versprechungen ihres Prospekts gut inne, da sie auch so noch ihren Schnitt dabei machte. Die Gräfin verkündete daraufhin Frau Vauquer, die sie ›liebe Freundin‹ nannte, daß sie ihr die Frau Baronin Vaumerland und die Witwe des Obersten und Grafen Picquoiseau zuführen wolle, zwei ihrer Freundinnen, die vorläufig noch im Marais2 in einer weit teureren Pension eingemietet seien. Sobald die Bureaus des Kriegsministeriums mit ihrer Abrechnung fertig wären, würden diese Damen, wie auch sie selbst, sehr gut gestellt sein.

 

»Aber«, sagte sie, »die Bureaus werden nie fertig.«

Die beiden Witwen stiegen nach Tisch hinauf in das Zimmer der Frau Vauquer und machten ein kleines Schwätzchen, wobei sie Johannisbeerlikör tranken und Süßigkeiten naschten. Frau de l'Ambermesnil billigte vollständig die Absichten ihrer Wirtin auf Goriot: vortreffliche Absichten, die sie übrigens vom ersten Tage an geahnt habe; sie hielt ihn für einen prächtigen Mann.

»Ah, meine liebe Dame, ein Mann – gesund wie mein Auge!« sagte die Witwe Vauquer, »ein vortrefflich konservierter Mann, der einer Frau noch viel Vergnügen bereiten kann.«

Die Gräfin ließ sich herab, Frau Vauquer ein paar Worte über ihre Kleidung zu sagen, die mit ihrem Vorhaben nicht in Einklang stände.

»Sie müssen sich auf den Kriegsfuß stellen«, sagte sie zu ihr.

Nach langem Überlegen gingen die beiden Witwen gemeinsam zum Magasin du Palais-Royal, wo sie einen Federhut und eine Haube kauften. Die Gräfin schleppte ihre Freundin zum Magasin de la Petite Jeannette, wo sie ein Kleid und eine Schärpe auswählten. Als die Witwe so unter den Waffen stand, hatte sie alle Ähnlichkeit mit einem Pfingstochsen. Nichtsdestoweniger glaubte sie sich so sehr zu ihrem Vorteil verändert, daß sie sich in der Schuld der Gräfin fühlte und sie – allerdings schweren Herzens – bat, einen Hut zu zwanzig Franken von ihr anzunehmen. In Wahrheit rechnete sie damit, sie um den Dienst zu bitten, Goriot auszuhorchen und sie bei ihm herauszustreichen. Frau de l'Ambermesnil widmete sich sehr eifrig diesem Freundschaftsdienst und stellte dem alten Nudelfabrikanten nach, und schließlich gelang es ihr, eine Unterredung mit ihm zu erreichen. Aber da sie ihn den Versuchungen gegenüber, denen sie ihn in ihrem eigenen Interesse aussetzte, zurückhaltend, um nicht zu sagen widerstrebend fand, verließ sie ihn, empört über seine Plumpheit.

»Mein Engel,« sagte sie zu ihrer lieben Freundin, »aus diesem Manne werden Sie nie etwas herausholen! Er ist lächerlich mißtrauisch, ein Geizhals, ein Tölpel, ein Dummkopf, der Ihnen nur Unannehmlichkeiten bereiten wird.«

Zwischen Herrn Goriot und Frau de l'Ambermesnil hatten sich derartige Dinge ereignet, daß die Gräfin nicht mehr mit ihm zusammenzutreffen wünschte. Sie verschwand daher anderntags, wobei sie vergaß, die Rechnung zu bezahlen, die sich auf sechs Monate Kost und Wohnung belief. Ein abgelegtes Kleid im Werte von etwa fünf Franken war das einzige, was sie zurückließ. Mit wieviel Eifer auch Frau Vauquer die Nachforschungen betrieb, sie konnte in ganz Paris keine Auskunft über die Gräfin de l'Ambermesnil erhalten. Sie sprach oft von diesem schweren Schlag, der sie betroffen hatte, und beklagte ihre allzu große Vertrauensseligkeit, und doch war sie mißtrauischer als eine Katze. Aber sie glich sehr jenen Leuten, die den Nahestehenden mißtrauen und sich dem ersten besten Fremden ausliefern; eine seltsame, aber oft beobachtete Tatsache, deren Wurzel im Menschenherzen leicht zu finden ist. Vielleicht haben solche Seelen bei ihrer nächsten Umgebung nichts mehr zu gewinnen; sie haben ihr die Leere ihrer Seele aufgedeckt und fühlen sich mit verdienter Härte von ihr verurteilt. Da sie aber ein unbezwingliches Bedürfnis haben, sich umschmeichelt zu sehen, oder gern Eigenschaften vortäuschen möchten, die sie nicht besitzen, so hoffen sie die Achtung oder die Liebe eines Fremden zu erringen, selbst auf die Gefahr hin, sich eines Tages betrogen zu sehen. Endlich gibt es auch geborene Mietlinge, die ihren Freunden oder Angehörigen nicht den kleinsten Dienst erweisen, weil er hier selbstverständlich wäre, wohingegen, wenn sie sich einem Fremden widmen, ihre Eigenliebe einen Gewinn davonträgt. Je näher ihnen jemand steht, um so weniger lieben sie ihn; je ferner er steht, um so ergebener sind sie. Frau Vauquer gehörte sicherlich zu diesen beiden Arten in hohem Maße kleinlicher, falscher und widerwärtiger Naturen.

»Wenn ich hier gewesen wäre,« sagte Vautrin zu ihr, »so wäre Ihnen das Unglück nicht zugestoßen. Ich hätte Ihnen die Schurkin schon entlarvt. Ich verstehe mich auf solche Fratzen.«

Wie alle beschränkten Geister hatte Frau Vauquer die Gewohnheit, aus dem engen Kreise der Ereignisse nicht herauszutreten und nicht nach ihren Ursachen zu forschen. Sie liebte es, für ihre eigenen Fehler andere verantwortlich zu machen. Als dieser Verlust sie traf, betrachtete sie den biederen Nudelfabrikanten als die Ursache ihres Unglücks und begann von da an, wie sie sagte, sich an ihm ›schadlos zu halten‹. Als sie die Nutzlosigkeit ihrer Verführungskünste und Putzsucht eingesehen hatte, zögerte sie nicht, einen Grund für die Zurückhaltung des Alten aufzustellen. Sie sagte sich also, daß ihr Pensionär wahrscheinlich schon ›seine Schliche‹ habe. Sie gewann die Überzeugung, daß ihre so zärtlich genährten Hoffnungen nichts als Luftschlösser waren und daß sie, wie die Gräfin, die ihr nun wie eine Kennerin schien, so richtig gesagt hatte, ›aus dem Manne da niemals etwas herausholen würde‹. Naturgemäß ging sie in ihrer Abneigung weiter, als sie in ihrer Freundschaft gegangen war. Ihr Haß entsprang nicht enttäuschter Liebe, sondern enttäuschter Erwartung. Wenn das menschliche Herz Ruhe findet, sobald es den Gipfel der Zuneigung erklommen hat, so hält es doch selten im steilen Abstieg des Hasses inne. Aber Herr Goriot war ihr Pensionär; die Witwe sah sich also genötigt, die Ausbrüche verwundeter Eigenliebe zu ersticken, die Seufzer der Enttäuschung zurückzuhalten und ihre Rachegefühle zu bezähmen, wie ein Mönch, den sein Prior geärgert hat. Kleine Geister befriedigen ihre Gefühle, seien sie gut oder schlecht, durch endlose Kleinlichkeiten. Die Witwe entfaltete die ganze Bosheit ihrer Frauenseele, um gegen ihr Opfer geheime Ränke zu spinnen. Sie begann damit, den in letzter Zeit eingeführten Überfluß in der Beköstigung der Pensionäre wieder abzuschaffen.

»Keine Gurken mehr, keine Sardellen; das sind Dummheiten«, sagte sie zu Sylvia an dem Morgen, da sie ihr ehemaliges Programm wieder aufnahm.

Herr Goriot war ein einfacher Mann, dem die Sparsamkeit eines Menschen, der sich mühsam hatte emporarbeiten müssen, zur Gewohnheit geworden war. Suppe, gekochtes Fleisch und Gemüse, mehr beanspruchte er nicht. Es war also für Frau Vauquer nicht leicht, ihren Pensionär zu quälen, da sie ihm mit ihrem vereinfachten Küchenzettel nichts anhaben konnte. Sie beschloß daher, ihm auf andere Weise zu schaden: sie behandelte ihn verächtlich und suchte ihn in den Augen seiner Mitpensionäre herabzusetzen, sie verstand es, eine allgemeine Abneigung gegen Goriot zu erwecken und sich auf diesem Umweg an ihm zu rächen. Gegen Ende des ersten Jahres war das Mißtrauen der Witwe so groß geworden, daß sie sich fragte, weshalb der Kaufmann, der sieben- bis achttausend Franken Rente, einen kostbaren Silberschatz und Schmuck und Wertsachen besaß wie eine Buhlerin, sich bei ihr eingemietet habe und ihr nur ein zu seinem Vermögen in gar keinem Verhältnis stehendes bescheidenes Pensionsgeld bezahle. Während des größten Teiles dieses ersten Jahres hatte Goriot häufig ein- oder zweimal wöchentlich außerhalb gespeist; dann war es allmählich dahin gekommen, daß er höchstens zweimal im Monat in der Stadt speiste. Die kleinen Vergnügungsfahrten Goriots waren für Frau Vauquer viel zu einträglich, als daß sie nicht über die zunehmende Regelmäßigkeit, mit der ihr Pensionär die Mahlzeiten im Hause einnahm, unzufrieden gewesen wäre. Sie schrieb diese Veränderung sowohl einer langsamen Abnahme seines Vermögens als auch seiner Absicht zu, seine Wirtin zu ärgern. Eine der widerlichsten Eigenschaften der kleinen Seelen ist es, ihre eigene Kleinlichkeit bei den anderen vorauszusetzen. Unglücklicherweise rechtfertigte Goriot gegen Ende des zweiten Jahres die Verdächtigungen, die man über ihn äußerte, indem er Frau Vauquer ersuchte, seine Wohnung in den zweiten Stock zu verlegen und seine Pension auf neunhundert Franken herabzusetzen. Er mußte sogar so sparsam sein, sich während des Winters die Heizung zu versagen. Die Witwe Vauquer wünschte Vorauszahlung, womit Herr Goriot, den sie von nun an ›Vater Goriot‹ nannte, einverstanden war. Wo lag nun die Ursache dieses Niederganges? Das war schwer herauszubekommen; denn wie die falsche Gräfin gesagt hatte, so war es: Vater Goriot war ein Duckmäuser, ein Schweiger. Nach der Logik der Hohlköpfe, die alle Schwätzer sind, weil sie nichts zu sagen haben, müssen alle, die nicht von ihren Geschäften sprechen, schlechte Geschäfte machen. Der früher so geschätzte Kaufmann wurde also ein Schurke, der ›galante Geck‹ ein alter Narr. Bald galt Vater Goriot nach Vautrins Ansicht, der sich zu jener Zeit im Hause Vauquer einmietete, als ein Mann, der an der Börse spekulierte. Bald hieß es, er sei ein Spieler, einer von den kleinen, die am Abend nicht mehr als zehn Franken verlieren oder gewinnen. Bald machte man ihn zu einem Polizeispion; aber Vautrin behauptete, daß er dazu nicht schlau genug sei. Auch für einen Wucherer hielt man den Vater Goriot und sagte, er leihe kleine Summen für hohe Zinsen aus, und ganz gewiß gehöre er zu jenen Leuten, die ihr Leben lang auf eine Lotterienummer setzen. Man traute ihm jede Schwäche und jedes Laster zu. Dennoch, wie empörend man sein Betragen und seine Lasterhaftigkeit auch fand, ging die Abneigung gegen ihn nicht so weit, ihn zu verbannen; er bezahlte ja immerhin seine Pension. Und dann war er ja auch dazu brauchbar, daß jeder seine gute oder schlechte Laune an ihm auslassen konnte, sei es durch leichten Witz oder bissigen Spott. Die einzig richtige Ansicht über ihn schien Frau Vauquer sich gebildet zu haben, und die wurde dann auch allgemein angenommen. Wenn man sie hörte, so war dieser wohlerhaltene und gesunde Mann – ›gesund wie mein Auge, ein Mann, an dem man noch viel Freude haben könnte‹ – ein lockerer Vogel, der gar seltsame Neigungen hatte. Auf welche Tatsachen stützte die Witwe Vauquer ihre Verleumdungen? Einige Monate nach dem Weggang jener niederträchtigen Gräfin, die sechs Monate auf ihre Kosten gelebt hatte, hörte sie eines Morgens vor dem Aufstehen das Rascheln eines Seidenkleides und den zierlichen Schritt einer jungen und zarten Frau, die zu Goriot hineinschlüpfte, dessen Tür sich verständnisvoll geöffnet hatte. Gleich darauf kam die dicke Sylvia, um ihrer Herrin zu melden, daß ein Mädchen, viel zu hübsch, um anständig zu sein, und gekleidet wie eine Fee, mit entzückenden hellen Stiefelchen, die nicht den geringsten Schmutzfleck aufwiesen, wie ein Aal ins Haus und an die Küchentür geschlüpft sei und sich nach der Wohnung des Herrn Goriot erkundigt habe. Frau Vauquer und ihre Köchin verlegten sich aufs Horchen und fingen einige zärtlich betonte Worte auf. Der Besuch währte geraume Zeit. Als Herr Goriot ›seine Dame‹ hinausgeleitete, nahm die dicke Sylvia sogleich ihren Korb und tat, als ginge sie zum Markt; sie folgte dem Liebespaar.

»Frau Vauquer,« sagte sie nach ihrer Rückkehr, »Herr Goriot muß verteufelt reich sein, um sie so auszustatten. Stellen Sie sich vor, daß an der Ecke der Estrapade ein wundervoller Wagen hielt, in den sie eingestiegen ist.«

Während des Essens zog Frau Vauquer an einem der Fenster einen Vorhang zu, um Goriot vor der Sonne zu schützen, die ihm gerade in die Augen schien.

»Das Schöne liebt Sie, Herr Goriot, die Sonne geht Ihnen nach«, sagte sie mit Beziehung auf den Besuch, den er empfangen hatte. »Seht, seht! Sie haben einen guten Geschmack; sie war auffallend hübsch.« »Es war meine Tochter«, sagte er mit einem gewissen Stolz, – eine Äußerung, in der die Pensionäre nur ein greisenhaftes Bemühen, den Schein zu wahren, erblicken wollten.

Einen Monat nach diesem Besuch erhielt Herr Goriot wieder einen. Seine Tochter, die das erste Mal im Straßenkleid gekommen war, kam diesmal nach Tisch in Besuchstoilette. Die Pensionäre, die plaudernd im Salon saßen, konnten in ihr eine zarte, anmutige Blondine bewundern, viel zu vornehm, Vater Goriots Tochter zu sein.

»Da die zweite!« sagte die dicke Sylvia, die sie nicht wiedererkannte.

Einige Tage danach fragte wieder ein anderes Mädchen, groß und schön gewachsen, mit braunem Teint, schwarzen Haaren und lebhaften Augen, nach Herrn Goriot.

 

»Da die dritte!« sagte Sylvia.

Diese zweite Tochter, die ihren Vater das erste Mal ebenso des Morgens besucht hatte, kam einige Tage später am Abend in Balltoilette und zu Wagen.

»Da die vierte!« sagten Frau Vauquer und die dicke Sylvia, die in dieser strahlenden Dame keine Spur des einfach gekleideten Fräuleins wiedererkannten.

Goriot bezahlte damals noch zwölfhundert Franken Pension. Frau Vauquer fand es ganz natürlich, daß ein reicher Mann vier bis fünf Mätressen habe, und fand es sogar sehr korrekt, daß er sie als seine Töchter ausgab. Sie beklagte sich nicht einmal darüber, daß er sie in die Pension bestellte. Da aber diese Besuche ihr die Gleichgültigkeit ihres Pensionärs hinsichtlich ihrer eigenen Person erklärten, erlaubte sie sich zu Beginn des zweiten Jahres, ihn einen ›alten Kater‹ zu nennen. Dann aber, als ihr Pensionär auf neunhundert Franken herabstieg, fragte sie ihn unverfroren, als sie eine der Damen fortgehen sah, was er eigentlich von ihrem Hause denke. Vater Goriot erwiderte ihr, diese Dame sei seine älteste Tochter.

»Sie haben wohl sechsunddreißig solche Töchter?« versetzte Frau Vauquer mit saurer Miene. »Ich habe nicht mehr als zwei«, antwortete der Pensionär mit der Milde eines gebrochenen Mannes, den das Elend fügsam gemacht hat.

Gegen Ende des dritten Jahres schränkte Vater Goriot seine Ausgaben wiederum ein, indem er in den dritten Stock hinaufzog und seine Pension auf fünfundvierzig Franken im Monat herabsetzen ließ. Er verzichtete auf den Schnupftabak, verabschiedete seinen Friseur und trug das Haar ungepudert. Als Vater Goriot zum ersten Mal ungepudert erschien, konnte seine Wirtin einen erstaunten Ausruf nicht unterdrücken: sein Haar hatte eine schmutzige, grünlichgraue Farbe. Sein Gesicht, das geheime Kümmernisse von Tag zu Tag kaum wahrnehmbar trauriger gemacht hatten, schien jetzt das trostloseste von allen, die die Tafel umgaben. Nun gab es keinen Zweifel mehr: Vater Goriot war ein Wüstling, dessen Augen vor dem unheilvollen Einfluß der von seinen Krankheiten bedingten Medikamente lediglich durch die Geschicklichkeit eines Arztes behütet worden waren. Die widerliche Farbe seines Haares zeugte von seinen Ausschweifungen und den Arzneien, die er geschluckt hatte, um sie fortsetzen zu können. Der körperliche und geistige Zustand des Alten gab diesen Schwätzereien recht. Als sein Wäschevorrat aufgebraucht war, kaufte er sich Kattun zu vierzehn Sous die Elle als Ersatz für seine schöne Leinwand. Seine Diamanten, seine goldene Tabaksdose, seine Kette, seine Schmuckstücke verschwanden eins nach dem anderen. Er hatte seinen blauen Rock, seine ganze Kleidung abgelegt und trug Sommer wie Winter einen groben kastanienbraunen Tuchrock, eine ziegenlederne Weste und grauwollene Beinkleider. Er wurde nach und nach mager, seine Waden verschwanden, sein von spießbürgerlicher Behaglichkeit strotzendes Gesicht schrumpfte mehr und mehr zusammen, die Stirn furchte sich, das Kinn trat spitz hervor. Im vierten Jahre seines Aufenthaltes in der Rue Neuve-Sainte-Geneviève war er nicht mehr wiederzuerkennen. Der gute Nudelfabrikant von zweiundsechzig Jahren, der bisher wie ein Vierziger ausgesehen hatte, der breite, behäbige Bürder, dessen schalkhaftes, fast jugendliches Wesen und lustiger Gang auf der Straße Aufsehen erregt hatten, schien nun ein stumpfer Siebzigjähriger. Sein Gang war unsicher, seine einst so lebhaften blauen Augen wurden matt und grau und hatten keine Tränen mehr; nur schienen ihre roten Ränder Blut zu weinen. Den einen flößte er Entsetzen ein, den anderen Mitleid. Die jungen Studenten der Medizin, die das Senken seiner Unterlippe bemerkt und seinen Gesichtswinkel gemessen hatten, erklärten ihn vom Kretinismus befallen. Eines Abends nach Tisch hatte Frau Vauquer ihn spöttisch gefragt: »Na, Ihre Töchter kommen ja nicht mehr, Sie zu besuchen?« – denn sie zweifelte noch immer an seiner Vaterschaft. Goriot schrak zusammen, als habe man ihn mit glühendem Eisen gebrannt. »Sie kommen hie und da«, sagte er mit zitternder Stimme. »Ah, ah! Sie sehen sie noch manchmal?« riefen die Studenten. »Bravo, Vater Goriot!«

Aber der Greis hörte nicht die Scherzreden, die seine Antwort ihm eintrug. Er war wieder in Nachdenken verfallen, in einen Zustand, den oberflächliche Beobachter für Apathie, für eine Folge seiner Gehirnschwäche hielten. Wenn sie ihn recht gekannt hätten, so hätte gewiß das Problem seines geistigen und leiblichen Verfalls ihre Anteilnahme geweckt; aber der alte Mann war schwer zu durchschauen. Obgleich es leicht gewesen wäre, festzustellen, ob Goriot tatsächlich Nudelfabrikant gewesen war und auf welche Summe sich sein Vermögen belief, so nahm sich doch keiner die Mühe dazu. Die alten Pensionäre, deren Neugier er erweckt hatte, verließen nie das Viertel und klebten an der Pension wie Austern an ihrem Felsen. Die anderen aber hatten kaum die Rue Neuve-Sainte-Geneviève verlassen, so riß das Pariser Leben sie in seinen Strudel und ließ sie den armen Alten vergessen, über den sie sich lustig gemacht hatten. Für jene beschränkten Seelen wie auch für die sorglosen jungen Leute war Vater Goriots dürres Elend und blödes Benehmen unvereinbar mit Geldbesitz und irgendwelchen Geistesfähigkeiten. Was aber die Frauen anlangte, die er seine Töchter nannte, so teilte jeder die Anschauung der Frau Vauquer, die mit der strengen Logik alter Weiber, die ihre Abende mit Klatsch und Verdächtigungen verbringen, erklärte: »Wenn der Vater Goriot so reiche Töchter hätte, wie alle die Damen zu sein schienen, die ihn besucht haben, so wäre er hier nicht im Hause zu fünfundvierzig Franken im Monat und ginge nicht gekleidet wie ein Armenhäusler.«

Diese Folgerung war nicht zu widerlegen. So kam es, daß gegen Ende November 1819, zur Zeit, als unser Drama der Katastrophe entgegendrängte, jeder seine feste Meinung über den armen Alten hatte: er hatte niemals weder Frau noch Kind gehabt; leichtsinniger Lebenswandel hatte aus ihm eine Schnecke gemacht, eine anthropomorphe Molluske, einzureihen in die Klasse der Weichtiere, sagte ein Tischabonnent, ein Museumsbeamter. Poiret war ein Adler, ein Gentleman neben Goriot. Poiret sprach, widerlegte, scherzte. Allerdings waren seine Äußerungen ganz belanglos, denn er wiederholte immer nur mit anderen Worten, was die anderen schon gesagt hatten. Aber er trug doch zur Unterhaltung bei, er war lebhaft, schien gefühlvoll, wohingegen Vater Goriot – um nochmals den Museumsbeamten zu zitieren – stets auf dem Nullpunkt stand.

Eugen von Rastignac war aus den Ferien in einer Geistesverfassung zurückgekehrt, wie sie bedeutenden jungen Leuten oder solchen, denen eine schwierige Lage vorübergehend die Eigenschaften überlegener Männer verlieh, bekannt sein sollte. Im ersten Jahre seines Pariser Aufenthaltes hatte die Erwerbung der untersten Grade in der Fakultät keine große Arbeit von ihm verlangt und ihm reichlich Zeit gelassen, die Freuden der Großstadt zu kosten. Ein Student hat gar viel zu tun, wenn er das Repertoire eines jeden Theaters und alle Irrwege des Pariser Labyrinths kennen und sich an Brauch und Sprache und alle die eigenartigen Freuden der Hauptstadt gewöhnen will. Da gibt es gute und böse Orte zu besuchen und die Reichtümer zahlreicher Museen zu studieren. Man findet Nichtigkeiten erhaben und begeistert sich für sie; man hat seinen Großen, den man bewundert – irgendeinen Professor am Collège de France, der dafür bezahlt wird, daß er sich vor seinem Auditorium auf seiner Höhe behauptet; man rückt an seiner Halsbinde und gibt sich Haltung um der Damen willen, die im Ersten Rang der Opéra-Comique sitzen. Während man so allmählich in das Großstadtleben eingeweiht wird, häutet man sich gründlich, erweitert seinen Horizont und endet damit, die Stufenleiter der verschiedene Stände wahrzunehmen, aus denen sich die menschliche Gesellschaft zusammensetzt. Hat man anfangs an einem heiteren Tage den Wagenkorso in den Champs-Eylsées bewundert, so kommt man bald dahin, bei diesem Anblick Neid zu fühlen. Als Eugen in die Ferien reiste, nachdem er Bakkalaureus der freien Künste und der Rechte geworden war, hatte auch er diese Lehrzeit hinter sich. Seine Kindheitsträume, seine Provinzanschauungen waren verschwunden. Seine Einsicht, sein Ehrgeiz war geweckt und gewährten ihm einen klaren Einblick in das väterliche Haus und das Familienleben dort. Sein Vater, seine Mutter, seine beiden Brüder, seine beiden Schwestern und eine Tante, deren Vermögen in einer Witwenpension bestand, lebten alle auf dem kleinen Gute Rastignac. Die Besitzung erbrachte jährlich etwa dreitausend Franken, und auch diese Einnahme war nur unsicher, denn sie hing von dem Ertrag der Weingärten ab; dabei mußten jährlich für ihn allein zwölfhundert Franken aufgebracht werden. Der Anblick dieser fortwährenden Not, die Gegenüberstellung seiner Schwestern, die er als Kind so schön gefunden, mit den Frauen von Paris, deren Schönheit seine kühnsten Träume verwirklicht hatte, die unsichere Zukunft seiner ganz auf ihn angewiesenen Familie, die ängstliche Sparsamkeit, mit der die kleinsten Erträgnisse weggeschlossen wurden, das Getränk, das für die Familie nur aus Trebern bereitet wurde, kurz, eine Fülle von Umständen, auf die ich hier nicht näher einzugehen brauche, verzehnfachten sein Verlangen, in die Höhe zu kommen, und erweckten in ihm den Durst nach Erfolg. Gleich allen großen Seelen wollte er aus eigenen Kräften vorwärts kommen. Aber er war ein echter Südfranzose; so würde er wahrscheinlich nie sehr entschlußfähig werden und stets zögern, voller Bedenken, wie sie etwa den jungen Mann befallen, der sich auf offenem Meer befindet und nicht weiß, wohin er steuern und wie er die Segel stellen soll. Wenn er zunächst daran dachte, sich Hals über Kopf in die Arbeit zu stürzen, so fiel ihm doch bald ein, daß er vor allem Verbindungen suchen müsse, und er bemerkte, welch großen Einfluß die Frauen im gesellschaftlichen Leben haben; er faßte also plötzlich den Entschluß, sich in das Gesellschaftsgetriebe zu stürzen, um sich Gönnerinnen zu erobern. Könnte es einem feurigen, geistvollen jungen Manne daran fehlen? Einem jungen Manne, der neben diesen wertvollen Eigenschaften auch eine vornehme Gestalt und kraftvolle Schönheit besaß, der sich die Frauen gern hingeben? Diese Gedanken kamen ihm draußen auf dem Felde, bei den frohen Spaziergängen, die er mit seinen Schwestern, denen er sehr verändert vorkam, zu unternehmen pflegte. Seine Tante, Frau von Marcillac, war in ihren jungen Jahren bei Hofe vorgestellt worden und hatte dort die Spitzen der Aristokratie kennen gelernt. Sogleich erkannte der ehrgeizige junge Mann in den Erinnerungen, die er von seiner Tante so oft hatte anhören müssen, die Grundlage für mehrere Eroberungen, die ihm ebenso wichtig schienen wie die, denen er in den juristischen Hörsälen nachging. Er erkundigte sich bei der Tante nach den verwandtschaftlichen Beziehungen, die vielleicht wieder angeknüpft werden könnten. Nachdem sie die Zweige des Stammbaumes tüchtig geschüttelt hatte, kam die alte Dame zu der Ansicht, daß von der ganzen egoistischen Schar ihrer reichen Verwandten die Frau Vicomtesse von Beauséant wohl am wenigsten abweisend sein dürfte. An diese junge Frau schrieb sie einen Brief und übergab ihn Eugen mit dem Bemerken, daß die Vicomtesse, falls sie sich für ihn interessiere, ihn auch seinen anderen Verwandten zuführen werde. Einige Tage nach seinem Wiedereintreffen in Paris sandte Rastignac den Brief seiner Tante an Frau von Beauséant. Die Vicomtesse erwiderte mit einer Einladung zu einem an einem der nächsten Tage angesetzten Ball.