Herzensöffnung (3): Später

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Auf dem Heimweg war Eva sehr schweigsam. Besonders Laura fiel das auf. „Hast du irgendwas?“ Eva schüttelte den Kopf. Laura überlegte eine ganze Weile, fand aber nichts, was Eva bedrücken könnte.

Nach dem Abendbrot drängelte Laura ihre große Schwester, noch etwas durchs Dorf zu spazieren. Nach einer Weile gab Eva nach und sie sagten ihren Eltern Bescheid, dass sie noch mal weg wollten.

Draußen, als sie allein waren, fragte Laura: „Eva, was ist mit dir? Du bist so verändert, seit wir bei Schulzens waren.“

„Ach, nichts weiter“, antwortete sie.

„Eva! Ich bin deine Schwester! Wir haben uns doch immer alles gesagt. Mit dir ist doch etwas.“

„Es ist nur wegen Knut.“

„Hat er dir irgendetwas getan?“, fragte Laura.

„Nein. Er kann ja gar nichts dafür, aber … ich mag ihn einfach. Aber jetzt, wenn er eine Freundin hat …“

„Eva! Hast du dich etwa in ihn verliebt?“

„Ein bisschen.“

„Und er?“

„Ach, Laura. Er weiß ja gar nichts davon.“

Spontan umarmte Laura ihre Schwester. „Arme Eva. Warum nimmst du dir aber auch alles so zu Herzen?“

So standen sie eine Weile zwischen dem Dorf und der Fernstraße. Da kam Laura auf eine Idee. „Lass uns zum Millstream gehen. Mutti und Vati sind auch immer zu dieser Brücke über den Millstream gegangen, wenn sie Sorgen hatten.“

Als sie auf der Brücke ankamen, fing Laura wieder an. „Mit Knut wäre das nie gut gegangen, Eva. Er wohnt hier und wir in Sonnenberg.“

„Mutti hat mit uns auch hier gewohnt und Vati hat sie gefunden.“

„Ja, aber damals war die Situation doch ganz anders. Mutti hatte keine Arbeit. Knut lernt hier und wird einmal die Bäckerei übernehmen. Du aber willst nach dem Abitur studieren. Glaubst du wirklich, dass ihr dann noch zusammengepasst hättet? Vati hat einmal gesagt, dass ein Partner immer das gleiche Niveau wie man selbst haben sollte.“

Eva entgegnete: „Und wie ist das bei Vati und Mutti? Vati hat doch auch studiert und Mutti nicht.“

„Aber das lag doch daran, dass Opa zu wenig verdiente. Sonst hätten Mutti und Tante Andrea sicher auch studiert.“

„Ja, vielleicht. Du hast ja recht, aber ich kann doch nichts dafür, wenn mir Knut gefällt.“

„Ach, Eva. Ich würde dir so gern helfen, wenn ich könnte. – Was finden Mutti und Vati eigentlich an dieser Brücke?“

„Ich weiß auch nicht. Vielleicht gefällt sie ihnen deshalb, weil man hier allein sein kann“, antwortete Eva.

„Komm, wir gehen wieder zurück“, schlug Laura vor.

2. Sonnenberg – Disko-Queen

Am folgenden Sonnabend flog Familie Kosch mit Michael und Manuela zurück nach Sonnenberg. Zu Hause erwartete sie der Alltag. Wolfram hatte die Kinder für zwei Tage in der Schule entschuldigt, denn Ferien waren nur bis vergangenen Mittwoch gewesen.

Noch am Sonnabendnachmittag gingen alle vier Kinder zu ihren jeweiligen Schulfreundinnen und Wolfram Junior zum Schulfreund, um eventuelle Hausaufgaben für die kommende Woche zu erfahren. Michael und Manuela begleiteten sie. Dadurch waren Maria und Wolfram ganz allein zu Hause. Nachdem die Koffer wieder leer waren, setzten sie sich auf die Couch im Klubzimmer und ließen das Erlebte noch einmal Revue passieren. Zu viele Erinnerungen waren bei ihrem Besuch in Håp Land wieder hochgekommen. Sie erlebten noch einmal die traurigen und auch die schönen Momente ihrer Liebe. So saßen sie eng umschlungen auf der Couch und träumten vor sich hin. Alles war am Ende gut ausgegangen und so gingen sie einer sorgenfreien Zukunft entgegen.

Als die Kinder am späten Nachmittag wieder da waren, schimpfte besonders Junior über die Lehrer, die den Schülern so viele Hausaufgaben aufgaben. Laura hingegen lächelte nur. Sie machte sich keine Sorgen. Bei ihr gab es immer einen Jungen, der ihre Aufgaben mitschrieb, wenn sie nicht konnte. Außerdem fiel ihr das Lernen nicht schwer. So machte sie sich auch wenig Sorgen um das Abitur in zweieinhalb Jahren. Bei Eva sah das schon etwas anders aus. Bei ihr stand die Abiturprüfung ein Jahr eher vor der Tür. So konzentrierte sie sich auf die Schule, denn sie lernte nicht so leicht wie ihre jüngere Schwester.

In Sonnenberg war jeden Sonnabend Disko im großen Saal, der auch sonst für die verschiedensten Veranstaltungen genutzt wurde. Der Bürgermeister hatte zum Wohle der Bürger durchgesetzt, dass alle öffentlichen Veranstaltungen 2.00 Uhr enden mussten. Das galt auch für die Disko. Laura war hier ständig anzutreffen. Unter den Jugendlichen hieß sie die Disko-Queen. Manche nannten sie auch Wohnheim-Queen. Eva begleitete Laura sonnabends hin und wieder in die Disko. Sie tanzte genauso gern wie ihre Schwester, aber sie war gegenüber Laura eher schüchtern. Wenn sie tanzte, dann kannte sie den Jungen oft nicht, denn es kamen viele aus Nachbarorten. Laura hingegen schien alle zu kennen und alle kannten Laura.

Heute war Sonnabend und sie wollte auch diesmal die Disko nicht verpassen. Sie verließ mit Michael das Haus, als die Kleinen ins Bett gingen. Eva saß noch einige Zeit über dem Schulstoff. Sie wollte das Abitur in eineinhalb Jahren möglichst mit „Gut“ bestehen.

Michael war noch nie mit Laura in Sonnenberg zur Disko gegangen. Deshalb war für ihn vieles neu. Aber da Laura sich sehr gut auskannte, hatte er keine Probleme. Im Saal tanzte er manchmal mit Laura. Doch meistens sah Michael nur zu, wie sie tanzte. Es blieb nicht aus, dass er von der Seite angesprochen wurde: „Du bist wohl Lauras neuer Freund?“

„Und wenn?“, antwortete er schnippisch. „Hast du etwas dagegen?“

Der junge Mann, der ihn da fragte, war vielleicht drei Jahre älter, aber das störte Michael nicht. „Du bist doch gar nicht von hier!“, bohrte er weiter.

„Hast du damit vielleicht ein Problem?“, fragte Michael zurück. Langsam wurden ihm die Fragen lästig. „Und wenn ich aus Neuseeland wäre, könnte es dir auch egal sein!“

Und wieder stichelte der Lästige: „Dann scheinst du gar nicht zu wissen, was Laura für eine ist.“

„Wie meinst du das?“, fragte Michael bissig zurück. Sein Blutdruck stieg. Auf Laura ließ er nichts kommen; und von so einer halben Portion schon gar nicht.

„Nimm deine Nutte wieder mit und hau ab!“ „Nimm das zurück!“, fauchte ihn Michael an.

Doch der andere lachte und sagte: „Ich denke gar nicht daran.“ Er war gerade fertig mit dem Satz, als es einen dumpfen Hieb gab und er am Boden lag. Sofort bildete sich ein Kreis um die beiden Kampfhähne.

Als Michaels Gegner langsam wieder hochkam, drängelte sich ein anderer junger Mann durch die Zuschauer. Er kam gerade rechtzeitig, als die beiden wieder aufeinander zugingen. Energisch rief der Neuankömmling: „Schluss! Was ist hier los? Prügeln könnt ihr euch draußen. Martin, du weißt ganz genau, dass es das hier im Saal nicht gibt!“

„Der hat doch angefangen.“ Damit zeigte er auf Michael.

Bei Michael waren jetzt alle Muskeln gespannt. Mit diesem Neuen, der mindestens fünf Jahre älter war, würde er es auch noch aufnehmen. Aber dieser blieb ruhig und löste erst einmal den Zuschauerkreis auf. „Und? Warum hast du angefangen?“, fragte er dann mit zusammengezogenen Augenbrauen.

„Was geht’s dich an? Der weiß schon, wofür er die Abreibung bekommen hat. Frag ihn selbst.“

„Hör zu. Du scheinst hier neu zu sein. Ich achte hier im Saal mit auf Ordnung. Also, was war los?“

„Er hat Laura schwer beleidigt!“

„Was? Unsere Laura? Du kennst sie?“

„Ja! Ziemlich gut. Ich lasse sie von niemandem beleidigen!“, ereiferte sich Michael.

„Hör zu. Ich heiße Harald. Was hat Martin gesagt?“ „Er hat sie als Nutte beschimpft.“

Mit einem Ruck stand Harald bei Martin. „Ist das wahr?“ „Na ja, du kennst sie doch auch“, versuchte sich Martin herauszureden. „Na, dann muss ich ihm … wie heißt du eigentlich?“ „Michael.“

„Dann muss ich Michael aber recht geben. Sei froh, dass Laura das nicht mitbekommen hat.“

„Wieso? Du kennst sie auch. Die pennt doch mit jedem.“ „So? Hat sie das mit dir schon gemacht?“

„Nein.“

„Siehst du, mit mir auch nicht und mit vielen anderen ebenso nicht. Behaupte nicht solchen Unsinn. Sei froh, dass Michael sich zurückgehalten hat. Hättest du das von meiner Freundin behauptet, dann würdest du jetzt anders aussehen. Entschuldige dich bei ihm und gib ihm einen aus. Dann wollen wir die Sache vergessen.“ Es vergingen einige Sekunden, dann sagte Harald gereizt zu Martin: „Ich warte!“

Nun gab Martin Michael die Hand und sagte: „Entschuldige! Es war nicht so gemeint. Was trinkst du?“

„Ist mir egal. Ein Bier reicht.“

Martin verschwand und Harald fragte: „Wie lange kennst du Laura schon?“

„Ungefähr zehn Jahre.“

„Was? Oh! Wie das?“

„Unsere Eltern sind befreundet. Wird das jetzt ein Verhör?“ „Ganz sicher nicht.“ Harald klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Inzwischen kam Martin mit dem Bier und stieß mit Michael an. Damit war das Problem aus der Welt. „Und jetzt ist Laura deine Freundin?“, fragte Harald weiter.

„Nein. Ich bin nur mit ihr mitgekommen, weil ich für ein paar Tage in Sonnenberg bin.“

„Dann ist Laura gar nicht deine Freundin?“, fragte jetzt auch Martin. Michael schüttelte den Kopf. „Trotzdem lasse ich nichts auf sie kommen. Sie ist mir wie eine Schwester.“

Zwischenzeitlich war auch Laura auf den Tumult aufmerksam geworden. Sie drängelte sich durch bis zu Michael und fragte: „Was ist denn hier los?“

Harald beruhigte sie: „Das ist Männersache. Du kannst weitertanzen.“ Aber Laura ließ nicht locker: „Was war denn, Michael?“ „Nichts weiter“, sagte nun auch Michael.

„Na ja, wenn du meinst“, gab Laura kleinlaut nach. Nun fragte Harald wieder: „Wie hast du das eigentlich gemacht, dass Martin gleich zu Boden ging?“

 

„Ich mache Kampfsport. Er soll froh sein, dass ich ihn geschont habe.“

„Na, Martin, da hast du ja noch mal Glück gehabt.“ Mit diesen Worten verschwand Harald.

Jetzt drehte Laura aber wieder auf: „Ich will jetzt aber auch wissen, was los war.“

Michael winkte ab und Martin meinte: „Bagatelle!“ Zu Michael meinte er: „Trinken wir noch ein Bier?“ Er nickte und ging mit Martin mit.

Als sie ein neues Bier in der Hand hatten, fragte Michael: „Warum bist du nur so giftig auf Laura? Sie ist schwer in Ordnung. Das kannst du mir glauben.“

„Eigentlich ist sie ein tolles Mädchen und sie gefällt mir sogar. Ich war nur sauer, weil ich dachte, du bist ihr Freund.“

„Dann pass du doch auf sie auf. Dann muss ich sie nicht verteidigen. Aber lauf ihr nicht hinterher. Das mag sie gar nicht.“ Martin bedankte sich für den Rat.

Auf dem Weg nach Hause sagte Laura: „Eine Freundin hat mir alles erzählt. Du hast mich gegen Martin verteidigt? Das finde ich aber lieb von dir.“ Laura küsste ihn auf die Wange.

Michael stieg das Blut in den Kopf. Zum Glück war es dunkel, sodass das nicht mal Laura sehen konnte. Doch selbstbewusst erwiderte er: „Ist nicht der Rede wert. Das hätte ich für deine Schwestern genauso getan. Wenn dich jemand beleidigt, dann gibt’s n paar auf die Zwölf.“

„Wohin?“

„Auf die Zwölf.“

„Das verstehe ich nicht. Was bedeutet zwölf?“

Michael erklärte: „Stell dir auf dem Gesicht eine Uhr vor. Die Zwölf ist auf der Stirn.“

„Ach so. Ich verstehe Martin überhaupt nicht. Er ist doch sonst in Ordnung. Was hat er denn über mich gesagt?“

„Lassen wir das. Schön war’s nicht, was er gesagt hat. Aber das ist vergessen. Er hat sich dafür entschuldigt.“

Am nächsten Morgen nahm Wolfram Michael nach dem Frühstück beiseite und fragte ihn: „Was war denn gestern eigentlich los in der Disko? Laura hat ihrer Mutter erzählt, du hättest sie beschützt.“

„Es war gar nichts weiter.“

„Michael. Du redest mit mir und nicht mit einem deiner Freunde. Ich möchte nur wissen, was los war. Schließlich wohnen wir hier und Sonnenberg ist eine kleine Stadt. Spätestens morgen, am Montag, erfahre ich es auf Arbeit. Besser wäre es, wenn du es mir erzählst.“ Dabei legte er seinen Arm auf Michaels Schultern.

„Na ja. Eigentlich war gar nicht viel. Da war einer, der Laura als Nutte bezeichnete, und da gab’s eine auf die Zwölf. Mehr war nicht.“ „Auf die Zwölf. So, so!“

„Bitte sei mir nicht böse. Ich habe doch Laura nur helfen wollen.“

„Ich bin dir nicht böse. Im Gegenteil! Ich freue mich, dass du dich so für unsere Laura eingesetzt hast. Aber ist sie denn so schlimm, wenn sie zur Disko ist?“

Michael schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Sie ist wie alle anderen!“

Wolfram sah ihn lächelnd an und sagte zu ihm: „Das hätte ich jetzt an deiner Stelle auch gesagt. Wir wissen schon, dass Laura ein bisschen leichtsinnig ist. Aber wir hoffen, dass sich das gibt, wenn sie älter wird. Und so schlimm ist sie sicher nicht.“ Nun klopfte er Michael auf die Schultern und meinte: „Ich danke dir trotzdem, dass du Laura beschützt hast. Ich denke, sie hat es verdient, dass du sie verteidigst.“

„Bitte erzähle das aber nicht meinen Eltern; besonders meiner Mutter nicht. Sonst darf ich vielleicht meinen Kampfsport nicht mehr machen.“ „Von uns erfährt sie nichts. Dein Vati wird es vielleicht irgendwann einmal erfahren, wenn wir uns unterhalten. Jetzt sehen wir uns ja nicht und am Telefon sprechen wir kaum über solche Dinge. Aber wenn ich mir das richtig überlege“, und Michael wurde es nun wieder etwas mulmig, „dann hast du Laura geholfen. Dafür hast du jetzt einen Wunsch offen.“

„Wie?“, fragte Michael völlig überrascht. „Ich? Einen Wunsch?“

„Ja! Wünsch dir etwas!“

„Ich weiß gar nicht, wie ich dazu komme.“

„Du hilfst uns und wir helfen dir. Das ist doch einfach.“

„Ja, wenn das so ist … Kann ich mit Manuela öfter zu euch kommen … in den Ferien und so?“

„Michael!“ In Wolframs Augen sammelte sich das Wasser. „Natürlich kannst du kommen! So oft du willst.“ Wolfram war gerührt. Er hatte einen materiellen Wunsch erwartet, aber Michael wollte nur bei ihnen sein. Das berührte sein Herz. Dann aber kam ihm ein anderer Gedanke. „Möchtest du wegen Laura öfter kommen?“

„Nein. Ich mag sie genauso wie Eva. Sie sind mir wie Schwestern.“

„Egal. Sag es uns, wenn du oder ihr kommen wollt, und wir regeln den Rest. Du bist uns immer willkommen und deine Schwester natürlich auch.“

Damit war das Gespräch zu Ende und Michael ging zu den Mädchen ins Zimmer. Laura fragte sofort: „Hat Vati mit dir geschimpft?“

„Überhaupt nicht. Er hat mir angeboten, dass ich öfter zu euch kommen darf.“

„Das ist unser Vati. Immer wenn man denkt, jetzt gibt es Ärger, dann wird’s gar nicht schlimm. Er ist der beste Vati, den man sich denken kann“, sagte Eva. Dann fragte sie Michael: „Du machst tatsächlich Kampfsport?“

„Ja! Warum?“

„Könntest du uns auch ein paar Griffe zur Verteidigung beibringen? Du weißt ja auch, dass man das als Mädchen vielleicht mal gebrauchen kann, wenn ein Mann mal … na ja, gefährlich wird.“

„Ich verstehe schon“, sagte Michael mit einem Lächeln im Gesicht. „Kann ich euch beibringen. Dir auch, Julia?“

Die Angesprochene wurde plötzlich rot im Gesicht und nickte nur. Da begann er gleich ihnen ein paar Griffe zu zeigen und trainierte das anschließend mit ihnen. Bis zum Abend hatten die drei Mädchen vier Abwehrstrategien gelernt. Selbst Julia war ganz eifrig beim Üben.

Manuela und Wolfram Junior saßen am Nachmittag mit Maria und Wolfram im Kinoraum im Keller und sahen sich in der Zeit ein Märchen an. Als sie beim Abendbrot begeistert über das Training sprachen, lobte Maria Michael für seine uneigennützige Arbeit. Wolfram meinte: „Das wäre eigentlich ein Anlass, dass wir wieder mal alle zusammen baden gehen.“ „Oh ja, das ist eine tolle Idee“, sagte Junior.

Michael sah Lauras Vater ungläubig ab. „Bei der Kälte?“ „Natürlich nicht draußen. Stimmt ja, du warst ja im Winter noch nie hier. Wir haben im Keller ein kleines Becken. Das benutzen wir im Winter. Dann macht euch nach dem Essen mal fertig. Wir treffen uns im Bademantel auf der Treppe.“

Eine halbe Stunde später folgten sie Wolfram in den Keller. Als sie unten ankamen, staunten Michael und Manuela. So groß hatten sie sich das Becken nicht vorgestellt. Der Boden war so hoch eingestellt, dass Manuela noch bequem stehen konnte. Nun sprangen alle ins Wasser und spielten Ballfangen. Es gab vier Mannschaften: Maria und Junior, Eva und Laura, Michael und Julia, Manuela und Wolfram. Nach einer Stunde, als alle völlig außer Puste waren, wertete Wolfram aus. Am häufigsten hatten Eva und Laura verloren und am wenigsten Michael und Julia. Darauf waren die beiden Gewinner richtig stolz.

Nun gab es für jeden ein Handtuch und die beiden Kleinen machten sich anschließend bettfertig. Als Julia dann auch bald ins Bett sollte, protestierte sie. Da sagte ihr Vati: „Julia, wenn das nicht klappt, können wir so etwas nicht wieder machen. Du hast morgen Schule. Da musst du fit sein. Nur Michael und Manuela haben noch eine Woche Ferien.“ Ungern verabschiedete sie sich und ging in ihr Zimmer.

Als sie mit den drei Großen allein im Klubzimmer saßen, fragte Wolfram: „Geht ihr nächsten Sonnabend wieder zur Disko?“ „Ich bestimmt!“, sagte Laura.

„Dürfen wir denn so lange bleiben?“, fragte Michael gleich für seine Schwester mit.

„Von uns aus ja, oder hast du Einwände?“, fragte Wolfram seine Frau.

„Nein. Von mir aus gern, Michael. Da musst du aber noch einmal deine Mutter anrufen, dass sie sich keine Sorgen macht.“

„Das mache ich gern.“ Michael freute sich, dass er mit seiner Schwester hier bei Koschs so willkommen war. „Bringt ihr uns dann am Sonntag wieder nach Hause?“

„Na klar! Gleich nach dem Mittagessen“, sagte Wolfram. „Seit gestern gehörst du doch schon halb zur Familie und deine Schwester dadurch auch.“

„Danke!“ Das war alles, was Michael jetzt sagen konnte. Er war glücklich. Zu Hause bei seiner Mutter stieß er nicht immer auf so viel Verständnis.

„Eva, vielleicht gehst du am Sonnabend auch mit in die Disko. Michael beschützt euch beide“, sagte Wolfram lachend.

„Ja, komm doch mit“, bettelte jetzt auch Laura.

„Warum eigentlich nicht?“, meinte Eva.

Damit war der Diskobesuch beschlossen.

Nachdem alle zu Bett gegangen waren, sagte Wolfram zu Maria: „Sag mal, was hat eigentlich Julia? Sie kommt mir in den letzten Tagen recht merkwürdig vor.“

„Ist dir denn nichts aufgefallen?“

„Nein.“

Da sagte sie lachend: „Dann beobachte sie mal vorsichtig, wenn Michael in der Nähe ist. Dann weißt du alles.“

„Wieso? Was hat denn Michael damit zu tun?“

„Julia schmilzt dahin, wenn er sich um sie kümmert. Besonders heute beim Baden, als sie in einer Mannschaft waren. Ja, unsere Julia wird erwachsen!“

„Bist du dir da sicher? Julia ist doch noch ein Kind.“

„Lass sie das bloß nicht hören. Sie bettelt schon seit November, dass sie mit zur Disko gehen darf. Ich habe ihr gesagt, dass sie erst vierzehn Jahre alt werden muss. Vorher schiebt sich nichts zusammen. Sie wird in drei Monaten vierzehn. Dann müssen wir Ja sagen.“

„Meinst du wirklich, dass sie sich in Michael verguckt hat?“

„Hast du nicht mal zu Sven gesagt, Mütter wüssten alles? Ich bin Julias Mutter!“

„Mein Gott, unsere Kinder werden alt und wir auch. Julia wird dann auch zur Disko gehen können, aber erst mal nur bis 22.00 Uhr. Das werde ich ihr schon beibringen. Aber das mit Michael … Weiß er es auch?“, fragte Wolfram.

„Ich glaube nicht. Aber so, wie ich Julia einschätze, wird er sicher bald von ihr hören. Vermutlich geht das dann über SMS oder E-Mail. Da haben wir keinen Einfluss drauf.“

„Ach Gott, von mir aus. Hauptsache, er bleibt ihr nachts fern.“

„Deshalb ist es ja gut, wenn Manuela immer mit bei Julia im Zimmer schläft und Michael bei unserem Junior.“

„Ja. Das lassen wir mal so.“

Damit war für sie diese Sache geklärt. Nach dem ausgiebigen Bad waren sie sehr müde und schliefen auch schnell ein.

Die nächsten Tage war Maria tagsüber mit Michael und Manuela allein. Sie gingen zusammen einkaufen und kochten das Mittagessen zusammen. Selbst Michael gefiel das. Von zu Hause kannte er das nicht. Nachmittags kamen dann die Mädchen und Michael übte mit ihnen wieder Selbstverteidigung oder sie spielten im Keller Tischtennis. Wolfram Junior spielte mit Manuela auch manchmal mit. Aber oft waren sie auch draußen auf dem Kosch-Gelände unterwegs. Manuela war zwar ein Mädchen, aber da sie seine Spiele alle mitspielte, kam er ganz gut mit ihr zurecht. Nur wenn sie mit ihren Puppen anfing, dann bekam er ständig eine Krise.

So verging die Woche und es war wieder Sonnabend. Zum Abendbrot fragte Julia vorsichtig ihren Vati, ob sie ausnahmsweise auch mal mit zur Disko dürfe. Maria fühlte sich dabei übergangen. Das sah man deutlich an ihrem Blick, den sie Wolfram zuwarf. Doch er sagte zu Julia: „Nein, Julia. Es war ausgemacht, dass es Disko erst nach deinem vierzehnten Geburtstag gibt. Die drei Monate schaffst du doch auch noch.“

Jetzt lehnte sich Maria entspannt zurück. Sie hatte schon befürchtet, dass Wolfram eine Ausnahme machen wollte. Doch Wolframs Antwort besänftigte sie. Julia hingegen war mit dieser Antwort überhaupt nicht zufrieden. Doch gegen ihren Vater rebellierte sie nicht. Wusste sie doch, dass sie dabei immer den Kürzeren ziehen würde. Ihr Bruder und auch Laura hatten das schon mehrfach getestet.

Also ging Laura nach dem Abendessen nur mit Eva und Michael zur Disko. Als die drei in dem Saal ankamen, reagierten schon einige Mädchen auf Michael. Es hatte sich herumgesprochen, wie er das Problem mit Martin auf seine Weise gelöst hatte. Dass er aber trotzdem keine Schlägerei angefangen hatte, imponierte vielen. Michael hatte eben nur Laura verteidigt. Jetzt war er wieder da und diesmal kam sogar Eva mit. Manch einer aus Sonnenberg beneidete ihn jetzt um seine Begleitung. Laura war für fast alle unnahbar oder sie wurden abgelehnt, obwohl sie locker drauf war. Eva hingegen war nur selten mit im Saal. So waren beide irgendwie etwas Besonderes.

Michael hatte durch sein Auftreten vom vergangenen Sonnabend plötzlich viele Verehrerinnen. Am Anfang gefiel ihm das sogar, aber nach einiger Zeit wurde es ihm dann doch lästig. So tanzte er, wenn überhaupt, am Ende nur noch mit Laura oder Eva. Einmal brachte Laura Martin mit an den Tisch. Sie hatte ihm die Bemerkung der vergangenen Woche verziehen. Martin begrüßte Michael wie einen alten Freund. Das war auch Michael recht. Zumal er sah, dass sie von vielen beobachtet wurden, wie sie sich jetzt begegneten. Da er mit Martin Freundschaft hielt, war Michael in Sonnenberg nun akzeptiert.

 

Einmal nur kam Harald vorbei, grüßte und erinnerte Michael, dass Meinungsverschiedenheiten in Sonnenberg immer noch draußen geklärt werden. Eva fragte: „Das war wohl der Ordnungshüter von voriger Woche?“

Michael nickte und meinte: „Der ist gar nicht so verkehrt. Er hat mir vorige Woche sogar recht gegeben.“

Einmal, als die beiden Mädchen tanzten, kam Martin zu Michael und fragte ihn vorsichtig: „Ist Laura noch böse mit mir?“ „Wieso denn? Du hast doch vorhin mit ihr getanzt.“ „Na, das muss bei Mädchen noch lange nichts heißen. Gerade bei Laura sehe ich da nicht durch.“

„Na klar war sie sauer. So betitelt man auch kein Mädchen. Aber du hast Glück. Laura ist nicht nachtragend“, klärte ihn Michael auf.

„Da bin ich aber froh. Das war auch ausgesprochen blöd von mir. Vielleicht sollte ich nicht so viel trinken, dann erzähle ich auch nicht so viel Müll.“

„Damit könntest du recht haben.“ Michael nickte ihm zu. „Trotzdem würde ich sie an deiner Stelle nachträglich um Verzeihung bitten. Das kann jedenfalls nicht schaden.“

Kurz vor Mitternacht kam ein recht kräftiger junger Mann auf Michael zu und provozierte ihn. „Na, willst du dich auch mit mir anlegen?“

Doch Michael reagierte locker: „Weshalb? Du hast mir doch nichts getan.“

„Das wollte ich dir auch nicht geraten haben, du Wichtigtuer. Solche wie dich rauche ich in der Pfeife.“

Jetzt stand Michael auf und ging auf ihn zu. „Willst du Streit?“ Da griff der Fremde nach Michaels Hals. Doch schon kam ihm Haralds Hand zuvor. Harald hatte alles aus der Ferne beobachtet und traf noch rechtzeitig ein. Der Fremde griff jetzt Harald an und schlug so nach ihm, dass Harald blutete. Nun war Michael nicht mehr zu bremsen. Er holte aus und der Fremde ging zu Boden. Harald wischte sich das Blut aus dem Gesicht und sagte: „Danke, Kleiner. Das hast du gut gemacht. Hilfst du mir noch, diesen Fleischberg nach draußen zu schaffen?“

„Klar. Der ist viel zu langsam, als dass er mir gefährlich werden könnte.“

Gemeinsam bugsierten sie ihn an die frische Luft und Harald sprach dem Streitlustigen vier Wochen Hausverbot aus. Als Ordnungskraft war er dazu berechtigt.

Als sie in den Saal zurückgingen, fragte Harald: „Kannst du mir diesen Schlag beibringen? Das ist ja irre, wie du das machst.“

Michael antwortete: „Das würde ich gern, aber ich muss morgen nach Hause und ich wohne im Schwarzwald.“

„Oh je, das ist aber auch nicht um die Ecke. Da bist du ja den halben Tag unterwegs.“

„Na ja, es geht.“ Michael erinnerte sich, dass er nichts sagen durfte, was vielleicht Koschs Inkognito lüften könnte. Deshalb hielt er sich bewusst bedeckt. „Aber ich komme ja irgendwann mal wieder. Vielleicht schon im Sommer. Dann finde ich dich doch bestimmt wieder hier in der Disko.“

„Ganz sicher findest du mich hier. Aber jetzt müssen wir noch einen trinken. Heute hast du mich beschützt“, sagte Harald.

„Bitte nicht mehr. Mir reicht es für heute. Vielleicht beim nächsten Mal.“

Als sie wieder den Saal betraten, wurde Michael regelrecht umringt. Jeder wollte ihm sagen, wie gut er reagiert und dass dieser Säufer nichts anderes verdient habe. Zum Glück war die Disko bald zu Ende. So konnte Michael sich von seinen Bewunderern befreien.

Auf dem Weg nach Hause waren Eva und Laura ganz stolz auf ihren Beschützer. „Heute hast du dir viele Freunde geschaffen“, sagte Laura. „Mir waren das schon bald zu viele“, antwortete er abwehrend. Da meinte Eva: „Lass mal. Du warst richtig gut. Wie du diesen Mann von den Ordnungskräften verteidigt hast, war ganz toll. Ich bin stolz auf dich. Schade, dass du nicht vier, fünf Jahre älter bist.“

„Wie meinst du das?“, fragte Michael misstrauisch.

„Ach, komm! Das war doch nur Spaß.“

Da fügte Laura lachend hinzu: „Beim Kämpfen bist du einsame Spitze, aber mit Mädchen kennst du dich nicht aus!“

Die beiden Schwestern lachten, nahmen ihn in die Mitte und hakten sich links und rechts ein. So kamen sie zehn Minuten später zu Hause an.

Am folgenden Sonntag brachte Wolfram seine beiden jungen Gäste zu ihrer Mutter in den Schwarzwald. Sie guckte immer etwas misstrauisch, wenn Wolfram mit den beiden ankam. Aber sie konnte sich noch sehr gut an den Rechtsanwalt erinnern, der diese Besuchsregelung mit ihr ausgehandelt hatte. Mit diesem Anwalt wollte sie nie wieder zu tun haben.

Der Januar verging recht schnell. Schnee gab es schon seit einigen Jahren kaum noch. Und wenn es mal schneite, dann lag er nur ein paar Tage oder nur Stunden. Die Winter, von denen Wolfram manchmal erzählte, gab es schon lange nicht mehr. Vielleicht lag das doch an den Flugzeugen, die fast täglich irgendwelche Sachen hoch oben versprühten, um angeblich die Klimaerwärmung aufzuhalten.

So kamen der Februar und die Schneeglöckchen. Immer wenn sich die ersten Schneeglöckchen zeigten, musste Maria an das Hotel ihrer Heimat in Norwegen denken. Es hieß Snowdrop, was zu Deutsch Schneeglöckchen heißt. Mit dem Februar kam für Maria und Wolfram aber auch der elfte Jahrestag ihrer ersten Begegnung. Sie feierten diesen Tag nicht nur deshalb, sondern auch, weil ohne Wolframs damaliges Eingreifen Maria an diesem Tag ertrunken wäre. So feierten sie an diesem Tag auch Marias zweites Leben.

Durch die Gespräche an Mammas Geburtstag im Januar waren viele Erlebnisse ins Gedächtnis zurückgekehrt, die schon fast vergessen waren. Besonders die Umstände, durch die Maria an diesem Tag vor elf Jahren so verzweifelt gewesen war. Und wieder waren Wolfram und Maria davon überzeugt, dass es kein Zufall war, dass sich gerade in diesem Moment ihre Wege kreuzten, als sie ins kalte Wasser fiel. So saßen sie zu zweit auf der Couch und lebten in den Erinnerungen an diesen Tag. Die Kinder waren in der Schule und ihre Eltern hatten den Tag ganz für sich.

Da kam Wolfram eine verrückte Idee: „Wollen wir diesen Tag ähnlich begehen wie damals oder noch besser wie Andrea an ihrem 25. Geburtstag?“ Maria verstand noch nicht, was er damit meinte. Da sagte Wolfram lächelnd: „Du musst jetzt erst einmal in die Wanne. Ich komme dann zwar ohne Makkaroni, aber mit einer Flasche Wein und etwas Saft für mich nach.“

„Sind wir dafür nicht etwas zu alt?“, fragte Maria lachend. Wolfram schüttelte schmunzelnd den Kopf und ein langes „Neiiin!“ kam aus seinem Mund. Dann trug er seine Maria nach oben und legte sie im Schlafzimmer ab, daraufhin ging er ins Bad, um die Wanne volllaufen zu lassen. Während dies geschah, holte er eine Flasche Wein, Saft für sich, zwei Gläser und stellte alles auf die Ablage an der Wanne. Anschließend holte er den Leuchter, der die kleine Brücke über den Millstream darstellte, vom Frühstückstisch, stellte ihn ebenfalls auf die Wannenablage und zündete die Kerzen an. Nun ging er ins Schlafzimmer, trug Maria ins Bad und setzte sie vorsichtig in die Wanne; fast so wie vor elf Jahren. Danach stieg er selbst ins Wasser.

„Nun fehlt nur noch jemand, der uns fotografiert“, sagte Wolfram schmunzelnd.

„Wenn wir hier lange genug sitzen, können das unsere Kinder besorgen. Die kommen nämlich in zwei Stunden aus der Schule“, erwiderte sie lachend.

Das warme Wasser und der Wein holten bei Maria die schönen Erinnerungen dieses Tages und der folgenden zwei Wochen im Februar 2000 ins Gedächtnis zurück. Auch Wolfram fiel in diese Zeit zurück. So erinnerten sie sich gegenseitig an die vielen kleinen Einzelheiten, die diese Zeit so wunderschön gemacht hatten.

Doch dann wurde Maria plötzlich ernst und eine Traurigkeit machte sich in ihrem Gesicht breit. „Was hast du?“, fragte Wolfram besorgt.