Die Überquerung der Feuerzangenbowle

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„Was lassen sie denn da immer so machen“, forschte sie neugierig weiter.

„Zwei- oder dreifarbige Strähnen und schneiden“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Und zu wem gehen sie da so?“

„Wenn sie frei ist zu Dunja, die ist zwar ziemlich ruppig, aber sie hat´s drauf.“

„Aha, Dunja.“

Im Verlauf der Weihnachtsfeier entdeckte ich sie an der Kuchentheke mit neuer Frisur. Sie winkte mir lachend zu: „Ich war bei ihrem Friseur.“

„Sieht toll aus“, antwortete ich anerkennend.

„Ja, hat ja auch der Dunja in seine Hände genommen.“

„Wie?“ Fragend schaute ich sie an.

„Der ist doch umgebaut“, lachte sie schrill, „sagen sie bloß, das haben sie nicht bemerkt?“

„Äh eh…nein, bisher nicht.“

„Ja, ist ihnen denn nicht aufgefallen dass“, brüllte sie und ließ ihre Hand auf die Theke donnern, „dass bei der oben herum alles viel zu akkurat sitzt? Wie naiv sind sie denn?“ Die Kuchenparade bebte, einige Stücke schlugen Salto. Die Trockenen zerbröselten, die Mürben zermatschten, die umgefallene Kaffeesahne lief über die Weihnachtsdeko runter auf den Boden, und ich bekam einen roten Kopf. Pi hob eine Augenbraue, murmelte etwas von, „typisch Geisteswissenschaftler“, bevor sie mir half die Schäden zu beseitigen. Währenddessen amüsierte sich Annilore Frenken noch eine ganze Weile über meine Ahnungslosigkeit.

Nein, weder war mir aufgefallen, dass Dunja ein Mann war, noch hätte es mich interessiert. Für eine tolle Frisur würde ich mir auch beim Glöckner von Notre Dame die Haare schneiden lassen!

Eiskaltes FRIntermezzo

Für die Weihnachtsferien folgte Klaus-Willi der Empfehlung eines Kollegen. Wir fuhren in die Steiermark zu einem gewissen Pucki, der dort eine Pension betrieb. Ich kenne kaum jemand der seinen Beruf so verfehlt hat wie dieser Typ. Aufgrund der negativen Ereignisse muss ich dieses Reiseintermezzo komprimieren, vor allem aber würde sonst der Frost aus den Zeilen kriechen.

Bereits bei unserer Ankunft nach einer langen Fahrt, machten wir dem Wirt Umstände: Wir störten beim Mittagessen! Statt der Tageszeit kam ein: „Auf dem Ploatz könnt´s net bloabe! Des is unsrer!“ Falsch geparkt hatten wir also auch noch, dabei war alles frei. Nur dem kommunikativen Wesen meines Gatten hatten wir es zu verdanken, dass wir wenigstens noch ausladen durften. Danach ließ sich der Hausherr dazu herab, uns unser Zimmer zu zeigen. Es war ein winziges Loch, für ziemlich viel Geld. Er sparte nicht mit Lobhudeleien über seine Renovierungskunst, seine Investitionen und seine hohen laufenden Kosten. Was will er uns damit sagen, dachte ich während ich mir zum x-ten Mal den Knöchel an seinem hässlichen Schleiflackkonsölchen stieß. Wahrscheinlich war das Zimmer vor dem Umbau schöner als jetzt, kam mir in den Sinn, und kalt ist es auch. Im nächst größeren Ort stürmen wir die Konditorei. Gewärmt und genährt bummelten wir danach durch das weihnachtliche Örtchen und traten den Heimweg an. Unser Zimmer war immer noch kalt. Die Gaststube war kalt. Man bat uns im riesigen Speisesaal Platz zu nehmen. Der Speisesaal war kalt. Kalt war auch die geschmacklieblose Einrichtung, von der 40jährigen, nie neue Farbe gesehenen Wandgestaltung ganz abgesehen. Wir saßen dort alleine. Das machte alles noch kälter.

Doch dann ging die Sonne auf. Sie hieß Viktor. Ohne Viktor wären wir am nächsten Tag abgereist. Viktor war Ungar, hatte dort irgendwo ein Hotel, das er aber nur in den Sommermonaten betrieb. Viktor arbeitete während der Wintersaison bei Pucki und kochte für die Pensionsgäste. Und wie! Viktor riss alles heraus. Er stellte unglaublich schmackhafte Menüs zusammen, die er anschließend persönlich in gelbschwarzgestreifter Weste formvollendet servierte. Dabei war er auf eine diskrete Art amüsant und verstand es, Wünsche von den Augen abzulesen. Warum Viktor ausgerechnet in diesem Laden gelandet war, konnten wir nicht ergründen. Die Lage spitzte sich zu. Da das Haus in einem Tal lag, in das von Anfang Dezember bis Ende Januar kein Sonnenstrahl drang, wurde es von außen nicht aufgeheizt. Bedauerlicherweise galt dasselbe für innen. Mich beschlich allmählich der Eindruck, dass unser Wirt beim Heizen geizte. Er stritt es ab, indem er eine defekte Heizungsanlage vorgab: „Jo, heuer, do krieg i doch koi Gscheiten füra moi Anlagn.“ Täglich kamen nun neue Gäste an. Fast kam es zum Eklat, denn wer will schon gegen Bezahlung frieren? Lediglich die Stammgäste fanden es normal, denn Pucki sei nun mal ein kleiner Revoluzzer. Soso, die hatte ich mir bisher allerdings anders vorgestellt- darüber hinaus wunderte ich mich, dass es überhaupt Menschen öfter als einmal an diesen Ort zog. Vielleicht wollten sie zu Weihnachten gequält werden, oder waren heiß auf die goldene Treuenadel- für loyales Bibbern.

„Pass mal auf, wie durch Wunderhand wird es ab morgen warm“, gab ich meine Prognose ab.

„Du meinst, weil er ab dann ausgebucht ist“, fragte Klaus-Willi.

„Klar, diese miese Knallcharge heizt erst, wenn es sich lohnt, alles andere war bislang Hinhaltetaktik.“

Genauso war es. Plötzlich wurde es warm, ganz ohne Handwerker. Unser Gastwirt des Jahres leistete sich noch den einen oder anderen Lapsus, so schaltete er zwanzig Umsatz fördernden Gästen in seinem Schankraum den Fernseher vor der Nase aus, als sie ein Skirennen verfolgten. Das könne er sich heuer nicht ansehen, da er sich in der letzten Saison beim Dorfskirennen eine Gehirnerschütterung zugezogen habe. Vielleicht hätte der Dorfpsychologe mal einen Hausbesuch bei Pucki machen sollen, aber nur im dicken Mantel.

Nach diesem Urlaub freute ich mich regelrecht auf die Schule, auf zu Hause, aber in erster Linie auf die neue Küche. Besonders begeistert war ich von meiner ersten Spülmaschine. Dieser bislang nie gekannte gute Geist der Spültechnik bekam dank seiner zuvorkommenden Eigenschaften einen Patenonkel.

Wir nannten sie Viktor.

Dritte Etappe

Nach den Ferien lief der Countdown, denn Ende Januar gab es für uns die ersten Zeugnisse. Die Meisten versuchten noch im letzten Moment durch mündliche Mitarbeit ihre schriftlichen Noten anzuheben, was manchmal durch den „Recency Effekt“ gelang.[5] Dieser Effekt kann auftreten, wenn Lehrer keine genaue Buchführung machen, vergesslich sind, zu viele Schüler haben, oder es ihnen egal ist.

„Mama, komm´ mal, hier ist unsere Tochter“, rief mein Vater beim abendlichen Telefonat meine Mutter an den Apparat, „unser Kind ist jetzt schlau, die war in der Schule. Wie lief es denn?“

„Heute gab es Zeugnisse.“

„Und? Gut? Oder bist du „Sitzengeblieben“? Mama, unserer Tochter ist Sitzengeblieben!“

„Aber Papa, ich bin gestiegen und das Zeugnis ist prima.“

„Wieviel Fünfen?“

„Keine.“

„Wieviel Einsen?“

„Zwei.“

„Wieviel Zweien?“

„Alles.“

„Wie, alles Zweien? Waaas, so schlau bist du? Hast du alles von mir! Dann kannst du mir ja einen ausgeben.“

„Gib du mir doch einen aus, ich bin Schüler.“

„Ich hab´ kein Geld, deine Mutter beklaut mich doch immer.“

„Willi, jetzt rede doch nicht so einen Quatsch“, meine Mutter nahm ihm den Hörer ab, „lass mich jetzt mal!“

„Papa hat es heute wieder drauf, er sieht auch ganz schlecht aus“, klagte meine Mutter, während mein Vater im Hintergrund immer wieder von seiner schlauen Tochter anfing, „tausendmal fragt er dasselbe. Immer wieder. Ich bin völlig fertig.“

In solchen Momenten wusste ich mir auch keinen Rat, schließlich ist es nicht einfach mitzuerleben, wenn der Ehepartner mehr und mehr geistig verfällt. Glück im Unglück war, dass er nicht bösartig wurde, sondern dass seine Krankheit ihn eher albern werden ließ.

„Kind, wie war denn Mathematik?“ Endlich kam die Frage auf die ich gewartet hatte.

„Halt Dich fest: Zzzzzwei!!!“

„Ich kann ja nicht mehr, wie hast du das denn gemacht?“

„Geübt.“

„Früher hast du aber immer gesagt, für Mathematik kann man nicht üben“, bohrte Mutter weiter.

„Früher war eben alles anders, da hatte ich auch keine Lust zu üben.“

Ehe sie wieder mit der alten Leier über meine schulischen Leistungen vergangener Tage anfing, verwickelte ich sie in ein Gespräch über meinen Vater, der, außer wenn es um Fußball ging, immer antriebsschwacher wurde. Nicht selten plagte mich das schlechte Gewissen, denn durch die zeitintensiven Anforderungen ließ ich mich nicht allzu oft bei meinen Eltern blicken. Davon konnten meine Freunde auch ein Liedchen singen. Die anfängliche Zustimmung meiner Lieben schlug zum Teil in Unverständnis um. „Wir sehen uns überhaupt nicht mehr“, unkte meine älteste Freundin Uschi, „nie hast du Zeit. Aber na ja, du bist ja auch sehr ehrgeizig.“ Dieses „na ja“ brachte mich auf die Palme: „Entweder ich lasse mich auf die Spielregeln ein, oder ich höre auf. Das hat nichts mit Ehrgeiz zu tun. Ich habe die Sache angefangen und möchte sie auch beenden und dafür muss ich eben Zeit aufwenden. Basta!“ Da sie früher mit einem Italiener verheiratet war, war sie nun im Bilde.

„Du Streber“, hänselte Bärbel, die schulisch noch auf der Stufe der 70er Jahre stand, als die Benennung Streber noch negativ konnotiert war und unwiderruflich mit unsympathischen, asozialen Einzelgängern assoziiert wurde. Und, als Lehrer noch Feinde waren.

„Die Zeiten haben sich geändert“, klärte ich sie auf, „wer strebt hat ein Ziel. Wenn man es so sieht, dann bin ich eben ein Streber.“

Daneben gab es noch die Fraktion, deren unablässige Frage nach dem, „warum in deinem Alter“, mich beleidigte. „Ich hab´ auch zum Soundso gesagt, warum tut das Mädchen sich das freiwillig an“, so meine Schwiegermutter, hier Substitut für alle Brüder und Schwestern dieser Glaubensgemeinschaft, „und der Soundso hat auch gesagt, was will die denn noch daaaamit?“ Diverse Soundsos nebst Gefolge können mir den Buckel runterrutschen, lag es mir auf der Zunge, aber streiten wollte ich nicht. Da fiel mir mein Vater ein. Ich antworteten nur: „Schlau werden!“ Ab da war Ruhe. Meistens. Im Gegensatz dazu wurde ich zu jeder Zeit von Nachbarn, meinem Hausarzt, den „Arnulis“[6], den „FiFis“[7], sowie Klaus-Willis Kegelclub inklusive Bernd und Paul ermuntert, die allesamt nicht nur regen Anteil an meinen schulmäßigen Höhen und Tiefen nahmen, sondern mir mit Rat, primär aber mit Tat, zur Seite standen. Eigentlich hörten die Diskussionen um meinen verspäteten Lerneifer nie so richtig auf. Familie, Freunde und Bekannte konnten sich nicht so recht daran gewöhnen, mich nicht mehr ganz so häufig wie früher zu sehen. Unserer Beziehung hat es allerdings keinen Abbruch getan.

 

Zum neuen Schuljahr gehörte ein neuer Klassenraum samt einem neuen Mitschüler. Sebastian Rippe, genannt „das Rippchen“. Ein überaus filigran gearbeiteter Junge, mit Porzellanpuppengesicht, schwarzen Löckchen und Knabberfingerchen, steuerte zielsicher auf die erste Reihe zu, für die ich mich auch im neuen Schuljahr entschieden hatte. Er wurde mein neuer Banknachbar im Deutsch- Mathe- und Französischunterricht. Rippchen war ständig bekifft oder restalkoholisiert, oder beides zusammen. Sein desinteressiertes Verhalten war auffällig. Noch auffälliger als seine Apathie war sein Odeur: Er stank! Bestialisch, und aus allen Knopflöchern! Bevor er sprach, wenn er sprach, atmete er tief ein, um dann noch tiefer seine abgestandene Fahne auszuatmen. Mehrmals stand ich kurz davor mich zu übergeben, weil Rippchen zum Abschreiben immer näher kam, fast so nah, dass er sein schräg gelegtes Köpfchen auf meiner Schulter ablegte. Freiwillig schob ich ihm oft mein Heft rüber, in der Hoffnung der Kelch möge geruchlos an mir vorübergehen. Welche Düfte können einem so zarten Körper entweichen, fragte ich mich oft. Natürlich hatte ich dessen ungeachtet auch Angst, dass irgendjemand denken könnte, ich sei diejenige welche. Dieser Gedanke war für mich kaum zu ertragen. Carola, Felix und ich hielten Kriegsrat. Ehe wir eine Strategie entwickeln konnten, zeigte uns Madame im Französischunterricht, wie elegant Tabuthemen über die Rampe kommen können.

Eines Morgens, während der Fünfminutenpause zwischen einer Doppelstunde, ging sie an uns vorbei, zog ihr kleines Näschen kraus, kehrte zurück, um aus dem Stehgreif ein superfreundliches Reinigungsgespräch mit Rippchen zu führen: „Immer wenn ich an ihnen vorbei gehe, Herr Rippe, weht mir ein markanter Duft entgegen“, eröffnete sie den Dialog.

Rippchen atmete tief ein und aus: „Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Ich erstarrte. Bewegungslos versuchte ich mich zu neutralisieren, um die Unterredung mitzuerleben.

„Doch, ich bin mir sicher dass sie es sind, vielleicht merken sie es selbst nicht, das kann schon mal passieren.“ Sie ließ nicht locker: „Wo wohnen sie denn“, erkundigte sie sich wohlwollend.

„In einer WG.“

„Wieviel Quadratmeter bewohnen sie denn da“, kam die fachmännische Nachfrage.

„Ja, so zwölf, oder so.“ Rippchen atmete immer tiefer aus. Ich war der Ohnmacht nah.

„Haben sie denn dort keine Möglichkeit zu Duschen, oder ihre Wäsche zu waschen?“

„Schon, das versuche ich auch ständig. Manchmal kollidiert man eben mit den Nachbarn.“

„Stehen die später auf als sie?“

„Jeder steht später auf als ich!“

„Wunderbar, dann hätten sie ja die Möglichkeit vor dem Unterricht zu duschen.“

„Wäre eventuell eine Chance.“

„Die sie unbedingt nutzen sollten, denken sie doch auch mal an ihre Banknachbarin Frau B., die ihren Ausströmungen massiv ausgesetzt ist.“

Rippchen drehte den Kopf zu mir, schaute mich leer an, atmete tief aus, und drehte sich wieder nach vorne. Mein Magen drehte sich ebenfalls. Danach wurde er von Madame aufgeklärt, dass Duschen und saubere Wäsche alleine nicht ausreichen würden. Nach nächtlichen Trinkgelagen, die sie unschwer an seinem Atem nachweisen könne, müsse sowohl die Kleidung als auch das Zimmer gut durchgelüftet werden. Unsere Französischlehrerin beriet ihn noch eingehend über Lüftungsmöglichkeiten auf kleinstem Raum, Gurgeln, über weniger, besser noch, gar keinen Alkohol und, so ganz nebenbei, über seinen katastrophalen Notendurchschnitt. Alles ohne eine Spur von Peinlichkeit. Auf beiden Seiten. Zunächst hatte ich den Eindruck, das Beratungsgespräch sei spurlos an Rippchen vorübergegangen. Zum nächsten Französischunterricht kam er zu spät. Mehr als fünf Minuten. Die eherne Regel unserer Garconette missachtend, kommentierte er näselnd ihren Platzverweis mit leicht spöttischer Geste: „Wieso, ich musste schließlich noch Duschen“, und schlängelte sich auf seinen Platz. Madame behielt die Contenance.

„Kannst du heute Erdkunde für mich erledigen“, bat ich Klaus-Willi, „ich habe soviel für Bio vorzubereiten und Deutsch muss ich auch noch.“

„Was läuft denn da?“

„Die Sache mit Joschka Fischer. Ist er trotz seiner Vergangenheit als Außenminister tragbar?“

„Ist doch ein interessantes Thema!“

„Ja, aber zeitaufwendig. Meine Meinung muss schließlich plausibel klingen.“ Frei nach Frau Frenken: „Sie können mir alles verkaufen, wenn es glaubhaft verfasst ist.“

„Lass mal Erdkunde sehen.“ Bei „lass mal sehen“ wusste ich, dass er mir helfen würde. Obwohl Verschriftlichungen meine Domäne waren, wuchsen mir die Hausaufgaben leicht aus zwei Gründen oft über den Kopf: Ich war Vielschreiber und alles Wichtigfinder. Im Gegensatz zu mir filterte mein Ehemann bereits beim ersten Lesen eines Textes das Wesentliche heraus und brachte es auf den Punkt. Wie oft entwirrte er meine in allen Regenbogenfarben hoffnungslos übermalten Unterlagen. Dieses Talent musste gefördert werden! Von Anfang an unterstützte ich Klaus-Willi, indem ich ihn sooft es ging mit kleineren Problemen betraute. Bei Klausurstress trat ich eine Hausaufgabe auch schon mal ganz an ihn ab. Da diese Ära einige Jahre zurückliegt, kann ich es nun zugeben. Heiße Diskussionen entflammten beim Thema Täuschungsversuch, der, früher von mir naiv als Pfuschen, von Klaus-Willi als Spicken bezeichnet, uns beide polarisierte. Auf der einen Seite mein Mann, dereinst als dreist-kreativer „Spicker“ berüchtigt, auf der anderen Seite ich, ängstlich bemüht nicht negativ aufzufallen- Welten prasselten aufeinander. Nicht, dass mir nichts eingefallen wäre, im Gegenteil, an originellen Ideen mangelte es kaum. Ich arbeitete sie sogar aus. Vor jeder Klausur fand dann die Präsentation der besten Eingebungen bei einem Espresso in der Küche statt. Missmut stieg jedes Mal nach anfänglicher Begeisterung in meinem Gatten hoch, wenn er merkte, dass ich kalte Füße bekam. „Stell´ dich doch nicht so blöd an, es kann nichts schief gehen. Wie soll das denn auffallen?“

„Ich trau´ mich nicht.“

„Was gibt es denn da zu trauen, die anderen ziehen doch auch alle Register. Und du?“

„Die anderen sind viel jünger, denen sieht man das nach.“

„Glaube ich nicht, aber mach´ was du willst. Nur kredenze mir nicht dauernd deine Geistesblitze, wenn du doch keine Courage hast sie umzusetzen!“

„Wenn ich erwischt werde, blamiere ich mich sowohl vor den Lehrern als auch vor den anderen Schülern. Dann gelte ich als doppelt blöd. Dann gehe ich nie wieder dahin!“

„Na prima, dann habe ich endlich Ruhe.“

Beleidigt wandte ich mich ab. Ich hatte Angst. Undenkbar, wenn ich erwischt würde. Nicht um alles in der Welt hätte ich danach auch nur einen Fuß in die Schule gesetzt! Dessen ungeachtet schmiedete ich das heiße Spickeisen weiter, weil ich fest an die pädagogische Lernfunktion gut konzipierter Schwarzarbeit glaubte. Darüber hinaus wollte ich auf dem Laufenden bleiben, denn falls ich eines Tages doch noch mutig genug war, um über meinen Schatten zu springen, konnte ich so direkt in die Materie einsteigen. Eine gute Entscheidung!

„Ach Frau B., ihre Klausur zu lesen hat mir sehr viel Spaß gemacht“, seufzte Herr Meinrad lächelnd, während er mir meine Biologie-Klausur aushändigte, „fachlich allerdings waren einige Punkte etwas zu oberflächlich behandelt.“ Ich war zufrieden. Eine gute Zwei. In der Pause trug er meinen Rucksack über den Schulhof, da er im Gegensatz zu mir gerade keine Rückenschmerzen hatte. „Frau B., nach den großen Ferien übernehme ich den Philosophie Leistungskurs. Sie schreiben wirklich unterhaltsam, dabei sind ihre Ausführen interessant und zeugen von einer gewissen Kreativität. Na, wie wäre es mit Philo? Ich würde sie gerne in meinem LK sehen. Was meinen sie?“

„Oh, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht“, log ich, „bis dahin habe ich doch auch noch etwas Zeit, wir haben ja noch nicht einmal Ostern.“ Ausgerechnet Philo! Bisher empfand ich dieses Fach eher als lästiges Muss. Obwohl unsere Französischlehrerin Philosophie unterrichtete, fand ich absolut keinen Zugang zu dieser Unterrichtsdisziplin, bei der schwierige Texte über Tischkanten- und Beine oder über die Verteilung von Geld, das nicht für alle reicht, besprochen wurden. Adorno und Co. ließen ständig grüßen und ich freute mich schon, dieses Wissensgebiet im Sommer abzuwählen. Herr Meinrad schien meine Gedanken zu lesen: „Wir werden aktuelle Themen aufgreifen, wie beispielsweise die Stammzellenforschung. Wir werden uns mit Kunst beschäftigen. Wir werden über das alles hinaus Themen, die sie, die Schüler bewegen, erörtern.“ Er strahlte mich an. „Denken sie darüber nach, ich würde mich freuen.“ Er schaute auf seine schicke Markenuhr, „ich muss sie jetzt verlassen. Übrigens, was gibt es denn bei ihnen heute Abend zu essen?“

„Rucola mit Birne und Parmesan, dazu Entenbrust in Bratfolie.“

„Hmm, das mit der Birne kenne ich noch nicht. Büchse oder frisch?“

„Frisch natürlich, und ganz hauchdünne Scheibchen.“

„Probier ich aus“, rief er schon im Gehen. Auch ich war spät dran. Wenn ich noch vor Ende der Pause beim Türken um die Ecke Rucola einkaufen wollte, musste ich mich beeilen.

Die Verpflegung stellt einen zentralen Punkt im Tagesablauf eines Lernenden dar. Schnell lernte ich, dass das kleine Kabüffchen mit den roten Plastikstühlen und den schönen alten Holzdielen auf der Rückseite der Aula, „Cafete“, genannt wurde. Nicht etwa Kiosk. Oder Kantine. Oder gar Büdchen! Nur, das Wort Cafete zu benutzen reichte alleine nicht aus, man musste es mit einem Hauch von Coolness aussprechen. Unentspannt wie ich war, trainierte ich aus diesem Grund einige Male vor meiner offiziellen Sprachpremiere. Zu Hause, im stillen Kämmerlein. Die Betreiber der Cafete, Herr und Frau Schills, hatten nicht nur ihre Bude, sondern ebenso das Drumherum fest im Griff. Sicherlich hatte ihre jahrzehntelange Ehe, kombiniert mit einer gesunden Portion Geschäftssinn, sie zu einem eingespielten Team hinter dem Tresen werden lassen. Gewinn machten aber auch die Schüler. Selbst kurz vor Pausenende konnte man sicher sein, noch etwas zu bekommen, um rechtzeitig den Klassenraum zu erreichen. Vorpfuschen war erlaubt und absolut kein Problem, da alles rasend schnell über die Bühne ging. Dabei blieb die Freundlichkeit nicht auf der Strecke, im Gegenteil. Ein nettes Wort hier, eine Nachfrage da, Tröstungen über vergeigte Klausuren inbegriffen. Spezialität des Hauses Schills waren köstliche Baguettes, deren Genuss ohne sich von oben bis unten zu bekleckern allerdings nur Jongleuren auf dem Niveau eines Cirque du Soleil vorbehalten waren. Jedoch das wirklich Grandiose war neben Nutella Brötchen für die Jüngeren, ein Brötchen mit „Esszet-Schnitte“. Mit dieser zarten Schokoladen-Reminiszenz an die siebziger Jahre, verhielt es sich wie mit ABBA-Hits: Dereinst von mir als spießig verpönt, verursachen sie heute gute Laune. „Tach junge Frau, ham´ se Klausur“, fragte Herr Schills stets fürsorglich weil ich mir angewöhnt hatte, vor jeder Klassenarbeit meinen Nerven ein Esszet-Schnittchen zu servieren, was ihnen, meinem Magen und meinen Noten gut bekam. Lediglich die Idee der Schills, Wandhaken für die persönliche Tasse zu installieren, kam für mich nicht in Frage, da mir zwei meiner schönsten Ballettmotivtassen umgehend geklaut wurden. Somit reihte ich mich ein in die Schar der Tassenkautionszahler.

„Lateinschüler sind immer im Vorteil“, dozierte Sabine Piczynski im Mathematikunterricht, „ihr Lern- und Arbeitsverhalten ist völlig anders als das der meisten Schüler. Von Latein profitiert man sein ganzes Leben, selbst in Mathematik.“ Kurz vorher hatte sie Rippchen kurz aber knallhart zusammengefaltet, weil er wie immer seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, darüber hinaus weil er ebenso dreist wie immer noch schnell versuchte, die von mir mühsam erarbeiteten Ergebnisse fast auf meinem Schoß abzuschreiben. Pi nahm diese Situation zum Anlass, an unsere Arbeitsmoral zu appellieren: „Sie alle hier sitzen in einem Zug mit dem Zielbahnhof Abitur. Ich bin ihr Lokführer. Ich fahre mal schneller, manchmal sogar etwas langsamer, damit einige noch auf diesen Zug bis zur Endstation aufspringen können, wenn sie wollen. Andere dagegen sind dabei abzuspringen, weil sie offensichtlich nicht wollen, wie sie Herr Rippe. Ändern sie ihr Verhalten, denn so langsam kann ich nicht fahren.“

 

Reizend ausgedrückt dachte ich, jedoch bei Rippchen vergebene Liebesmüh´. Aber etwas anderes interessierte mich in diesem Moment. Latein, wieso hat diese Sprache einen so hohen Stellenwert, überlegte ich, nicht ahnend, dass ich nur kurze Zeit später eine durchaus plausible Antwort bekam. Bereits mehrere Lehrer hatten auf die Relevanz dieser Sprache hingewiesen, zuletzt Herr Meinrad, der neben Biologie und Philosophie ja auch Latein lehrte. Und das mit Begeisterung wie er mir versicherte, da sich an den Lateinregeln, im Gegensatz zu anderen Sprachen, die einer ständigen Veränderung unterliegen, nie mehr etwas ändert. Wie praktisch für Lehrer und Schüler. Unter diesem Aspekt hatte ich die Vorteile einer toten Sprache noch nicht gesehen. „Wie, sie lernen Französisch statt Latein, ich höre ja wohl nicht richtig“, mischte sich ein anderer Lateinlehrer weithin hörbar ein, als er zufällig vorbeiging, „wer kein Latein kann, kommt nicht in den Himmel!“

„Wieso komme ich nicht in den Himmel? Nur weil ich kein Latein kann?“ Ungläubig schaute ich ihn an, während ich versuchte den Schulkopierer zu bezwingen.

„Ja meine Liebe, ganz einfach: Petrus lässt sie nicht rein.“

„Warum lässt mich Petrus denn nicht rein?“

„Weil er sie nicht versteht.“

„Eh. Hm. Wie bitte? Wieso versteht der mich nicht?“

„Teuerste! Der Petrus, der spricht nur Latein. Mit Französisch kommen sie da oben nicht weiter.“

Ach so. Grinsend ließen beide Lehrmeister mich vor dem Kopierer stehen.

Wie so oft im Soziologieunterricht führten wir ein Experiment durch. Doch beim folgenden Versuch wurde mir klar, dass allerlei Trends in den vergangenen Jahren spurlos an mir vorübergegangen sein mussten. Als wir schätzen sollten, wie viele Personen in unserer Klasse gepierct oder tätowiert seien, um sie danach mit der tatsächlichen Zahl zu vergleichen, stellte ich mich ziemlich naiv an, indem ich die sichtbaren Schöpfungen zählte. Umso überraschter war ich, als das richtige Ergebnis bekannt wurde: Lediglich vier Schüler, Carola, Felix, Swantje und ich, trugen pur Natur. Seinen Körper in dieser Weise zu verschönern ist keine Erfindung der Neuzeit. Viele Naturvölker, wie etwa die Maori, tätowierten sich vor langer Zeit mit Motiven, die heute eine Renaissance erleben. Ornamente die heute als hip gelten, sind in Wirklichkeit Jahrhunderte alt. Obschon ich das wusste, erstaunten mich die vielen Körperkunstformen meiner Mitschüler. In erster Linie natürlich diejenigen, die man nicht sehen konnte, vor allem bei denjenigen, denen ich es niemals zugetraut hätte, wie der zurückhaltenden Melanie. Meine Nachfrage in der Pause hielt sie zum Glück nicht im Mindesten für indiskret: „Ich hab´ mein Tattoo mit 17 Jahren machen lassen- einmal und nie mehr wieder!“

„Wieso, hat es denn so wehgetan?“

„Nein, das ist es nicht, aber ich bin jetzt schon 21.“

„Wo liegt das Problem“, forschte ich weiter, denn drei Jahre weiter konnte sie sich unmöglich zu alt fühlen.

„Ich habe mir damals einen kleinen Frosch auf die linke Pobacke tätowieren lassen“, enthüllte sie.

„Ist doch total niedlich“, antwortete ich ehrlich beeindruckt.

„Schon, aber ich habe in den drei Jahren zugenommen.“

„Na und?“

„Der Frosch ist jetzt eine ausgewachsene Kröte!“

Dem hatte ich nichts entgegenzusetzen. Im Gegenteil, ich stellte mir vor, wie der Frosch erst in meinem Alter aussehen würde, dachte an die einsetzende Erdanziehung und verwarf augenblicklich alle Tattoo-Impulse, die mich beinahe erwischt hatten. Vorübergehend. Ich versuchte es mit den Augenbrauen. Was konnte dabei groß passieren? Und sehen sollte man es auch, sonst hat man doch nichts davon. Meine Eitelkeit war teuer, meine Eitelkeit tat weh, aber meine Eitelkeit wurde von Erfolg gekrönt. Klaus-Willi, als Big Spender war ebenso begeistert wie sämtliche Freundinnen. Selbst in der Schule machte ich wider Erwarten Eindruck: „He super“, zischte Lars Pannebäcker, ein Junge aus der Parallelklasse mir morgens auf dem Parkplatz zu, „voll die knalligen Augenbrauen.“ Auch Felix, sonst eher für Naturbelassen plädierend, ließ sich zu einem: „Alter Schwede, Frau B.! Geile Alte“, hinreißen. Geile Alte wurde von ihm häufiger als Kompliment benutzt, meistens bei guten Schulleistungen oder wenn ich eine neue Hose hatte. Obschon mein Mann Felix mochte, fand er diese Äußerung auf irgendeine Art anstößig und abwertend. Ich fand das nicht.

Annilore Frenken schmiedete Pläne mit uns für eine Klassenfahrt nach den Osterferien. Als Ziel wurde die Stadt Brüssel auserkoren und als Schlafstätte eine Jugendherberge gebucht. Na Bravo! Zwar bin ich nicht verwöhnt was Unterkünfte betrifft, mit zunehmendem Alter reagiere ich allerdings erheblich sensibler auf Mehrbettzimmer, von meiner überdurchschnittlichen Aversion gegen Flurtoiletten für Alle ganz zu schweigen. Wie kam ich aus dieser Nummer wieder raus? Frau Frenken verkündete einen Tag später, dass sie ein Zweibettzimmer in der Herberge gebucht habe und bereit sei, es mit jemandem zu teilen. „Das können wir ja vor Ort entscheiden“, verkündigte sie die frohe Botschaft mit einem Seitenblick auf mich, „vielleicht möchte der eine oder andere etwas mehr Ruhe haben.“ Oh Gott, das wird ja immer besser, schoss es mir durch den Kopf, niemals, und wenn ich sie noch so gut leiden kann, werde ich mir ein Zimmer mir Frau Frenken teilen können.

„Warum denn das nicht“, fragte Klaus-Willi abends harmlos, „du magst sie doch?“

„Es ist mir peinlich, vielleicht schnarcht sie. Oder sie spricht im Schlaf. Es ist mir einfach zu intim, zu nah. Ich würde sie im Nachthemd sehen oder so. Ich kann nicht.“

„Dann lass es drauf ankommen!“

„Wo fahrt ihr hin, nach Kreta? Da war ich doch im Krieg. Schrecklich! Von da aus kam ich in Gefangenschaft. Was willst du denn da?“ Mein Vater konnte wie so oft nicht verstehen, dass ich meine Ferien im Ausland verbringen wollte. Durch den zweiten Weltkrieg verknüpfte er mit vielen Ländern unangenehme Erinnerungen, die ich nicht nachempfinden konnte. Meine Mutter auch nicht. Vielleicht kann das nur jemand, der Ähnliches erlebt hat. Unter anderem war mein Vater in Nordafrika stationiert. Von dort aus gelangte er in amerikanische Gefangenschaft und arbeitete lange in den mit Schlangen verseuchten Zuckerrohrplantagen von Louisiana und Texas. Als französischer „prisonnier de guerre“ entkam er später einem Todeslager in Nordfrankreich, arbeitete bei einem südfranzösischen Bauern, erlangte dann aber als Hilfskraft des dortigen Bürgermeisters, der ihn quasi abkaufte, einen höheren sozialen Rang, denn er durfte dessen Kneipe betreuen. Nach eigenen Angaben trug er solange eine Baskenmütze, bis der Rand abfiel, da er sich seines rasierten Schädels schämte. Trotzdem gelang es meinem Vater während dieser ganzen Zeit, seiner Leidenschaft dem Fußball zu frönen. Regelmäßig organisierte er Turniere- die Akteure: Kriegsgefangene gegen Kriegsgewinner. Als Willi aus der Gefangenschaft kam, war er schon etwas zu alt für die Nationalmannschaft, aber es reichte noch für den Lokalmatador.

Traumatische Erlebnisse während Schiffs- und Flugpassagen, ließen seither für ihn als Verkehrsmittel nur noch Bahn oder Auto in Frage kommen; sie ließen ihn auch nicht mehr über die deutsche Grenze. Bis auf eine Reise in die Schweiz, die er im hohen Alter mit seinem Bruder unternahm, gab es kein anderes Urlaubsland als das unsere. Sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Sie wollte wenigstens einmal nach Mallorca.

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