Die fremde Gestalt

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Spirituell überheblich?

Lk 4,16-24.28-30

So kam Jesus auch nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um vorzulesen, reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja. Er öffnete sie und fand die Stelle, wo geschrieben steht: Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Dann schloss er die Buchrolle, gab sie dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt. Alle stimmten ihm zu; sie staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen, und sagten: Ist das nicht Josefs Sohn? Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat! Und er setzte hinzu: Amen, ich sage euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt. Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen. Er aber schritt mitten durch sie hindurch und ging weg.

HG: Eine Erzählung mit einer extrem bitteren Wende. Faszination am Anfang, Versuch zum Totschlag am Ende. Kurz zur Vorgeschichte: Die Menschen in Galiläa erlebten mit Jesus einen Aufbruch. Sie waren begeistert von seiner Art, in verständlichen Bildern von Gott zu reden, und ebenso begeistert von seinen Taten. In der Dynamik dieses Aufbruchs kommt er in seine Heimatstadt und geht am Sabbat in die Synagoge. Es ist üblich, dass der Gast gebeten wird, den Tagestext vorzulesen und auszulegen. So trägt Jesus den Text des Propheten Jesaja vor, wo es unter anderem heißt: „Der Herr hat mich gesandt, den Armen eine Frohe Botschaft zu verkünden.“ Provokanterweise hat Jesus beim Vorlesen die Passage vom Gericht, das heißt, von der Vergeltung durch Gott ausgelassen.

Damit hat er schon einen deutlichen Akzent gesetzt. Seine Predigt beginnt er mit dem Hinweis auf das „Heute“. Es ist Gottes Zeitwort. Die Leute sind begeistert, staunen und begreifen, dass dieses Heute Gottes jetzt gilt. Blinde, Zerschlagene, Arme und Versager sind von Gott Geliebte! Noch nie hat das jemand so plastisch gepredigt. Aber sind sie selbst damit gemeint? Hat das Konsequenzen? Und was ist mit den anderen, jenen, denen logischerweise das Gericht gelten soll? Hat der Prediger durch die Manipulation des Wortes Gottes nicht die Grenzen zwischen ihnen, die ja doch fromm sind, und den anderen verwischt? Schlägt die positive Stimmung in ihr Gegenteil um? Jesus ist ihnen total sympathisch und unfassbar fremd zugleich.

Es beginnt jedenfalls eine ganz eigenartige Krise. Die eben noch euphorischen Landsleute sagen: „Den kennen wir doch! Ist das nicht der Sohn des Josef?“ Die skeptische Frage sagt schon alles. Ist es Unglaube? Oder Hochmut? Fromme und eingebildete Menschen lassen sich nicht gerne infrage stellen. Doch Jesus beschwichtigt die Situation nicht – ganz im Gegenteil. Er schürt und verstärkt den Unmut der Versammlung. Er erzählt mit einigen Beispielen vom Wirken Gottes außerhalb von Israel. Alle geraten in Wut. Die emotional aufgeladene Ablehnung erreicht ihren traurigen Höhepunkt im handgreiflichen Versuch, Jesus zu töten. Dieser jedoch schreitet mit einer erstaunlichen Souveränität durch die aufgebrachte Menge und geht weg. Aber warum ist es überhaupt zu diesem Bruch gekommen?

ML: Es zeigt sich ja immer wieder, dass Führungskräfte, die aus einem Team berufen werden, sogenannte Hausberufungen, Schwierigkeiten haben, vom Team anerkannt zu werden. In der Regel haben es die leichter, die von außen kommen. Mit gleichrangigen Menschen vergleicht man sich gewöhnlich. Das Vergleichen soll die eigene Größe definieren. Wenn ein anderer zu groß ist, fühlt man sich klein und minderwertig. Daraus resultiert der Eindruck, den anderen nicht mehr aushalten zu können. Um diesen psychologischen Mechanismus geht es aus meiner Sicht hier in der Begegnung Jesu mit seinen Landsleuten. Wenn sich Jesus in seiner wahren Größe zeigt, ist das eine Bedrohung des Narzissmus. Um der Selbstrelativierung zu entgehen, müssen sie ihn ablehnen. Am Schluss heißt es: „Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus.“

Die Agitation ist der schweren narzisstischen Kränkung geschuldet. Sie bringen ihn dann, laut Erzählung, an den Abhang des Berges und wollen ihn hinabstürzen. In dem Moment, in dem er offensichtlich in höchster Gefahr ist, geht er souverän durch die Menge hindurch. Sie halten ihn nicht fest, sondern lassen ihn gehen, oder besser: Sie müssen ihn gehen lassen. Verblüffend, nicht? Es gibt eine Form der Reinheit und des nicht egoistischen Lebensstils, der Menschen so geheimnisvoll unangreifbar macht. Sie sind nicht aufzuhalten in dem, was sie tun. Dies bedarf aber einer totalen Reinheit. Wenn nur ein bisschen etwas Unreines in der Person ist, kann man sie an dieser Unreinheit festhalten. Das heißt mit anderen Worten: Die Neigung zur Selbstkorruption schwächt uns. Da genügt eine Kleinigkeit. Aber Jesus macht sich durch seine Reinheit und Authentizität unangreifbar. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes nicht angreifbar. Das fasziniert mich, ist einfach schön.

HG: Das kommt dann auch später bei der Verhaftung Jesu in der Passionsgeschichte des Evangelisten Johannes vor. Die gesamte Kompanie stürzt zu Boden, als Jesus sich ihnen zu erkennen gibt mit dem schlichten Satz: „Ich bin es.“ Eigenartig. Warum eigentlich? Angesichts des Heiligen scheiden sich offensichtlich die Geister. Wahrscheinlich geht es nicht nur mir so: In der Begegnung mit einer wirklich großen Persönlichkeit können einem oft die eigene Herzensenge und Kleinkariertheit ganz deutlich bewusst werden. Angesichts der Liebe fühlt man den Schmerz über die eigene Lieblosigkeit. Das wäre ohnehin schon eine Form der Läuterung, aber es kann die Erfahrung einer Differenz auch zum Gegenteil führen, wie wir im Text lesen.

ML: Seine Landsleute sehen in ihm einen überheblichen Menschen. Die Überheblichkeit ist aber eine Projektion. Weil sie ihm gegenüber überheblich sind, bezeichnen sie ihn projektiv als überheblich und können ihn nicht anerkennen. Es gibt natürlich auch heute eine spirituelle Überheblichkeit. Das kann viele Facetten haben. Menschen etwa, die sich nicht wirklich im Leben finden können, die vielleicht in der Mitte des Lebens verlassen worden sind und dadurch den Eindruck gewonnen haben, das Leben hätte „Nein“ zu ihnen gesagt. Diese in ihren eigenen Augen „Verlierer“ finden sich dann oft in esoterischen religiösen Lehren. In diesen spirituellen Nischen gewinnen sie den Eindruck, aufgrund höheren Wissens plötzlich jemand zu sein und über anderen zu stehen. Auf solche Art gelebte religiöse Praxis ist natürlich ein psychologisierender Missbrauch des Religiösen.

HG: Oder diese Menschen versteigen sich in eine vermeintliche Rechtgläubigkeit – um im Namen dieser überlegenen Position andere zurechtzuweisen und zu verurteilen. Eine eingebildete Orthodoxie kann sehr hart werden. Interessant ist, dass Jesus die negative Reaktion selbst provoziert, wenn er sagt: „Ich weiß schon, was ihr sagen wollt. Ihr werdet mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst, du hast es in Kafarnaum getan, warum nicht auch hier?“ Und dann bringt er einige Beispiele, die den Finger genau in diese Wunde legen. Scheinbar konnte Gott bei den Ausländern, bei den Fremden und denen, die sich nichts auf ihre Rechtgläubigkeit einbilden, mehr bewirken. Deren Erwartungen waren vermutlich reiner und weniger aggressiv. Von dieser Seite hat er nie die Forderung gehört: „Wir sind ja dein Volk, also bitte, mach schon!“ Ich habe großes Verständnis für die Vorgehensweise Jesu. Er hatte keine andere Chance, die eingebildeten Frommen aus der Reserve zu locken.

ML: Dazu eine kleine Geschichte: Ich habe einmal, schon selbst als Führungskraft, einen Chef gehabt, der aus persönlichen Gründen Vorbehalte mir gegenüber hatte. Sein Führungsstil war intrigant. Er hat immer wieder, auch vor anderen, bemerkt: „Ich habe von deinen Mitarbeitern dies und das gehört und ich sage dir, die stehen nicht hinter dir!“ Auf die Nachfrage „Ja, und wer hat dies und das gesagt?“ wollte er natürlich nichts sagen. Später habe ich begriffen, dass er das alles nur erfunden hatte. Damals beunruhigte mich jedoch seine Aussage.

Nach einer Zeit des Unbehagens mit seinem Vorgehen habe ich mir Folgendes einfallen lassen: Ich bin übergegangen, seine Idee detailliert auszuformulieren. Wenn er zum Beispiel gesagt hat: „Du hast keine Autorität und Loyalität in deinem Team!“, habe ich ausformuliert: „Nein, weißt du, ich bin halt eine so schlechte Führungskraft. Ich bekomme ganz zu Recht von meinen Mitarbeitern keine Loyalität und kann in Wahrheit gar keine Autorität haben. Die anderen machen sowieso, was sie wollen, aber ich gebe halt trotzdem mein Bestes. Es wird allerdings nie ausreichen.“ Genauso habe ich mich dargestellt. Ich habe mich selber natürlich gar nicht so gesehen, auf keinen Fall!

Mein Plan ist wirklich aufgegangen. Mein damaliger Chef musste erkennen, dass er mich mit seiner Intervention nicht mehr steuern konnte, und hat seine Intrigen, allerdings nur auf diese Weise, sein lassen. Wenn man die geheime Motivation von Menschen mit einem Machtanspruch explizit oder implizit anspricht, lähmt man die Macht. Dafür hassen dich die Betroffenen, haben jedoch keine Handhabe gegen dich. Weisheit und Einsicht sind für Machtmenschen eine Provokation, für andere eine Wohltat.

 

HG: Jesus wird jedenfalls nicht mehr nach Nazareth kommen. Das „Gnadenjahr“ und die Wunder werden sich außerhalb seiner Heimatstadt ereignen. Ohne eine ehrliche, nicht selten auch schmerzliche Selbsterkenntnis gibt es keine Öffnung des Himmels. Gott drängt sich nicht auf. Ich kann persönlich bestätigen, dass Menschen, die mit Kirche kaum etwas am Hut haben, in bestimmten Momenten für eine Berührung durch Gott offener sein können als jene, die schon lange im religiösen Habitus daherkommen. Scheinbar Ungläubige zeigen nicht selten eine Gottoffenheit, die mich als Kirchenprofi beschämt. Ich denke an einen transsexuellen Menschen, den ich kennenlernen durfte. Diese Person hat mich durch ihre Offenheit so beeindruckt, dass mir die Tränen gekommen sind. Das Leben kommt uns oft so verletzlich und zugleich zärtlich entgegen. Die Gefahr der falschen Routine im Umgang mit Menschen und mit dem Heiligen in ihnen besteht für uns alle.

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Der typische Absolutheitsanspruch

Joh 8,47-59

Jesus sprach: Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes; ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid. Da antworteten ihm die Juden: Sagen wir nicht mit Recht: Du bist ein Samariter und von einem Dämon besessen? Jesus erwiderte: Ich bin von keinem Dämon besessen, sondern ich ehre meinen Vater; ihr aber schmäht mich. Ich suche nicht meine Ehre; doch es gibt einen, der sie sucht und der richtet. Amen, amen, ich sage euch: Wenn jemand an meinem Wort festhält, wird er auf ewig den Tod nicht schauen. Da sagten die Juden zu ihm: Jetzt wissen wir, dass du von einem Dämon besessen bist. Abraham und die Propheten sind gestorben, du aber sagst: Wenn jemand an meinem Wort festhält, wird er auf ewig den Tod nicht erleiden. Bist du etwa größer als unser Vater Abraham? Er ist gestorben und die Propheten sind gestorben. Für wen gibst du dich aus?

HG: Manchmal stolpert man in eine Auseinandersetzung hinein. Das ist beim vorliegenden Text der Fall. Es ist der Ausschnitt aus einem langen Streitgespräch Jesu mit den Pharisäern und Schriftgelehrten, die seinen Absolutheitsanspruch infrage stellen. Für sie war klar: Entweder ist Jesus ein Verrückter, der die Tragweite seiner Ansprüche nicht einordnen kann, oder er ist ein gefährlicher Verführer der Massen. Eigentlich dämonisch. Es kann doch nicht sein, dass sich jemand hinstellt und behauptet, aus Gott zu sein – und darüber hinaus noch allen, die an seinem Wort festhalten, ewiges Leben verheißt. Das ist doch insgesamt eine maßlose und gefährliche Übertreibung! Jesus hat mehrfach seine Lehrautorität über jene des Gesetzes gestellt. Die von ihm gebrauchte Formel lautete: „Im Gesetz steht, ich aber sage euch.“ Das ist Lästerung pur! Wer darf denn so etwas behaupten?

ML: Wenn man Künstler näher kennenlernt, die man zuvor nur aus ihren Ausstellungen und Werken gekannt hat, kann es vorkommen, dass man von ihrer Persönlichkeit enttäuscht ist. Man hat ihre Kunst als „heilig“ und als besonders berührend erlebt. Der Mensch dahinter jedoch kann dieser imaginierten Größe nicht entsprechen. Er muss sich mit all dem abmühen, mit dem man auch selbst zu tun und zu kämpfen hat. Gleichermaßen werde ich als Psychiater manchmal gefragt, wenn ich über die Phänomene des Scheiterns in meinem Leben erzähle: „Wie kann Ihnen das passieren, wo Sie in Bezug auf Lebensführung und Lebenskunst doch so kompetent sind? Wie kommt es, dass Sie Ihr eigenes Leben nicht bewältigen? Können wir Ihnen dann überhaupt noch glauben, was Sie sagen, oder schicken Sie uns quasi in den Krieg?“

HG: Eine wichtige Selbstrelativierung! Als ich entdeckt habe, dass ein ehemaliger guter Bekannter von mir schwer alkoholkrank in einem Haus der Caritas in Graz wohnt, war ich sehr betroffen. Ich wusste, dass ich in einer ähnlich schwierigen Situation sein könnte, wenn ich nicht Ressourcen und Wegbegleiter gehabt hätte, die mir einen anderen Weg ermöglicht haben. Diese heilsame Erkenntnis der eigenen Schwäche und Verwundbarkeit hat mir sehr geholfen. Das tatsächlich „Verwundete“ in uns beziehungsweise das Wissen um unsere Verwundbarkeit verbindet uns mit jenen, für die wir in der Seelsorge da sind. Wir wissen, dass auch wir in den entscheidenden Momenten jemanden brauchen, der uns beisteht oder ein befreiendes Wort zusagt.

ML: Die eigene Verletzung bringt uns auf Augenhöhe, um die heilsame Begegnung zum Mitmenschen erst möglich zu machen. Wenn ich in therapeutischen Situationen von Patienten eine mir geltende Bewunderung merke, flechte ich nicht selten wie zufällig eine Geschichte aus meinem Leben ein, in der ich versagt habe. Damit ist meist die Augenhöhe wiederhergestellt und die therapeutische Begegnung erneut möglich. Und was die Künstler anbelangt, bin ich zu folgendem Verständnis gekommen: Es gibt einfach Menschen, die mehr aus sich herausholen, als in ihnen drinnen ist. Sie haben die Fähigkeit, für etwas durchlässig zu werden, was größer und weiter ist als sie selbst. Das repräsentiert ihr Künstlersein. Und das Gleiche gilt wohl auch für andere Berufsgruppen und menschliche Situationen. Gleichermaßen erklärt Jesus, dass nicht er selbst hier spricht, sondern dass er durchlässig für das ist, was ihm sein Vater aufgetragen hat.

HG: Jesus trägt eine geheimnisvolle Polarität in sich. Auf der einen Seite zeigt er eine Menschlichkeit, die es in dieser Intensität kein zweites Mal gibt – höchste Aufmerksamkeit und Empathie, Nähe und Berührbarkeit, Verwundbarkeit und Feindesliebe. Auf der anderen Seite absolute Souveränität, Größe und Weite, Widerstandskraft für eine neue Gerechtigkeit und einen Anspruch auf göttliche Autorität. Erst später hat man diese Polarität auf die theologische Formel gebracht: Ganz Mensch und ganz Gott. Natürlich ist auch das nur ein verlegener Hilfsausdruck für das höchst Lebendige, das in der Person des Jesus von Nazareth zum Vorschein kam. Jesus verkörpert einen Anspruch, der zum Anruf wird. Man kann mit dem eigenen Leben darauf antworten oder sich verweigern – wie es in diesem aufgeregten Streitfall geschildert wird.

ML: Der Mensch Jesus ist für jene, die ihn als Gott sehen, ein Problem. Für andere wiederum, die ihn als besonderen Menschen der Menschheitsgeschichte sehen, ist das Göttliche in ihm eine Provokation. Wir tun uns leider in unserer abendländischen Tradition so schwer, etwas dialektisch zu betrachten. Wir wollen alles auf den Punkt bringen. Die Aussage „ganz Mensch und ganz Gott“, die für Jesus gilt, impliziert auch, dass er ganz Mensch ist. Das besonders Zauberhafte an der Person Jesu ist für mich, dass er uns so unfassbar nahegekommen ist. Jesus „menschelt“ im Vollsinn des Wortes: Das ist in Wahrheit die unterschätzte Frohe Botschaft! In vielen Bibelstellen klingt die menschliche Begrenztheit Jesu durch: in der Notwendigkeit, dass er selbst Neues lernen musste; in seiner Bereitschaft, sich aus dem Konzept bringen zu lassen; in den Momenten, in denen er Zorn, Wut und extreme Freude gezeigt hat; und nicht zuletzt in seinen Tränen. Die menschliche Begrenztheit ist im affektiv bewegten Jesus deutlich zu sehen. Diese Begrenztheit ist nicht enttäuschend, sondern ganz im Gegenteil ermutigend. Für einige bestimmt auch unbequem.

HG: Was auch in die vier Evangelien aufgenommen und nicht retuschiert wurde. Sehr wohl im Gegensatz zu den apokryphen Evangelien, die ein durch und durch glattes, fast kitschiges Bild von Jesus zeichnen. So soll zum Beispiel gemäß dem Thomasevangelium Jesus als Fünfjähriger am Sabbat zwölf Spatzen aus Lehm geformt und sie zum Leben erweckt haben. Übrigens findet sich diese Passage auch im Koran in der fünften Sure. Offensichtlich war dem Verfasser das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas bekannt. All diese frommen Übertreibungen, die das Einfache, aber auch Schroffe und Unbequeme in der Gestalt Jesu nicht wahrhaben wollen, waren ausschlaggebend, diese Schriften nicht in die Sammlung des Neuen Testaments aufzunehmen. Man konnte in ihnen nicht das inspirierte Wort Gottes erkennen.

ML: Gerade das Menschliche ist also, wenn ich das richtig verstehe, ein Zeichen der Offenbarung. Das macht eben das Besondere der christlichen Religion aus. Dieses unfassbare, unretuschierte, uneingeschränkte Nähe-Angebot Gottes an uns. Das wird in diesem Text deutlich. Die zutiefst menschliche Figur Jesus hat deswegen keinen überheblichen Absolutheitsanspruch. Er kann den Absolutheitsanspruch ohne Überheblichkeit anmelden, weil er nicht versucht, sich zu einem Übermenschen zu stilisieren. Er ist Gott, aber kein Übermensch.

HG: Auch nicht Halbgott, sondern wie in der schon erwähnten christologischen Formel ausgedrückt, beides zu hundert Prozent – ganz Mensch, ganz Gott. Eine paradox anmutende doppelte Ganzheit. Das ist das Urdogma der christlichen Religion, ihr eigenartiger Absolutheitsanspruch, wenn man so will. Für mich war das immer schon faszinierend, weil in der Person Jesu eine innere Brechung der unterschiedlichsten Erwartungen, Vorstellungen und Projektionen zum Vorschein kommt. Durch das Zeugnis eines sehr leidenschaftlichen und weltoffenen Priesters konnte ich schon als junger Mensch die Person Jesu in einer 3D-Plastizität kennenlernen. Gerade das Nicht-Glatte und Nicht-Konforme hat mich an der Person Jesu fasziniert. Jesus entzieht sich jedenfalls den vielen menschlichen Zuschreibungen. Er ist nicht der Superheld und nicht der Messias im politischen Sinn, der scheinbar alles regeln und lösen kann. Im Ölberg von Getsemani weint er aus purer Angst. „Für wen gibst du dich aus?“ Ganz genervt fragen die Kritiker ihren Landsmann, den Rabbi aus Galiläa, nach seiner Identität. Bequemer wäre es für sie und für uns gewesen, wenn sich Jesus als ein religiös begabter Lehrer neben vielen anderen ausgegeben hätte. Aber sein Anspruch weist auf das Ganze. Seine Selbstaussage provoziert eine Entscheidung – für ihn oder gegen ihn. Er ist einzigartig und formuliert selbstbewusst diese Einzigartigkeit. Das ist das Spannende.

ML: Es ist eine Absolutheit, die sich als totale Radikalität begreift, aber nicht als Absolutheit, die sich wünscht, andere Wirklichkeiten zu bekriegen.

HG: Für diesen Satz sollte man dir den theologischen Nobelpreis verleihen. Offen bleibt, ob und inwiefern Religion immer einen Absolutheitsanspruch in sich tragen muss – auch wenn es nicht um einen kindischen Wettbewerb gehen darf, wessen Religion besser, richtiger oder erfolgreicher ist. Gemäß einem aufgeklärten Religionsverständnis wäre es natürlich angenehmer, wenn sich religiöse Überzeugungen selbst relativieren und harmonisch in ein breites spirituelles Marktangebot einfügen würden. Lessings „Nathan der Weise“ wird dafür meist als das grundlegende Toleranzdokument der Aufklärung genannt. Auch diesbezüglich ist Jesus widerständiger und unbequemer, als wir meist annehmen. Er ist unverschämt selbstbewusst und demütig zugleich.


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