Herzensöffnung (1)

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Sie unterhielten sich noch lange. Offensichtlich hatte Sven Zeit. Ab und zu kam ein Hotelgast und verlangte nach seinem Schlüssel oder einer kurzen Auskunft. Dann unterbrachen sie ihr Gespräch und anschließend führten sie es fort.

Inzwischen war es kurz vor 18.00 Uhr und Sven meinte: „Ich habe gleich Feierabend und wollte Ihnen noch etwas sagen. Sie treffen sich doch wieder mit Maria?“

Wolfram nickte.

„Dann sagen Sie ihr doch, dass sie nicht draußen in der Kälte auf Sie warten muss. Wenn ich da bin, kann sie auch hier in der Hotel-Lobby warten. Und wenn es nicht ausartet … Na ja, tagsüber bin ich ja hier. Wenn Sie mal mit ihr hochgehen … habe ich nichts gesehen.“

Wolfram war von dieser plötzlichen Sympathie überrascht. Er reichte Sven die Hand und sagte: „Danke, Sven. Ich werde es ihr ausrichten … zumindest das Erstere.“

Er lächelte Sven zu und ging zum Fahrstuhl. Schließlich kam Maria schon in einer Stunde und er stand immer noch mit dem Mantel in der Hand da. Jetzt wollte er sich erst mal etwas frisch machen und Abendbrot essen.

Als Wolfram kurz danach etwas frischer wieder aus dem Fahrstuhl kam, wartete Sven auf ihn. Er hatte schon Feierabend und seine Ablösung stand jetzt hinterm Tresen. Sven meinte: „Wenn Sie wieder mal nach Bergen wollen … da werden wir uns schon einig. Das, was Sie mir gegeben haben, reicht, um dreimal nach Bergen zu fahren.“ Sven konnte nicht deutlicher werden, weil er nicht wollte, dass sein Auto-Verleihen im Hotel bekannt wurde.

Wolfram hatte natürlich verstanden und erwiderte: „Ich danke Ihnen. Sie sind ein guter Kamerad.“

Damit verabschiedeten sie sich. Sven ging in die Tiefgarage und Wolfram ins Restaurant.

Gegen 19.00 Uhr verließ Wolfram das Hotel. Maria wartete schon auf ihn.

„Wartest du schon lange?“

„Nein, nein!“, log Maria, obwohl sie schon eine halbe Stunde vor dem Hotel stand.

Wolfram zweifelte etwas an ihrer Antwort, sagte aber nichts. Er streichelte nur liebevoll ihren Kopf. Dann gingen sie wieder zu ihrer Brücke. Diese war ihnen inzwischen schon so vertraut. Hier hatte alles begonnen und so war sie zum Symbol ihrer Liebe geworden.

„Weißt du, Maria, ich habe mich heute lange mit dem Portier unterhalten. Vorm Abendbrot hatte ich ja viel Zeit. Ich glaube, ich habe in ihm einen Freund gefunden. Er war richtig nett. Von ihm soll ich dir auch etwas ausrichten. Er sagte, dass du nicht im Kalten vor dem Hotel auf mich warten musst. Du könntest in die Hotel-Lobby kommen, wenn er Dienst habe. Dann hat er noch gefragt, wer den Brief heute gebracht hat.“

„Andrea, meine Schwester.“

„Ja, das habe ich ihm auch gesagt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als ob ihn deine Schwester interessierte.“

„Jaaa? Ehrlich?“ Wolfram nickte.

„Da wird sich Andrea aber freuen. Sie schwärmt schon lange von ihm, hat sich aber nie getraut, ihn anzusprechen. Als ich den Brief ins Hotel bringen wollte, fragte mich Andrea, ob sie das übernehmen könne. Sie wusste, dass er Dienst hat.“

„Wenn das so ist, dann kann man doch vorsichtig nachhelfen, dass er Andrea öfters rein zufällig sieht. Ich weiß noch nicht wie, aber da fällt mir schon etwas ein.“

Maria küsste ihn ganz lieb und sagte: „Da würdest du Andrea einen großen Gefallen tun.“

„Du sprichst sehr lieb von deiner Schwester. Ihr habt euch sicher gern.“ Sie nickte.

„Ich kenne sie noch gar nicht, bis auf die zwei Sekunden gestern an der Bushaltestelle. Na, vielleicht klappt es mal etwas länger. Bring sie doch einfach mal mit.“

„Das geht nicht, wegen der Kinder. Sie passt doch immer auf sie auf, wenn ich nicht da bin.“

„Richtig, die Kinder. Und wenn wir mal alle zusammen spazieren gehen? Wir treffen uns an der Haltestelle – oder ist das für deine kleine … Wie hieß sie doch?“

„Julia.“

„Ist das für Julia zu weit?“

„Bis zur Straße nicht, aber dann darf es nicht mehr allzu weit sein.“

„Das ist doch kein Problem. Wenn wir uns begrüßt haben und Julia keine Angst hat, dann trage ich sie auf meinen Schultern.“

„Das würdest du tun?“

„Warum denn nicht? Bei uns sieht man das öfter, dass die Väter ihr Kind auf den Schultern tragen. Das ist nichts Besonderes.“

„Hier schon“, hauchte Maria.

„Na, dann sehen die Håp-Länder eben mal was Neues. Außerdem trage ich gern kleine Kinder auf den Schultern. Leider kommt das nur sehr selten vor.“

Schon wieder standen Maria Tränen in den Augen. Sie konnte es einfach nicht fassen, wie Wolfram über ihre Kinder dachte. All die Jahre war sie im Dorf Spießruten gelaufen und keiner wollte etwas mit ihr und ihren Kindern zu tun haben – und er akzeptiert sie, als wären sie seine Kinder. Nicht einmal das Gerede im Dorf störte ihn dabei.

Wolfram riss sie aus ihren Gedanken mit den Worten: „Wie wäre es am Sonnabend? Da muss sicher auch deine Schwester nicht arbeiten und kann mitkommen.“

„Wir haben alle keine Arbeit, außer Pappa. Er fährt jeden Morgen mit dem Bus nach Bergen und kommt erst abends zurück. Was er verdient, reicht zum Leben. Manche Familien in Håp Land haben weniger.“

„Wovon leben sie denn dann?“

„Im Winter werden sie von Freunden und Verwandten unterstützt und im Sommer leben sie von ihren Gärten. Staatliche Unterstützung lehnen die meisten hier ab. Die Leute im Dorf sind sehr stolz. Bei euch in Deutschland ist das sicher anders.“

„Na ja, unbedingt reich sind die Menschen dort auch nicht. Aber wer keine Arbeit hat, wird vom Staat unterstützt, sodass es für das Nötigste reicht.“

„In Deutschland müsste man leben“, meinte Maria versonnen.

Sie waren längst an ihrer Brücke angekommen und schauten in das Wasser. Wolfram verstand immer noch nicht, wieso es nicht zugefroren war.

„Und wenn du mit den Kindern nach Deutschland kommst? Das Geld, das ich verdiene, reicht auch für euch, wenn wir sparsam sind. Und sicher werden wir auch eine Arbeit für dich finden, wenn du das willst.“

„Ist das dein Ernst? Ich würde gern kommen, aber ich habe kein Geld für die Fahrt. Könntest du uns im Flugzeug mitnehmen?“

Wolfram schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht, weil bei so einer Reisegruppe immer alle Plätze belegt und schon bezahlt sind. Stehplätze gibt es im Flugzeug nicht. Ich muss leider ohne euch zurückfliegen.“

Bei dem Gedanken brach eine Welt für Maria zusammen. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Wolfram würde ja schon in zehn Tagen wieder nach Deutschland fliegen. Eine tiefe Traurigkeit machte sich in ihr breit. Wolfram bemerkte das und riss sie aus ihren Gedanken mit den Worten: „Dann kommst du hinterher. Das ist doch kein Problem; natürlich nur, wenn du willst.“

Sie beeilte sich. „Ja. Ich will.“

„Wirklich?“

„Ja!“

Aus diesem Ja sprach so viel Hoffnung, dass es Wolfram das Herz rührte. Diese Frau war es wert, dass man sich für sie einsetzte. „Wir haben ja noch bis nächste Woche Sonnabend Zeit. Bis dahin können wir das alles organisieren, wenn du willst.“

Sie nickte schnell.

„Aber das wird nicht gleich sein.“

Ihr Gesicht wurde wieder traurig.

„Versteh das bitte nicht falsch. Ich brauche eine andere Wohnung mit einem Kinderzimmer und auch mehr Möbel, Kinderbetten und Ähnliches. Ich denke, es wäre gut, wenn du etwa vier Wochen später nachkommst. Bis dahin müsste ich alles geregelt haben.“

„Vier Wochen, das ist ja schon im März. Dann würde ich meinen Geburtstag bei dir feiern. Aber Pappa wird das nicht zulassen. Er wird uns nicht weglassen.“ Sie senkte ihren Blick zum Wasser des Millstream. „So, wie ich ihn kenne, lässt er mich nur weg, wenn wir verheiratet sind.“

Erwartungsvoll blickte sie Wolfram an. Der holte tief Luft und sah aus, als hätte er diese Situation erwartet. Er nahm Maria fest in seinen Arm und meinte: „Maria. Das geht nicht. So gern, wie ich dich habe, aber man heiratet nicht nach einer Woche.“ Die Enttäuschung in ihren Augen war nicht zu übersehen. „Ich denke, dass das hier auch so ist. Natürlich würde ich dich sofort heiraten, aber so unvernünftig darf ich nicht sein und du auch nicht. Was ist, wenn wir nach vier oder acht Monaten merken, dass wir uns geirrt haben? Eine Scheidung ist in Deutschland eine schwierige und nervenaufreibende Sache. Deshalb lebt man in Deutschland erst einmal einige Monate zusammen, um sich besser kennenzulernen. Ist das hier nicht so?“

„Nein. Ich kenne es nur so, dass man erst nach der Hochzeit zusammenzieht. Es ist doch eine Schande, wenn eine Frau vor der Ehe mit einem Mann … na, du weißt schon. Das gibt es hier nicht, zumindest nicht so offen.“

„Bitte versteh mich, Maria. Da lasse ich mir nicht reinreden. Ich werde mich auch von deinem Vater nicht zu einer Hochzeit zwingen lassen.“

Maria weinte bitterlich. Ihre ganzen Hoffnungen brachen mit einem Mal zusammen. Sie war wieder an dem Punkt wie am Montagnachmittag. Gleichgültigkeit erfüllte ihr ganzes Denken und Handeln.

Wolfram erkannte schnell, warum sie so verändert war. „Maria. Ich liebe dich. Das musst du mir glauben. Es gibt viele Dinge, die du jetzt nicht verstehen würdest, aber eines solltest du wissen. Ich bin auch fürs Heiraten, nur jetzt noch nicht. Ich möchte dich und die Kinder erst besser kennenlernen. Das musst du doch verstehen.“

„Ich verstehe das“, schluchzte sie, „aber Pappa nicht.“

Die Kälte kroch immer mehr unter die Sachen, vor allem in die Stiefel. Deshalb schlug Wolfram vor, wieder zu ihrem Haus zu gehen. Schweigend liefen sie so bis zur Fernstraße. Nur der Schnee knirschte wie immer unter ihren Füßen.

„Und wenn du ohne das Wissen deines Vaters nach Deutschland kommst? Du brauchst keine Angst zu haben. Selbst wenn wir uns irgendwann nicht mehr verstehen würden, dann verspreche ich dir hoch und heilig, dir trotzdem zu helfen, in Deutschland sesshaft zu werden oder wieder zurück nach Håp Land zu ziehen.“

 

„Warum willst du das tun?“ Erstaunen blickte aus ihrem verweinten Gesicht.

„Maria. Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als mein Leben. Das mit der Hochzeit ist aber eine andere Sache. Bitte vertrau mir. Es geht jetzt noch nicht.“

Wieder liefen sie schweigsam nebeneinanderher in Richtung Dorf. Kurz vor ihrem Haus fragte Wolfram: „Wann sehen wir uns wieder?“

„Geht es bei dir am Freitag – so wie heute?“

„Ja. Bitte überschlafe alles noch einmal.“ Plötzlich drückte Wolfram sie spontan an sich und mit zitternder Stimme sagte er: „Ich will dich nicht verlieren.“

Dann trennten sie sich. Maria lief völlig durcheinander ins Haus. Wolfram blieb noch eine Weile stehen und ging dann ins Hotel zurück.

Die Kinder waren schon im Bett und Andrea wartete gespannt auf ihre Schwester. Als sie aber ins Zimmer trat, war sie erschrocken. „Was ist passiert?“, rief sie und ging ihrer Schwester entgegen. Maria suchte Halt in den Armen ihrer Schwester und sagte eine Weile gar nichts. Dann setzten sie sich und Maria erzählte ihrer Schwester alles, was sich zugetragen hatte.

„Er will dich also gar nicht heiraten?“, fragte Andrea.

„Doch, aber nicht jetzt. Er sagt, dass er mich liebt, und ich glaube ihm.“ Und wieder liefen Tränen über Marias Gesicht. „Aber er kann mich jetzt noch nicht heiraten. Das sei in Deutschland nicht üblich.“

„Aber wenn er dich doch so liebt, wie er sagt, dann kann es ihm doch egal sein, was in Deutschland üblich ist und was nicht. Es wird doch nicht verboten sein zu heiraten.“

Maria zuckte mit den Schultern und versuchte sich zu beruhigen.

Andrea meinte: „Und ich dachte, er sei anders als die anderen Männer. Sie sind eben alle gleich!“

„Nein! Das sind sie nicht! Es gibt keinen besseren Mann als ihn. Ich liebe ihn so sehr.“ Und wieder brach sie in Tränen aus.

Andrea versuchte, ihre Schwester zu trösten und zu beruhigen. Dann machte sie ihr den Vorschlag, ins Bett zu gehen und abzuwarten. Vielleicht würde ja noch alles gut werden. Heimlich fasste sie den Vorsatz, am nächsten Tag abends ohne Marias Wissen kurz mit Wolfram zu sprechen. Sie konnte doch nicht tatenlos zusehen, wie ihre Schwester litt.

Genauso wie Maria war auch Wolfram die halbe Nacht munter. So sehr er auch angestrengt überlegte, er fand keine Lösung. Jetzt zu heiraten, war unmöglich. Zu viel hing davon ab, ob es funktionierte oder nicht. Nein, er musste Maria erst länger kennen und die Kinder auch. Es könnten Probleme auftreten, die heute noch gar nicht in Sicht waren und sich erst im Alltag zeigten. Nein, eine Probezeit musste sein.

Der nächste Tag brachte wieder eine Busfahrt durch das Land der Fjorde. Wolfram fuhr zwar mit, aber seine Gedanken waren immer wieder bei Maria. Er überlegte hin und her, doch es gab keine Alternative. Er musste mit Marias Vater reden. Dass das fast unmöglich war, wusste er, aber einen anderen Weg sah er nicht.

Als die Busfahrt am späten Nachmittag vor dem Hotel endete, wollte Wolfram nur kurz in sein Zimmer, sich sammeln, dann Abendbrot essen und anschließend in die Höhle des Löwen. Abends musste Marias Vater ja zu Hause sein.

Doch als Wolfram das Hotel betrat und zum Fahrstuhl wollte, nickte Sven, der wieder Dienst hatte, ihm zu und zeigte auf die Hotel-Lobby. Wolfram riss den Kopf herum und … da saß nicht Maria. Dort sah er Andrea, Marias Schwester. Verwirrt ging er auf sie zu und grüßte: „God dag.“ Er hatte inzwischen gelernt, was „Guten Tag“ auf Norwegisch heißt.

Sie erhob sich und zeigte auf die Tür nach draußen. „Wir etwas gehen?“

Wolfram war nicht danach, im Schnee spazieren zu gehen. „Wir gehen besser in mein Hotelzimmer.“ Dabei zeigte er nach oben. Er blickte zu Sven hinüber und dieser nickte leicht. Andrea zögerte eine Weile, dann nickte sie mit energischem Gesicht und so fuhren beide mit dem Fahrstuhl nach oben.

Im Zimmer half er ihr aus dem schweren Mantel und bot ihr an, sich zu setzen. Wolfram nahm auf dem anderen Stuhl Platz. „Du kommst von Maria“, begann er das Gespräch.

Nei! Maria nicht wissen, ich bin bei dir. Sie sehr traurig von gestern. Warum du sie traurig gemacht?“

„Andrea – du heißt doch Andrea?“

Sie nickte.

„Ich nehme an, Maria hat dir alles erzählt.“

Sie nickte erneut.

„Ich mache alles mit, denn ich liebe deine Schwester. – Verstehst du alles, was ich sage?“

„Ich gut verstehen, aber schlecht sprechen.“

„Ich bin genauso traurig wie sie über diesen Zwischenfall von gestern, aber es gibt Umstände, weshalb ich Maria jetzt nicht heiraten kann. Bitte versteht das. Man muss sich doch erst richtig kennen, wenn man einen Bund für immer schließen will. Maria und ich kennen uns erst vier Tage. Da kann man doch noch nicht heiraten. Heiraten hier Mann und Frau schon nach vier Tagen?“

Nei.“ Sie schüttelte den Kopf.

„In Deutschland auch nicht. Warum kann Maria das nicht verstehen?“

„Maria verstehen, aber Pappa nicht!“

„Andrea, bitte hilf uns, dass Maria auch ohne Hochzeit mit nach Deutschland kommen kann. Ich fühle, dass in Deutschland alles gut wird.“

„Und wenn nicht gut, was dann?“

„Dann sorge ich dafür, dass Maria und ihre Kinder in Deutschland sesshaft werden können, sie eine vernünftige Arbeit hat oder zurück nach Håp Land kommen kann; egal wie sie sich dann entscheidet. Das verspreche ich dir.“

„Nicht mir. Maria versprechen.“

„Das habe ich gestern bereits gemacht.“ Wolfram trieb es plötzlich zu der Brücke, auf der er mit Maria so glücklich gewesen war. „Willst du sehen, wie und wo ich Maria kennengelernt habe?“

Sie nickte heftig.

„Dann müssen wir zum Mühlbach.“

„Müllbach?“

„Wie hieß der denn bloß bei euch? Irgendwas mit … stream.“

Millstream!

„Ja, das ist er.“

Sie zogen sich an und verließen das Hotel. Sven grüßte und irgendwie sah er erleichtert aus, als Wolfram und Andrea schon nach zwanzig Minuten wieder das Hotel verließen. Damit war er sich sicher, dass sie nur wegen ihrer Schwester hier war. Ihn faszinierte Andrea immer mehr.

Wolfram und Andrea gingen wortlos nebeneinanderher. Nur der knirschende Schnee unter ihren Füßen umrahmte die Stille. Als sie die kleine Brücke erreicht hatten, erzählte Wolfram die ganze Geschichte und zeigte ihr, wo Maria ins Wasser gerutscht war. Die Stelle war selbst in der Dunkelheit noch gut im Schnee zu erkennen. Dann gingen sie zur Mündung des Millstream. Hier zeigte er ihr, wo er Maria am Mantel greifen und herausziehen konnte. Auch hier waren die Spuren im Schnee noch deutlich zu sehen. Andrea war entsetzt, als sie diese Wahrheit hörte und sah. So schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt.

„Du ihr Leben retten.“

„Ja“, sagte Wolfram sinnlich nickend.

„Danke!“ Dabei drückte sie ihn ganz fest. „Danke auch von Mamma und Pappa.“

Wolfram hätte alles erwartet, Vorwürfe oder mehr, aber das nicht. Andrea war ihm plötzlich so vertraut, als wäre sie seine eigene Schwester. Er sah sie eine Weile an und sagte dann zu ihr: „Hilfst du uns?“

Sie gingen jetzt wieder langsam zum Hotel zurück. „Ich versuchen euch helfen. Aber wie das gehen?“

„Ich muss einiges in Deutschland vorbereiten.“ Er erzählte ihr von der größeren Wohnung mit Kinderzimmer, die er erst einrichten müsse, bevor Maria und die Kinder zu ihm kommen könnten.

Das verstand Andrea. „Aber wie Kontakt zu Maria, wenn du in Deutschland?“

„Hm, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Sicher ist es besser, wenn ich keine Briefe an eure Adresse schicke. Ich werde mal mit Sven sprechen. Vielleicht geht es telefonisch über ihn und das Hotel.“

„Wer Sven?“

„Was? Ach so, ja. Sven ist der Portier im Hotel.“

„Oh“, entfuhr es ihr.

Wolfram hätte viel darum gegeben, wenn er jetzt ihr Gesicht hätte erkennen können, aber dafür war es einfach schon zu dunkel.

„Vielleicht ist es doch besser, ich versuche, mit eurem Vater zu reden. Es könnte doch sein, dass auch er Verständnis hat.“ Diese Variante wäre Wolfram lieber gewesen.

Doch auch Marias Schwester hatte da nur wenig Hoffnung. „Pappa kein Ja für Deutschland ohne Hochzeit. Und du Deutscher.“

„Ich werde es trotzdem versuchen. Kurz bevor ich wieder nach Deutschland fliege. Vielleicht denkt er bis dahin anders von mir.“

„Ich nicht glauben“, sagte Andrea.

Sie waren inzwischen wieder am Hotel angelangt. Wolfram fragte sie, ob er sie nach Hause begleiten solle, aber Andrea wehrte heftig ab. Das wäre nicht gut, meinte sie. Man würde das im Dorf völlig falsch verstehen. Das begriff Wolfram. „Bitte richte Maria von mir einen lieben Gruß aus und sag, dass es mir sehr, sehr leidtut. Grüße bitte auch die Kinder von mir. Maria will morgen zum Hotel kommen. Komm doch einfach mit und wir sprechen zu dritt über diese Sache. Vielleicht versteht mich Maria dann besser.“

„Ich gern kommen. Nicht möglich. Kinder allein.“

„Richtig! Das hatte ich vergessen.“ Er gab ihr die Hand, drückte sie kurz und meinte: „Danke!“ Dann ging Andrea und er betrat das Hotel. Als er an der Rezeption vorbeikam, frage Sven: „Alles in Ordnung?“

Wolfram lächelte. „Ja, ich denke schon. Ist Andrea hier im Hotel auch unerwünscht?“

„Wer ist Andrea?“, fragte Sven, obwohl man ihm ansah, dass er es vermutete.

„Marias Schwester heißt Andrea. Wussten Sie das nicht?“

„Nein. Aber sie darf unser Hotel jederzeit betreten.“

Wolfram überlegte einen Moment. „Ist es möglich, von hier nach Deutschland anzurufen oder von Deutschland hierher?“

„Ja, natürlich.“

„Könnte ich die Telefonnummer von hier bekommen?“

Sven gab ihm eine Karte vom Hotel.

„Wo steht das Telefon mit dieser Nummer, die hier auf der Karte steht?“, fragte Wolfram.

„Im Büro des Hotels.“

„Kann ich auch direkt hier in der Rezeption anrufen?“ Sven nickte und schrieb die Nummer gleich mit der Ländervorwahl hinten auf die Karte.

„Sven, ich glaube, ich werde bald Ihre Hilfe benötigen. Kann ich auf Sie bauen?“

Nun wurde Sven noch freundlicher: „Jederzeit. Worum geht es?“

„Wir sprechen ein andermal darüber.“ Wolfram verabschiedete sich von Sven, hielt auf dem Weg zum Fahrstuhl die Karte des Hotels hoch und rief: „Danke!“

Inzwischen war Andrea zu Hause angekommen. Sie ging gleich zu ihrer Schwester und erzählte ihr, dass sie mit Wolfram gesprochen habe und alles in Ordnung sei.

„Wie hast du mit ihm sprechen können? Du kannst doch gar kein Deutsch sprechen und er versteht kein Norwegisch.“

„Er hat sich Mühe gegeben, mich zu verstehen, auch wenn es sicher kein gutes Deutsch war. Es hat funktioniert! Ich soll dir liebe Grüße von ihm ausrichten und den Kindern auch.“

„Den Kindern auch?“, fragte Maria.

Andrea nickte und erzählte weiter: „Das hat er gesagt. Ich finde, Wolfram ist ein ehrlicher Mann und du kannst ihm vertrauen. Ich würde zu ihm nach Deutschland gehen, auch wenn Pappa es verbietet. So einen Mann bekommst du nicht wieder.“

„Ja, aber wie soll ich das denn machen? Nächste Woche fliegt er wieder nach Deutschland und ich komme doch nicht einmal bis Bergen ohne Geld. Dann die Koffer und die Kinder und jeder hier im Dorf wird sehen, was ich will. Das bleibt doch auch Pappa nicht verborgen. Und dann auf dem Schiff, die vielen Stunden mit den Kindern. Nein, Andrea, das wird nicht gehen. Es ist zum Verzweifeln.“

Doch Andrea tröstete ihre Schwester: „Vertraue ihm. Er wird schon einen Weg finden. Wenn ich Wolfram richtig verstanden habe, dann denkt er schon darüber nach. Außerdem will er, bevor er nach Deutschland zurückkehrt, noch mit Pappa sprechen.“

„Hast du ihm nicht gesagt, dass Pappa nie die Genehmigung geben wird und einem Deutschen schon gar nicht?“

„Ich habe ihm genau das erzählt. Aber er will trotzdem mit Pappa reden.“ Andrea zuckte mit den Schultern. „So sind die Männer.“ Dann erinnerte sie sich noch: „Das hätte ich bald vergessen. Er erwartet dich morgen. Ich würde an deiner Stelle nicht so spät gehen. Was ist, wenn Pappa dich nicht weglässt?“

„Dann gehe ich so.“

 

„Warum gehst du nicht so wie ich heute? Da ist Pappa noch nicht zu Hause und niemand kann dir verbieten, zu ihm zu gehen.“

„Du hast recht. Ich darf sogar wieder ins Hotel bis zur Rezeption, hat Wolfram gesagt. Dann kann ich bei Sven auf ihn warten.“

„Wer ist Sven?“ Andrea wusste zwar, dass Sven der Portier war, aber sie fragte trotzdem.

„Na, Sven, der Portier. Ich denke, dir gefällt er.“ Bei diesen Worten lächelte Maria etwas.

„Hm!“ Das war alles, was Andrea dazu sagte.

Am darauffolgenden Freitag machte es Maria so, wie Andrea vorgeschlagen hatte. Sie war schon spätnachmittags am Hotel, ging an die Rezeption und fragte nach Wolfram. Sven rief bei Wolfram im Zimmer an, denn er musste noch oben sein. „Er kommt gleich. Bitte nehmen Sie doch dort drüben Platz“, und er zeigte auf die Hotel-Lobby. Maria setzte sich und musste nicht lange warten. Schon nach wenigen Minuten kam Wolfram aus dem Fahrstuhl, grüßte sie kurz und ging zum Portier. Beide sprachen kurz miteinander, dann kam er zu ihr. Er nahm sie an die Hand und führte sie zum Fahrstuhl.

„Aber ich darf …“

Wolframs Blick unterbrach sie. „Jetzt nicht“, sagte er kurz. Im Fahrstuhl umarmte er sie ganz fest und erklärte dann: „Ich freue mich, dass du doch eher gekommen bist. Es ist alles in Ordnung. Ich habe es mit Sven abgesprochen.“

In seinem Zimmer begrüßten sie sich erst mal richtig. Dann half er ihr beim Ablegen des Mantels.

„Wenn du vor 18.00 Uhr das Hotel wieder verlässt, gibt es keine Probleme, denn bis dahin hat Sven Dienst. Er versteht uns.“

Und wieder nahm das Gefühl der Geborgenheit von Maria Besitz. Ja, sie vertraute ihm blind. „Ich komme mit nach Deutschland!“, sagte sie nun ganz spontan. „Ich weiß nicht wie, aber wenn es möglich ist, dann komme ich mit den Kindern. Ich vertraue dir.“

Wolfram standen Tränen in den Augen. Das hatte er bestimmt Andrea zu verdanken. „Ich werde alles arrangieren und über Sven, hier in der Rezeption, bleiben wir telefonisch in Verbindung. – Du hast eine tolle Schwester. Sie gefällt mir.“

Maria sah ihn ängstlich an.

„Nein, nicht so. Sie ist mir gestern wie eine Schwester geworden. Ich habe keine Geschwister, aber jetzt habe ich auch eine Schwester. Wie wäre es, wenn wir morgen Nachmittag einmal zusammen spazieren gehen. Wir können uns doch gegen 10.00 Uhr an der Bushaltestelle treffen.“

„Und die Kinder?“, fragte Maria vorsichtig.

„Die Kinder natürlich auch. Oder geht das nicht?“

„Doch, doch!“ Sie nickte heftig.

„Dann lerne ich sie auch endlich kennen. Hast du ihnen schon von mir erzählt?“

Sie nickte wieder. „Ich habe ihnen gesagt, dass du ein ganz lieber Onkel bist.“

Wolfram war gerührt von diesem Titel. „Das war lieb von dir.“ Er küsste Maria. Plötzlich hielt er inne und schaute sie an. „Dann musst du ihnen ja jetzt Deutsch beibringen – oder können sie das etwa schon?“

„Nein. Pappa wollte das nicht. Er wollte das schon bei Andrea nicht.“

„Wo hast du eigentlich so gut Deutsch gelernt. In der Schule?“

„Nein, das habe ich von Mamma gelernt. Wir sind doch viel mit ihr allein, wenn Pappa auf Arbeit ist.“

„Wie denkt sie eigentlich über mich?“, wollte Wolfram nun wissen.

„Sie hofft, dass du besser bist als die anderen, und wünscht mir, dass ich mit dir glücklich werde.“

„Das ist lieb. Bitte grüße sie von mir.“

Die Zeit verging schnell und es war schon fast 18.00 Uhr. Wolfram sah auf die Uhr und meinte: „Oh, wir müssen gehen, sonst bekommt Sven Ärger.“

Sie zogen sich schnell an und verließen das Hotel. Als sie an der Rezeption vorbeikamen, grüßten sie Sven und er grüßte freundlich zurück.

„Siehst du“, sagte Wolfram draußen, „Sven ist ganz in Ordnung. Auf ihn kann man sich verlassen.“

Sie schlenderten langsam in Richtung ihrer Brücke, die sie ständig wie magisch anzog.

„Ich habe noch mal darüber nachgedacht“, begann Wolfram. „Ich werde von Deutschland aus den Flug für euch buchen, dich über Sven anrufen und Bescheid geben. Vielleicht wird dich Sven auch zum Flughafen fahren können. Ihr habt sicher keine Pässe. Beim Beantragen wird er euch bestimmt helfen. Ich werde mal mit ihm reden.“

„Ich soll … wir sollen fliegen?“ Sie küsste ihn mehrmals. „Wir sollen wirklich fliegen?“ Sie hätte tanzen können vor Freude. Nie hätte sie geglaubt, dass sich ihr Wunsch so schnell erfüllen würde.

„Mit dem Schiff ist es ja viel zu umständlich, die lange Reise und dann noch mit den Kindern. Nein, das geht nicht.“

„Ich werde fliegen! Ich werde fliegen!“ Sie konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Plötzlich war sie mit einem Ruck wieder ernst. „Wird das auch nicht zu teuer?“

„Ich habe in den vergangenen Jahren gespart. Und für dich gebe ich es gern aus.“

Wieder fiel sie ihm um den Hals. „Ich liebe dich! Du bist mein Leben!“

Sie waren längst an ihrer Brücke angekommen, lehnten sich auf das Geländer und blickten wieder in den Fjord.

„Ich glaube, du wirst den Umzug nach Deutschland nicht bereuen. Dort werden wir dann eine richtige Familie sein.“

„Eine richtige Familie? Ohne Hochzeit?“, fragte sie vorsichtig.

Wolfram lächelte. „Ja. Wichtig ist doch, dass man eine Familie sein will. Alles andere ergibt sich dann von allein. Und, na ja, irgendwann werden wir dann sicher auch heiraten, nur nicht gleich.“ Er küsste sie und drückte sie ganz fest an sich. „Ja, ich glaube, das wird eine schöne Zeit in Deutschland. Wie alt ist Eva genau?“, fragte er jetzt.

„Sie wird am 8. Juni sieben Jahre alt. Warum?“

„Dann muss sie ja im September in die Schule gehen. Da muss sie aber schnell Deutsch lernen. Wann hat sie Geburtstag? Am 8. Juni?“

Maria nickte.

„Das ist ja vier Tage vor mir. Der Juni wird nun ein toller Monat.“

„Laura hat auch im Juni Geburtstag, am 21. zur Mittsommernacht.“

„Ich sagte doch, der Juni wird ein toller Monat. Wann hast du eigentlich Geburtstag?“

„Am 9. April 1970.“

„1970? Dann wirst du ja deinen dreißigsten Geburtstag schon in Deutschland feiern können.“

„Und wann bist du geboren?“, fragte sie vorsichtig.

„Am 12. Juni 1962. Ich werde 38 Jahre alt.“ Er sagte das, weil er ahnte, weshalb sie fragte. „Lass uns noch ein Stück gehen. Mir werden hier die Füße langsam kalt.“

Sie gingen hoch zur Fernstraße und dort in Richtung Bergen. Auf der ganzen Strecke erzählte er Maria von Deutschland, von dem See, an dem Sonnenberg lag und in dem sie im Sommer baden gehen würden. Er erzählte ihr auch vom Tod seiner Eltern und von Manfred und Dagmar Brünner, die für ihn wie Ersatzeltern waren, und davon, wie schön es war, wenn sie dann für immer jeden Tag zusammen sein würden.

Für Maria hörte sich das alles noch wie ein Märchen an, ein wunderschönes Märchen. Sie hatte so lange gehofft, wenigstens ein bisschen Glück zu haben. Dabei war sie mit ihrem Wunsch von Jahr zu Jahr immer bescheidener geworden. Am Ende hatte sie diesen Wunsch ganz aufgegeben, war er doch eine Illusion in Håp Land. Wer sollte sie hier schon wollen? Und jetzt tauchte plötzlich Wolfram wie aus dem Nichts auf und alles war anders. Ihr Märchen sollte schon in vier Wochen wahr werden. Sie war überglücklich und hatte gleichzeitig Angst, dass am Ende doch noch etwas dazwischenkam und alles vorbei war. Davon sagte sie aber Wolfram nichts. Er erzählte immer noch von Deutschland und von dem, was sie dort erwartete.

Es war schon fast 20.00 Uhr, als Wolfram Maria nach einer kurzen Verabschiedung an ihrem Haus entließ. Sie betrat das Haus und ihr Vater rief aus dem Wohnzimmer nach ihr.

„Warst du wieder bei diesem Deutschen?“

Maria nickte.

„Warum? Du weißt, was die Leute hier im Dorf von dir und deinen Touristen halten. Und dann noch ein Deutscher. Gibt’s denn hier nicht genug Männer?“

Pappa, ich liebe ihn. Er ist ganz anders als die anderen.“

„Das habe ich gemerkt. Will mir Vorschriften machen, wie ich zu denken habe. Der kommt mir nicht noch mal ins Haus!“

„Aber Pappa!“

„Ach, geh jetzt“, sagte er wirsch.

Mit einem Seufzer verließ Maria das Zimmer und ging nach oben, wo schon Andrea auf sie wartete. Sie hatte die Kinder längst ins Bett gebracht und sehnsüchtig auf Maria gewartet. Dass es so lange gedauert hatte, deutete Andrea als ein gutes Zeichen. Sie fragte: „Und, habt ihr euch ausgesprochen?“