Die Überquerung der Feuerzangenbowle

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Klaus-Willi entging mein Frust nicht. Jeden Abend vor dem Zubettgehen nahm er den Wecker in die Hand und fragte: „Morgenfrüh wieder um sechs Uhr?“

„Ja“. Heftiges Kopfnicken.

„Sicher?“

„Sicher!“ Nicht ganz so heftiges Kopfnicken.

Diesem Dialog folgte meistens das obligatorische „Gutenachtbussi“ - manchmal auch mehr…wenn ich nicht gerade schwächelte. Der Schulstress.

Morgens eröffnete ich die Konversation:

„Kaffee?“

„Hmmmm.“ Nicken mit geschlossenen Augen.

„Wann? Jetzt?“

„Nein, erst wenn du geduscht hast.“ Es folgte ein wohliges Schnauben mit sofortigem Weiterschlafen.

Erklärend muss hier angeführt werden, dass wir unseren Hausstand einige Zeit zuvor um einen Kaffeeautomaten der Luxusklasse erweitert hatten. Dieses Meisterwerk der Technik, gesponsort durch die alljährliche Weihnachtszuwendung meiner Schwiegereltern, zauberte nicht nur auf der Stelle köstlichen Kaffee, nein, es war auch kinderleicht zu handhaben. Dermaßen glücklich über soviel Komfort, wurde es bei Klaus-Willi und mir Gang und Gäbe, dass derjenige, der zuerst aufstand, dem anderen einen Kaffee ans Bett servierte. Ganz klar machte ich dank meiner frühen Weckzeit auf diese Weise den sozialen Aufstieg zum Service-Chef. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir aber noch nicht der Tatsache bewusst, dass ich diesen Rang, mit Ausnahme der Wochenenden und Ferien, für die nächsten drei Jahre bekleiden durfte. Ein krisenfester Job.

Mit der Lehrerschaft klappte es besser als mit den Klassenkameraden. Sogar in meinem Angstfach Mathematik. Unsere Lehrerin war freundlich, äußerst schlagfertig, mit schulterlangen blonden Haaren und ebenso langen Haaren auf den Zähnen, die noch länger wurden, wenn man die Hausaufgaben nicht gemacht hatte, die von ihr immer und ohne Ausnahme kontrolliert wurden. Sie hieß Sabine Piczynski, präsentierte ihr Fach wie ein Stück zart schmelzende Schokolade und erstellte so wunderbare Tafelbilder mit Wölkchen, dass sogar ich sie verstand. Bei den meisten Jungs hatte sie sofort einen Stein im Brett, da sie nicht nur über ein attraktives Erscheinungsbild verfügte, sondern daneben auch die Basketball-AG leitete, deren männliche Mitgliederzahl drastisch in die Höhe schnellte. Ich staunte nicht schlecht über mich. Die Hausaufgaben erschienen mir wie interessante Rätsel. Ich erwischte mich dabei, dass ich mich regelrecht freute, die Nuss zu knacken. Aber das war noch nicht alles. Ich meldete mich, wenn auch jedes Mal ziemlich aufgeregt, im Unterricht. Ich! In Mathematik! Seit meiner Kindheit glaubte ich fest an meine mathematische Begriffsstutzigkeit. Es war wie eine Offenbarung, und eine Stimme säuselte mir ständig ins Ohr: „Du bist gar nicht so blöde!“ Den größten Teil dieser Erkenntnis verdankte ich allerdings meiner Klassenlehrerin Annilore Frenken. Nach den ersten paar Tagen fragte sie mich auf dem Gang: „Na, haben sie sich denn schon eingelebt?“

„Ja, ich habe nur noch Schwierigkeiten mit der Orientierung.“

„Aha, das kann doch wohl nicht so schwer sein. Wie kommen sie denn im Unterricht zurecht?“

„Bisher gut, außer dass ich dermaßen Panik vor Mathematik habe, dass nicht weiß, wie ich dieses Fach in den Griff kriegen soll. Und wenn ich erst an die Klausuren denke“, weiter kam ich nicht, denn es entlud sich einer ihrer typischen Anfälle inklusive Fußstampfen:

„Was soll denn das“, rief sie mit schriller Stimme, „sie haben doch gerade erst angefangen! Lassen sie sich mal auf etwas ein! Auch Mathematik ist zu schaffen, wenn man noch nicht ganz verblödet ist!“

Annilore Frenken schnaubte ungehalten in meine Richtung, drehte sich abrupt mit klimperndem Ohrgehänge um, und während meine Kinnlade langsam herunterfiel, ließ sie mich verdutzt auf dem Korridor zurück. Bereits als ihre wehenden Strickjackenzipfel um die Ecke bogen, vitalisierte diese herzliche Äußerung meiner Klassenlehrerin einen ungeahnten mathematischen Ehrgeiz in mir. Wo war ich nur gelandet? Gestern so gut wie verwelkt- heute fast schon verblödet! Nicht zu fassen, dachte ich, verblödet! Dir werd ich´s zeigen- und dir auch- ach was- euch allen!

Auch auf die übrigen Fächer schwappte meine Ambition über. Alle Fachgebiete bekamen eine faire Chance, da ich versuchte, meine Aversion gegen den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich aus längst vergangener Zeit zu begraben. Dies gelang mir zunächst durch erhöhte Aufmerksamkeit im Unterricht, sowie der konsequenten Ausführung der Hausaufgaben. Bis auf eine Ausnahme: Informatik! Niemals, so grübelte ich, niemals würde ich in einer Weise logisch denken können, um den Anforderungen dieses Wissensgebietes gerecht zu werden. Unvorstellbar, dass es tatsächlich Menschen gab, die nächtelang auf ihrer Tastatur hackten, oder schlimmer noch, die einen IT- Beruf ausübten. Der einzige Vorteil dieses Faches war Personengebunden und hieß Jens. Jens war unser Lehrer. Direkt in der ersten Stunde bot er uns das Du an. Wahrscheinlich hätte ich ihn sowieso geduzt, denn er erinnerte mich mit seinem fröhlichen Jungengesicht und den blonden Stoppelhaaren eher an Astrid Lindgrens „Kinder von Bullerbü“ als an einen Informatiklehrer. Jens war so nett wie er aussah und- ein kluger Kopf. Wahrscheinlich verstand ich deshalb nie was er erklärte- auch nicht beim zweiten- und nicht beim dritten Mal. Er unterrichtete an unserer Schule neben Informatik noch Mathematik und Physik, lehrte ferner an einer Fachhochschule Physik und organisierte Schülerreisen in alle Herren Länder. Manchmal fuhr er dann auch den Bus. Dieser Sachverhalt ließ mich über ein Lehrergehalt nachdenken. Während der angespannten schulischen Eingewöhnungsphase avancierte Französisch, für das ich mich statt Latein entschieden hatte, zu meinem Lieblingsfach. Madame Coens war eine zierliche „Garconette“ mittleren Alters mit einem ehernen Unterrichtskanon, dabei so energisch, dass sie selbst die großspurigsten Jungs im Griff hatte. Mir gefielen ihre ausgefallen- spielerischen Lerntipps zur Überlistung des inneren Schweinehundes. Ständig schrieben wir irgendwelche Tests, die aber für mich den entscheidenden Vorteil hatten, salopper mit der eigentlichen Klausur umzugehen, da diese Situation ständig simuliert wurde. Bei einer beträchtlichen Anzahl meiner Mitschüler stießen nicht nur die pädagogischen Maßnahmen von Madame auf keinerlei Gegenliebe, sondern ihnen graute allein schon vor der Sprache. „Diese schwule Sprache“, unkte Felix, während Tobi in einem rheinisch-französisch Mix fortfuhr: „Madame, isch hätt´ da ens enn Question!“ Überhaupt diese beiden. Sie kamen aus dem gleichen Ort, hatten zum Teil die gleichen Freunde, und schienen sich in vielen Punkten ihrer Weltanschauung einig zu sein. Dessen ungeachtet waren sie grundverschieden. Auf der einen Seite Felix, der als Klassenjüngster mit großer Mehrheit zum Klassensprecher gewählt wurde, da er offenbar nicht nur bei mir einen besonderen Eindruck hinterlassen hatte. Auf der anderen Seite Tobi, der ständig mit einem dummen Spruch auffallen wollte, vermutlich um seine Faulheit zu übertünchen.

Während seiner Einführungsrede am ersten Tag verwies unser Rektor mit Stolz auf das friedliche Miteinander seiner Schüler aus 14 Nationen. Einige von ihnen trugen T-Shirts mit der Aufschrift „No racists friend“, als evidentes und signifikantes Zeichen ihrer Einstellung zum Thema Rassendiskriminierung. Das gefiel mir. Sogar sehr. Aber was war mit mir? Diese Frage fand ich berechtigt, denn neben meiner Zwangsisolation mittleren Grades wurde ich das Gefühl nicht los, dass einige Mitschüler testen wollten, wie weit sie bei mir gehen konnten. Allen voran Tobi, das Riesenbaby. Auch er besaß ein solches Shirt, schien sich aber nicht im Mindesten über sein oft diskriminierendes Verhalten mir gegenüber im Klaren zu sein. Tobis Überzeugung war offensichtlich nur an seine Altersgruppe gebunden. Wie ambivalent sein Benehmen war, kam ihm nicht in den Sinn, Hauptsache, er hatte die Lacher auf seiner Seite.

Oft blieb mir noch etwas Zeit bevor der Unterricht begann, da ich den allmorgendlichen Stau mit einem Schleichweg umging. Meistens las ich dann in der Tageszeitung, weil sich die wenigsten mit mir unterhalten wollten. Tobi las auch. Ich schielte nach hinten- er begutachtete die Unterwäschewerbung. Plötzlich sprang er auf, schwenkte den Prospekt, um ihn lautstark und fachmännisch zu kommentieren: „Echt geil das hier. Die Alte hat ´nen superhohen Wasserfall. Und die hier, aufgespritzte Lippen, aber klasse Body und erst die abgefahrene Wäschefarbe. Mann, und schaut euch die an, die trägt Schlüpferrosa wie meine Oma!“ Er erhob die Stimme. „Naaaaaa, welche Farbe hat denn deine Unterwäsche so im Allgemeinen, Frau B.“, blökte Tobi mit einem provozierenden Grinsen in meine Richtung.

„Ausschließlich schwarz, weiß oder creme, je nach Anlass“, konterte ich wie aus der Pistole geschossen, denn schließlich hatte ich seit meinem 18.Lebensjahr fast nur männliche Arbeitskollegen, und das Wissen um einen „hohen Wasserfall“ gehörte dort quasi zur ersten Lektion. „Rot, wie es die Langbeinige auf der ersten Seite trägt, passt überhaupt nicht zu meinem Hauttyp.“

„Ist das nicht egal wenn man schon so alt ist wie du?“

„Besser alt als doof!“

Das saß. Der triumphierende Blick verschwand. Eine dezente Röte verbreitete sich auf seinem Babyface. Wider Erwarten lächelten mich Einige an und nickten zustimmend. So schnell gab sich Tobi aber nicht geschlagen:

„Meinst du mich etwa damit?“

„Womit?“

„Mit doof.“

„Wen sonst?“

„Das ist krass!“ Plötzlich dämmerte es bei ihm:

„Ja, aber du bist doch wirklich schon alt!“

„Ich bin nur älter als du.“

„Aber du stirbst eher als ich!“

„Glaube ich nicht!“

Verdutzt fragte er: „Wieso das denn nicht?“

„Weil ich dich vorher umbringe!“

 

Alle Anwesenden lachten, bis auf Tobi. Er senkte den Kopf ziemlich tief, so tief, dass sich seine blonden Fussellocken auf der Bank kringelten. Dann ging er auf die Toilette. Dadurch kam er zehn Minuten zu spät zum Französischunterricht, ein Umstand den Madame mit Ausschluss vom Unterricht ahndete. Plus Vermerk. Armer Tobi.

Fünfundzwanzig Jahre Ballett, du Arschloch!

In denkbar kleinen Schritten verbesserte sich meine Situation, denn wir lernten uns mit der Zeit alle näher kennen. Da war die träge Veronique, die es in erster Linie darauf anlegte, mit so wenig Einsatz wie möglich durchzukommen. Dabei riskierte sie eine flotte Lippe, kam ständig mit einem provozierenden Kaffee in der Hand zu spät, und demonstrierte mit lautem Gähnen oder entspanntem Recken den Lehrern, wo sie jetzt lieber wäre. Täglich zu spät kam auch Carola, jedoch löste sie das Problem auf eine so diskret elegante Weise, dass sie wie durch Zauberhand auf ihrem Platz erschien und allen das Gefühl vermittelte, dort übernachtet zu haben. Dieses Ritual krönte sie mit einem strahlenden Lächeln, das ihren schwedischen Typ noch besser zur Geltung brachte und Lehrer wehrlos machte. Zunächst erweckte es den Anschein, als ob Carola sich mit der intelligenten Melanie anfreundete, deren besonnenes und freundliches Naturell sich inmitten ihrer chaotischen Banknachbarn sehr abhob. Doch es kam anders. Derya funkte dazwischen. Selten hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt einen so berechnenden, egoistischen Menschen mit einem derart bemerkenswerten Mundwerk getroffen wie dieses Mädchen. Vor dieser Redegewandtheit, gepaart mit ihrer außergewöhnlichen Schönheit, gingen auch die meisten Lehrer in die Knie, vor allem wenn die hüftlangen, braunschwarzen Haare nach Beendigung ihrer Ausführungen nach hinten flogen, wie ein unsichtbares Ausrufezeichen, das keinen Widerspruch duldete. Mir kam sofort der Gedanke, dass Derya die neu geschlossene Freundschaft mit Melanie als Zweckgemeinschaft sah, während für Melanie diese Verbindung einen bedeutend höheren Stellenwert hatte. Carola und ich gingen nach dem Unterricht gemeinsam zum Schülerparkplatz. Sie war empört und enttäuscht: „Melanie hätte ich etwas mehr Menschenkenntnis zugetraut, sie lässt sich doch total ausnutzen.“

„Das stimmt, aber diese Erfahrung muss sie selbst machen“, versuchte ich Carola zu beruhigen.

„Ja, schon, aber trotzdem habe ich mich wirklich gut mit Melanie verstanden. Derya hat sich wie eine Dampfwalze dazwischen geschoben, nach dem Motto die oder ich.“

„Klar, denn nur so ist ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit sicher, die sie für ihre Ziele braucht.“

Wir kamen auf dem Parkplatz an und standen vor unseren betagten Autos derselben Marke. Nachdem wir noch eine Weile über deren Vorzüge, über Lehrer, Mitschüler, Hausaufgaben, Gott und die Welt und unsere Eltern geredet hatten, ihre Mutter war so alt wie ich, fuhren wir los. Auf dem Nachhauseweg stellten wir beim gegenseitigen Überholen fest, dass unser Weg bis zur Autobahnauffahrt gleich war. Einige Tage danach bekam ich völlig unverhofft einen Mitfahrer. Es war- ausgerechnet Tobi. Während einer Fünfminutenpause sprach er mich an: „Du, Frau B., du wohnst doch in U., oder?“

„Ja.“

„Meine Freundin wohnt nämlich auch da. Wenn ich bei der übernachte, kannst du mich dann morgens mitnehmen?“

Fahr doch mit dem Bus du Blödmann dachte ich, gleichzeitig erstaunt darüber, dass so einer eine Freundin hatte. Wer fiel denn darauf rein? Das kannst du nicht machen, widersprach ich mir blitzschnell, nicht in deiner Lage! Außerdem ist es unkameradschaftlich! Okay, nimm ihn mit, überredete ich mich.

„Wo wohnt sie denn?“ Er nannte mir die Straße. Dann bestimmte ich die Regeln:

„Wenn du mitfahren willst, gibst du mir abends Bescheid, nicht erst fünf Minuten vorher. Weiterhin wirst du pünktlich an der Ecke stehen, wenn nicht, fahre ich weiter.“

„Klar! Supi! Danke!“

Wir tauschten unsere Telefonnummern aus. Wider Erwarten klappte es. Mit Tobi und mir. Er rief wie verabredet abends an und stand pünktlich in seinem grünen Wollpullover winkend an der Ecke. Bei unserer ersten Fahrt verliefen die Gespräche noch etwas schleppend, doch das erledigte sich schnell. Unsere Touren zur Schule wurden sogar ziemlich spaßig, denn wenn man seine Sprücheklopferei im Keim erstickte, kam ein recht netter Junge zum Vorschein, abgesehen von seiner stinkenden Faulheit. Aber ich musste ihn ja nicht heiraten. Apropos heiraten: Eines Morgens sah ich aus welchem Haus er herauskam, und nun wusste ich wer Tobis Freundin war. Sie hatte zur Hochzeit meiner Schwägerin Blümchen gestreut. Schlagartig wurde mir klar, wie schnell die Zeit verging, denn ich hatte sie immer noch als kleines Mädchen in Erinnerung, obwohl sie mittlerweile schon studierte. Vielleicht war dies ja auch der Grund, warum mein Mitfahrer die Schulbank drückte. Fast jeder Lehrer bat uns, die Tafel in der Pause zu putzen, damit die ohnehin knappe Unterrichtszeit nicht damit verplempert würde. Diese Bitte spaltete die Klasse in zwei Lager. Auf der einen Seite die Verständnisvollen, auf der anderen Seite die Ablehnenden. Einige waren sogar völlig konsterniert und fühlten sich wie vor den Kopf geschlagen. „Wie bitte“, ereiferte sich Veronique, „die sollen ihre Tafel selber putzen, die werden schließlich dafür bezahlt.“

„Finde ich auch“, stimmte ihre Freundin Sandra ein, „ich werde doch hier nicht putzen!“

Ich war davon überzeugt, dass sie das zu Hause auch nicht machen musste. Sie war gerade zwanzig und bereits verheiratet. Gut verheiratet. Mit einem IT- Guru. Ein kluges Mädchen, sehr trendy, aber leider auch oft sehr überheblich. „Scheiß Schule“, tönte hinter mir Timo, ein gepflegtes Muttersöhnchen, „da versau ich mir womöglich noch die Klamotten. Fingerwaschen danach geht auch erst in der nächsten Pause. Das ist ja eklig.“ Bevor mir der Kragen platzte, sprang Felix auf: „Jetzt haltet mal die Luft an! Veronique, du und die meisten von uns bekommen Schul-Bafög, Bafög, dass nicht zurückgezahlt werden muss. Demnach werden wir für unseren Schulbesuch hier sogar bezahlt. Vielleicht könntet ihr alle einmal darüber nachdenken, ehe ihr euch aufregt. Wir werden die Tafel putzen! Wer ist für eine Putzliste? Wer ist für freiwillig?“ Wir entschieden uns für einen Putzprobelauf auf freiwilliger Basis. Zunächst klappte es wie am Schnürchen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich irgendwann anfing mich etwas zu drücken. Dies entging Felix nicht. „Frau B., du könntest auch mal wieder die Tafel putzen!“

„Stimmt.“

Verdammt, dachte ich, du alte Schachtel wirst von einem 19jährigen erwischt. Brav befeuchtete ich den Schwamm und reinigte die Tafel besonders gründlich. Mir imponierte, dass ihm der Altersunterschied völlig egal war und mich genauso behandelte wie seine Mitschüler, so wie ich es mir bisher vergeblich von den anderen auch wünschte. Vielleicht, dachte ich, ist es doch möglich ein kameradschaftliches Verhältnis aufzubauen, wie es in einer Klasse üblich ist, auch wenn der Altersunterschied 25 Jahre oder mehr beträgt. Mit Felix und Carola klappte es prima. Neuerdings auch mit Tobi. Und allmählich wurde auch die Distanz zwischen den übrigen Schülern und mir geringer.

Nachdem ich die Tafel für meine Verhältnisse einwandfrei gewischt hatte, kam Frau Piczynski herein. Oh je. Mathe! Die ganze Aktion hätte ich mir sparen können, denn Pi, wie die Jungs sie nannten- und welcher Name wäre treffender für eine Mathelehrerin- Pi bestand darauf, die Tafel nach ihrer patentierten Methode selbst zu reinigen, während wir in dieser Zeit mit einer Aufgabe beschäftigt wurden. „Sie rechnen, ich putze“, war der Deal. Stets benutzte sie dabei ihren eigenen Spezialwischer, den sie mit der Professionalität eines geübten Fensterputzers in eleganten Wellen über die Tafel sausen ließ, just in time mit dem Schwamm das entstehende Schmutzwasser auffangend. Die Tafel sah danach aus wie geleckt, so als könne sie es nicht erwarten mit den berühmten Mathewölkchen bemalt zu werden. Dabei dauerte die ganze Vorstellung nicht so lange wie wir rechneten. Pi schaute mitleidig auf mein Reinigungsergebnis: „Na, derjenige hätte sich wirklich die Mühe sparen können“, richtete sie an Unbekannt aus und zückte ihren Wischer. Ich bekam einen roten Kopf. Als sie sich endlich zur Tafel drehte, zuckte Felix mit den Schultern und grinste breit. Ich zeigte ihm den verbotenen Finger, konnte mir dabei aber das Lachen nicht verkneifen.

Mittlerweile hatte ich meine Eltern sowie einige Freunde über mein Schulabenteuer ins Bild gesetzt. Vielleicht informierte ich sie erst so spät, weil ich Angst hatte mich zu blamieren, oder sogar Angst, dass sie mir diese Idee ausreden könnten. Wider Erwarten fiel die Resonanz sehr positiv aus, auch wenn meine Eltern anfänglich sehr skeptisch waren. Meine Mutter überhäufte mich mit Fragen: „Kind, du bist doch früher nicht gerne zur Schule gegangen. Und was habe ich mir immer den Mund fusselig geredet. Aber jetzt? Jetzt gehst du wieder zur Schule? Wie kamst du denn auf diese Idee? Wo ist das denn? Wie ist es denn da so? Was sind denn da für Leute? Kind, aber Mathematik?“ Geduldig versuchte ich ihr meinen Schulalltag zu erklären. Meinen Vater hingegen interessierten lediglich zwei Dinge: „Warst du in der Schule fleißig“, und „wirst du jetzt schlau?“ Schlau werden und in der Schule fleißig sein, waren von nun an die Schlagworte meines Vaters, die er, vermutlich durch seine beginnende Demenz, bei unseren allabendlichen Telefonaten immerzu anbrachte. Meine Mutter erzählte mir, dass er sie im Laufe des Tages ständig damit nerve, ob ich denn auch in der Schule sei.

„Oh, wir können dann also in den nächsten drei Jahren nur während der Schulferien segeln“, ließ unser Freund Paul verlauten, „das wird teuer!“ Er hatte Recht. Über das Thema Urlaub, respektive jetzt Ferien genannt, hatte ich bisher nur mit Klaus-Willi gesprochen. Leider hatte ich meinen alljährlichen Segeltörn mit ihm, Paul und Bernd völlig vergessen. Wir vier segelten zu diesem Zeitpunkt bereits seit 15 Jahren zusammen. Die Gnade als Frau in einer Männercrew mitgenommen zu werden fußte auf mehreren Motiven: Zum einen kannte ich Paul und Bernd länger als meinen Ehemann, zum anderen war Paul als Skipper der Meinung, eine Frau an Bord würde männliche Crewmitglieder vor der sicheren Verwahrlosung erretten. Die Wahl fiel auf mich, da ich den Jungs, bedingt durch fröhliche Episoden während unserer Jugendzeit, für eine Frau ziemlich pflegeleicht erschien, außerdem war ich seefest. Unsere Törns verliefen denn auch immer sehr harmonisch, aber vor allem waren sie ausgesprochen lustig und unbeschwert. Wie konnte ich nur vergessen die neue Ferienregelung anzusprechen! Schlimmer: Mir war unser vor langer Zeit gebuchter Törn in die Türkei entfallen. Noch schlimmer: Ich musste, wenn ich dabei sein wollte, die Schule schwänzen. Guter Rat war teuer.

„Na und“, bemerkte Klaus-Willi, „stell dich doch nicht so an, du wirst wohl mal fehlen dürfen. So wie du erzählt hast, schwänzen die doch da andauernd.“

„Mit denen die das machen möchte ich mich nicht vergleichen“, antwortete ich ärgerlich, „Kohle kassieren und nicht erscheinen finde ich ziemlich dreist. Neuerdings müssen sie nach dem zweiten Tag ein Attest vorlegen.“

„Na also, dann kannst du doch fehlen solange du willst, schließlich kassiert du kein Bafög“, entgegnete mein verständnisloser Mann.

„Du kapierst es wirklich nicht, es geht um die Einstellung. Es ist mir peinlich, das ist so, als ob man beim Spicken erwischt wird“, versuchte ich Klaus-Willi meine Lage zu schildern.

„Tja, wenn das so ist, fahren wir alleine, du gehst ja lieber in die Schule. Viel Spaß.“

Ich hätte ihn erwürgen können. Am nächsten Tag half nur die Flucht nach vorne. Ich schenkte ich meiner Klassenlehrerin reinen Wein ein. Frau Frenken sah kein Problem: „Sie melden sich bei ihren Lehren für die paar Tage ab, und Basta.“

„Muss ich nicht auch den Schulleiter involvieren, weil es doch eine Woche vor den offiziellen Ferien ist“, fragte ich vorsichtig. Aber das war schon zuviel:

„Nein, nein, neiiin! Seien sie doch nicht immer so entsetzlich brav“, ereiferte sie sich mit erhobener Stimme, „das ist ja furchtbar, fahren sie zum Segeln und genießen sie ihren Urlaub!“

Sie fegte mit fliegenden Fahnen Richtung Lehrerzimmer. Und fand mich brav. Sogar entsetzlich brav. Wie deprimierend! In diesem Moment fragte mich ernsthaft, welchen Eindruck ich bei meinen Mitmenschen eigentlich hinterließ. Langsam beruhigte ich mich, indem ich positive Synonyme für brav suchte: artig, folgsam, lieb, sogar das veraltete manierlich fiel mir dazu ein. Negative Assoziationen wie harmlos, langweilig oder gar bieder, drängte ich sofort ins Abseits, denn so war ich nicht, egal was diese Lehrerin von mir dachte. Gut, dann bist du eben brav, beschloss ich, das ist jedenfalls entschieden besser als abgebrüht. Von dieser Sorte gibt es hier ja reichlich. Die Frenken kann doch froh sein, dich in ihrer Klasse zu haben, versuchte ich mein Selbstbewusstsein wieder auf Normalniveau anzuheben. Gänzlich gelang es mir allerdings erst nach dem Genuss eines mittelgroßen Quarkauflaufs, den ich sofort nach der Schule buk und restlos verdrückte, noch bevor ich mit den Hausarbeiten fertig war. Es war übrigens einer von Vielen, deren Umfang ich nach Schwere meiner psychischen Verfassung variierte. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass sehr selten etwas für meinen Mann übrig blieb.

 

Vor dem Urlaub standen diverse Klausuren an, von denen mir natürlich Mathematik das größte Unbehagen einflößte. Da alle Daten bereits am Anfang des Semesters bekanntgegeben wurden, konnte ich mich seelisch und moralisch, vor allem aber lerntechnisch darauf einstellen. Bereits als Kind empfand ich Klassenarbeiten als nervtötend- fatalerweise hatte sich daran nichts geändert. Bei der Englischklausur unseres Oxford English sprechenden, kurz vor der Pensionierung stehenden Lehrers ging es noch. Herr Trepkow, ein mächtiger Mann mit einem ebensolchen Bart, legte viel Wert auf Aussprache und gute Manieren. Da mir beides gelang, konnte ich bei ihm meine „Somi-Note“[3] nach oben pushen.

Einigen fiel beides schwer, und wenn dann noch die Hausaufgaben fehlten, hatten sie schlechte Karten. Komischerweise fühlten sich ebendiese Mitschüler oft ungerecht behandelt. Herr Trepkow hatte ein besonderes Anliegen, sozusagen einen Herzenswunsch, dessen Erfüllung ihm nach eigener Aussage bisher versagt blieb: Die korrekte englische Aussprache von „Hotel“ und „Clothes“. Seiner Meinung nach sprach jeder deutsche Schüler, ach was, jeder Deutsche, diese einfachen Worte falsch aus, was in ihm andauernd einen seelischen Tumult auslöste. Jedenfalls verlief meine erste Englischarbeit gut. Französisch ebenso. Aber die Matheklausur stand an. Schon eine Woche vor dem Termin krampften sich Herz und Magen beim bloßen Gedanken daran zusammen. Dann hörte ich die ermahnende Stimme meiner Mutter aus früherer Zeit: „ Kind, halt´ die Gedanken zusammen!“ Na Prima. Fromme Sprüche fehlten mir gerade noch. Frau Piczynski gab am Vortag der Klausur Regieanweisungen: „Rechnen sie nur einmal locker durch, essen sie was Gesundes, und gehen sie früh schlafen!“ Wenn man kann, dachte ich. Ab drei Uhr war die Nacht für mich beendet. Ich wälzte mich solange hin und her, bis Klaus-Willi wach wurde und entsprechend sauer regierte: „Wenn du jetzt schon so ein Palaver veranstaltest, frag´ ich mich, wie du das bis zum Abitur durchhalten willst?“

„Das verstehst du nicht! Meinst du etwa ich behalte Mathe bis zum Abi? Da wäre ich ja bescheuert.“

„Ich denke Mathe bei Pi ist so toll?“ Die Ironie in seiner Stimme war unüberhörbar.

„Ja, aber nur ohne Klausuren“, antwortete ich völlig bedient durch die nächtliche Diskussion. Doch der Herr setzte noch einen drauf:

„Dann musst du dich abmelden! Schlaf jetzt!“

Das saß. Ich blieb regungslos nach oben stierend auf dem Rücken liegen. Morgens war ich wie gerädert. Zur Aufheiterung zog ich etwas Bequemes und zugleich Schönes an, denn in solchen Momenten ist mir mein Körpergefühl wichtig. Man stelle sich nur eine Mathematikklausur in unbequemen Klamotten vor! Die doppelte Marter. Es war ein schöner Herbsttag. Am Ortsausgang blitzte schon die Morgensonne zwischen den Reihenhäusern und blendete mich für eine Sekunde. Die Sonne. Wie wunderbar, ein positives Vorzeichen. Perfekt vorbereitet wie immer, gab es von Pi neben einer strengen Sitzordnung auch unterschiedliche Aufgabenstellungen. Abschreiben war nicht- es wäre mir sowieso nicht möglich gewesen ohne aufzufallen- ich trage nämlich Gleitsicht. Ich hatte es aber auch nicht nötig, denn bis auf wenige Knackpunkte kam ich mit der Aufgabenstellung und sogar mit meiner Zeiteinteilung klar. Na bitte. Allerdings hatte ich nach dieser intensiven Anspannung das Gefühl, zehn Kilometer auf dem Kopf gerutscht zu sein, bevor mich ein Vampir anzapfte. Gegen diese Symptome akuter Blutleere im Gehirn gab es nur ein Mittel: „Curry-Wurst Pommes extra scharf“!! Glücklicherweise fiel die Klausur in die letzten Unterrichtsstunden, sodass ich umgehend in meine Lieblingsbude fahren konnte, um noch im Auto die heiße Medizin einzunehmen. Auf der Stelle fühlte ich mich besser. Gott sei Dank bewertete ich die Morgensonne an diesem Tag als gutes Ohmen, denn hätte ich gewusst, dass es ein mobiles Blitzgerät der örtlichen Polizei war, wie sich vier Wochen später herausstellte, wer weiß, vielleicht hätte ich die Arbeit vergeigt. Und noch etwas fand ich heraus: Eitelkeit vor Klausuren lohnte sich- wie das Polizeifoto eindeutig bewies.