Der Schatz der Kürassiere

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Alors, seit dem Start beobachtete ich konzentriert den Höhenmesser, als mir irgendwann auffiel, dass sich die Nadel, die normalerweise immer ein wenig nach rechts und links ausschlägt, nicht mehr bewegte. Sie hing fest. Alles Schütteln des Höhenmessers und Klopfen auf seine Glasscheibe halfen nichts. Meine Beschäftigung mit dem Höhenmesser hätte unserer Reise fast ein jähes Ende bereitet.

‚Da unten sind Feuer!’, unterbrach Richard die Stille. Ich schreckte hoch und was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Es war das Flackern hunderter Wachfeuer. Plötzlich und unerwartet und von mir nicht bemerkt, befanden wir uns in einer Wolkenlücke. Und wie wir unschwer erkennen konnten, hatten wir außerdem auch noch erheblich an Höhe verloren. Unser Höhenmesser hatte uns in der kritischsten Phase unserer Fahrt einfach im Stich gelassen. Er zeigte nach wie vor eine Höhe von dreitausend Fuß an. Ausgerechnet über den deutschen Linien trafen mehrere unglückliche Umstände zusammen. Wir mussten uns für die Deutschen wie eine überdimensionale Zielscheibe gegen den Himmel abgehoben haben und das Schlimmste – wir waren in Schussweite.

Es dauerte auch nicht lange, da wurden wir von den deutschen Wachposten bemerkt. Sofort wurde das Feuer auf uns eröffnet. Die Kugeln verfehlten uns Gott sei Dank, einige nur um Haaresbreite, bis auf diese eine hier!" Muller lehnte sich zurück und kramte ein Schächtelchen aus seiner Jackentasche.

„Die hier steckte im Ballonkorb.“ Muller hielt ein Geschoss zwischen Daumen und Zeigefinger. „Mein Glücksbringer“, ergänzte er. Übertrieben sorgfältig steckte er die Kugel wieder ein. „Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Pierre hatte schon reagiert und Ballast abgeworfen, so dass wir wieder merklich an Höhe gewannen. Aber die Deutschen hatten noch nicht aufgegeben. Wir sahen, wie sich einige Soldaten auf ihre Pferde schwangen und versuchten uns zu verfolgen. Und plötzlich, wie von Gott gesandt, war sie wieder da, die undurchdringliche Wolkendecke. Wir waren wieder mittendrin und damit gerettet. Und paradoxerweise funktionierte der Höhenmesser wieder.“

„Ja, das war verdammt knapp. Glaubt mir, ich habe noch nie in meinem Leben so sehr dicke Wolken herbeigesehnt“, unterbrach Fréchencourt Mullers Schilderung. Muller grinste und erzählte weiter:

„Nach einer Stunde Fahrt konnten wir endgültig aufatmen, denn wir mussten nun schon weit hinter den deutschen Linien sein. Vom Feind drohte uns daher keine Gefahr mehr, aber wo befanden wir uns? Ich beschloss zunächst in unveränderter Höhe weiterzufahren, wenn möglich bis es dämmerte oder die Wolken aufrissen. Da ich eine Änderung der Windrichtung nicht feststellen konnte und der Ballon nach wie vor prall war, konnte ich die Höhe, von ein paar kleineren Korrekturen abgesehen, ohne Probleme halten.

Nach ungefähr einer weiteren Dreiviertelstunde wurde die Wolkendecke zunächst dünner, dann plötzlich fuhren wir unter einem sternenklaren Himmel über mondbeschienenes Land. Wir konnten nun unter uns Dörfer, einzelne Bauernhöfe, Felder, Wälder und Gewässer erkennen, doch noch wussten wir nicht, wo wir waren. Es war absurd. Alles war so friedlich, doch nur wenige Kilometer hinter uns war Kriegsgebiet.

Die Windgeschwindigkeit nahm nun mehr und mehr ab, und nach kurzer Zeit waren wir nur noch halb so schnell unterwegs, aber das störte uns nicht. Wir genossen nun unsere Fahrt. Ich ging auf zweitausend Fuß, ungefähr sechshundert Höhenmeter, herunter. Nach einiger Zeit meldete Richard, er könne voraus eine Stadt erkennen. Und tatsächlich, im Zwielicht der beginnenden Morgendämmerung war schwach eine große Häuseransammlung zu sehen, aus der sich eine Kirche mit zwei Türmen erhob. Ich schaute auf die Karte, konnte aber noch nicht sehr viel erkennen, da es noch nicht hell genug war. Als wir näher kamen, meinte Richard, der Kirche nach könne das nur Vitry-le-François sein. Hier sei er schon einmal gewesen. Er könne sich deshalb gut an die Kathedrale Notre-Dame erinnern, weil der Chor noch nicht fertig gestellt sei, und der Fluss da vorne müsse demnach die Marne sein.

Richards Vermutung stellte sich als richtig heraus, denn seine Beschreibung passte auf die nun unter uns liegende Stadt. Ein Blick auf die Karte – inzwischen war es hell genug – genügte um zu erkennen, dass wir nur knapp von der eingezeichneten Route abgewichen waren. Wir fuhren nicht nördlich an der Stadt vorbei, sondern etwas südlicher mitten darüber hinweg.

Obwohl es im Ballonkorb recht eng war und wir uns fast schon die Beine in den Bauch gestanden hatten, wollten wir Paris so nah wie möglich kommen. Mit Pferd und Wagen über Straßen zu rumpeln schien uns viel unbequemer und anstrengender als noch einige Zeit im Korb ausharren zu müssen.

Dann wurden wir entdeckt, und man winkte uns zu. Viele Menschen dort unten hatten offenbar vorher noch nie einen Ballon gesehen. Einige versuchten vergeblich, uns auf Pferden zu folgen, aber wir waren immer noch relativ schnell und mussten uns nicht an Wege und Straßen halten. Jedenfalls erschien die Zeit im Ballon nun sehr kurzweilig. So gegen acht Uhr bemerkte ich, dass der Wind seine Richtung leicht geändert hatte, und wir ein wenig nach Süden abdrifteten. Weil wir weder nach Orleans noch sonst wohin wollten, sondern nach Paris, beschloss ich nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau zu halten. Ich wollte, wenn möglich, in der Nähe eines Bauernhofes landen. Wir waren inzwischen auf eintausend Fuß heruntergegangen, da entdeckte ich hinter einer Bodenwelle einen Gutshof, umgeben von abgeernteten Feldern. Auf einem dieser Felder beschloss ich zu landen.

Unverhofft erfasste uns starker Seitenwind und drückte den Ballon nach unten. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wir waren ja noch hoch genug, doch plötzlich entdeckte Philippe direkt oberhalb des Korbs einen ungefähr zehn Zentimeter langen Riss in der Ballonhülle. Da hatten uns offenbar die Deutschen doch erwischt. Möglicherweise ein Streifschuss, der den Stoff angekratzt hatte. Aus der beschädigten Stelle entstand wahrscheinlich zunächst ein kleiner Riss, der sich von uns zunächst unbemerkt nach und nach vergrößert hatte.

Seit dem Start begann ich erstmals nervös zu werden, denn wir verloren nun sehr schnell an Höhe. Ich wusste, dass wir es bis zu dem angestrebten Landeplatz nicht mehr schaffen würden. Wir fuhren direkt auf eine Gruppe Obstbäume zu, die wir ohne Leck in der Hülle spielend überquert hätten. So aber sah es nach einer Notlandung aus. Ich musste den Ballon vor den Bäumen nach unten bringen. Ich ließ nun so viel Gas ab, dass unsere Sinkkurve steiler wurde und der Boden sehr schnell näher kam. Meine Begleiter forderte ich auf, sich gut festzuhalten, da der Korb bei der Landung sehr hart aufsetzen und umkippen könnte und ermahnte sie, den Korb nicht eher zu verlassen, bevor ich es ihnen sagen würde.

Ich muss erwähnen, dass es leider schon vorgekommen ist, dass ein Ballon bei vorzeitigem Aussteigen von Passagieren, nun entsprechend leichter, kurz wieder aufgestiegen ist, oft mit bösen Folgen für die im Korb verbliebenen.

Bei unserem Landeanflug waren wir entdeckt worden, denn uns kamen im gestreckten Galopp zwei mit Gewehren bewaffnete Reiter entgegen, die, als wir noch ungefähr zweihundert Meter entfernt waren, absprangen und ihre Gewehre auf uns richteten.

Wir machten nun kaum mehr Fahrt und befanden uns nur noch zwanzig Fuß über dem Boden. Als wir uns auf Rufweite den Reitern genähert hatten, schrie Pierre ihnen entgegen, dass wir Franzosen wären und aus dem eingeschlossenen Metz kämen. Daraufhin senkten die beiden Männer ihre Waffen. Dann setzte der Korb hart auf, stieg wieder ein Stück in die Höhe und schlug dann erneut auf den Boden, schlitterte noch ein paar Meter übers Gras und kippte dann um. Der Ballon sackte nun schnell in sich zusammen und als das Gas fast vollständig aus der Hülle entwichen war, krabbelten wir aus dem Korb, leicht lädiert, aber glücklich. Wir waren froh, dass wir nicht zu Schaden gekommen waren und wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten.

Wir hatten seit dem Start um zwei Uhr morgens in sechs Stunden fast zweihundert Kilometer zurückgelegt. Das war eine beachtliche Strecke.

Die beiden Reiter kamen vorsichtig und noch immer mit dem Gewehr im Anschlag auf uns zu. Pierre hielt ihnen seinen Armeeausweis entgegen. Das schien sie endlich zu überzeugen, denn sie sicherten und schulterten ihre Waffen. Ihre bis dahin drohenden Minen hatten sich erhellt, und sie stellten sich uns als Vater und Sohn Alexandre und Baptiste de Luc vor. Die beiden de Lucs entschuldigten sich für ihr Misstrauen, aber in diesen Kriegstagen sei nun einmal Vorsicht geboten, meinten sie.“ Muller unterbrach seine Schilderung, um an seinem Rotweinglas zu nippen, dann fuhr er mit seiner Erzählung fort:

„Während wir die Ballonhülle zusammenfalteten, erfuhren wir von Alexandre de Luc, dass wir nur vier Kilometer von Nogent-sur-Seine entfernt gelandet waren. Das Städtchen liegt an der Eisenbahnstrecke Troyes-Paris und hat eine Bahnstation.

Monsieur de Luc lud uns ein, auf seinem Gut zu übernachten. Am kommenden Morgen, also heute, würde er uns zum Bahnhof fahren, dann wären wir so gegen Mittag in Paris. Wir nahmen sein Angebot gerne an, denn so langsam kroch die Müdigkeit in uns hoch. Ich bat den Gutsherren, den Ballon und die Postsäcke sicher zu lagern. In Paris angekommen, würden wir sofort veranlassen, dass Ballon und Post abgeholt würden. Nachdem alles sicher untergebracht war, nutzten wir die Gelegenheit, uns bis zu Abendessen auszuruhen.

Während des Essens im Kreise der Familie de Luc, mussten wir über die Lage in und um Metz und über unsere Ballonfahrt berichten, wobei wir selbstverständlich nicht auf die wahren Hintergründe unserer Reise eingegangen sind.

Der Rest ist schnell erzählt. Ausgeruht bestiegen wir heute Morgen so gegen neun Uhr in Nogent-sur-Seine den Zug und erreichten um die Mittagszeit Paris. Am Gare d'Austerlitz trennten sich unsere Wege. Pierre und ich begaben uns sofort ins Ministerium, um dem Kriegsminister Bericht zu erstatten. Wir wollten aber zunächst Richards Nachricht abwarten, ob die Pläne in Paris angekommen waren oder nicht. Als die Depesche von Richard eintraf, hatte der Kriegsminister bereits das Ministerium verlassen. Ich denke mit Grauen an den morgigen Tag, denn wenn er erfährt, dass die Pläne verloren sind, wird er eine Krisenkonferenz nach der anderen einberufen.

 

Übrigens, Richard, haben Sie mit Ihren Männern gesprochen, wenn ja, was war geschehen?“

„Selbstverständlich habe ich sie rufen und mir berichten lassen“, antwortete Fréchencourt.

„Meine Leute sagten aus, nach ihrem Aufbruch im Fort Queuleu wäre zunächst alles nach Plan verlaufen. Sie seien gut vorangekommen und als sie nicht mehr damit gerechnet hätten, noch auf Deutsche zu treffen, wären kurz vor Pouilly plötzlich mindestens zehn feindliche und bis an die Zähne bewaffnete Soldaten in hellen Uniformen auf sie zugerannt, die sich an einem Waldrand versteckt gehalten hätten. Da sie selbst unbewaffnet gewesen wären, hätten sie gegen die Übermacht schwer bewaffneter Soldaten keine Chance gesehen und ihr Heil in der Flucht gesucht. Wie ich es ihnen geraten habe, hätten sie sich in dieser argen Bedrängnis schweren Herzens von der Kiste trennen müssen und sie in ein Gebüsch geworfen. Als sie merkten, dass sie nicht mehr verfolgt wurden, hätten sie sich eine Weile im Unterholz versteckt. Als die Luft rein gewesen sei, wären sie nochmals zu der Stelle zurückgekehrt, wo sie sich ihrer Last entledigt hätten, aber die Kiste sei fort gewesen.

Sie hätten dann schnell ihren Weg fortgesetzt. Ein Bauer, der auf dem Weg zum Markt nach Pompey gewesen sei, habe sie auf seinem Fuhrwerk mitgenommen. Ab Pompey wären sie mit dem Zug über Vitry-le-François und Châlons nach Paris gefahren und hätten sich schnurstracks nach hier begeben.“

„Halten Sie es für möglich, dass Ihre Männer die Kiste für sich behalten und sie irgendwo versteckt haben könnten“, fragte Grau vorsichtig.

„Das habe ich mich auch gefragt und sie auch darauf angesprochen“, antwortete Fréchencourt.

„Und wie war ihre Reaktion?“, fragte Muller.

„Sie waren entsetzt über meinen Verdacht und haben geschworen, nie auch nur im Entferntesten einen Gedanken daran verschwendet zu haben, die Kiste für sich zu behalten. Ich glaube ihnen das, sonst wären sie sicherlich nicht hierher gekommen. Ich meine, wir sollten es dabei bewenden lassen.“

„Non, Richard, Sie müssen verstehen, dass wir uns mit der Aussage nicht zufrieden geben können, wir werden sie morgen früh abholen lassen und in unserem Ministerium nochmals getrennt befragen. Ich versichere Ihnen, fair und ohne Druck auf sie auszuüben. Wir müssen ganz sicher sein, dass sich die Pläne in deutscher Hand befinden.“ Grau ließ keinen Zweifel aufkommen, dass Widerspruch zwecklos war.

„Gut Pierre, dann erlauben Sie mir bitte meinen Leuten zu sagen, dass sie morgen im Kriegsministerium ihre Aussage wiederholen müssen“, bat Fréchencourt.

„Das geht leider auch nicht Richard, denn wir möchten nicht, dass sie sich vorher absprechen.“

„Sie haben Recht Pierre. Was halten Sie denn davon, die Befragung ganz entspannt hier im Haus durchzuführen? Ich würde gerne dabei sein, damit bei meinen Männern nicht der falsche Eindruck eines Verhörs entsteht. Das bin ich ihnen schuldig, denn ich habe sie in diese Situation gebracht und sie haben ja schließlich auch einiges für mich riskiert. Ich selbst werde mich selbstverständlich im Hintergrund halten und nur eingreifen, wenn Ihr es wünscht.“ Grau blickte Muller an und als dieser kurz nickte, stimmte er Fréchencourts Vorschlag zu. Letzterer ergriff nun wieder das Wort:

„Ich habe die Zeit vor dem Diner damit verbracht, hier im Haus nach Kopien der Pläne zu suchen, obwohl ich weiß, dass mein Vater erst dann Kopien angefertigt hat, wenn er sicher war, nichts mehr ändern zu müssen. Ich wollte nichts unversucht lassen, aber ich habe wie erwartet nichts gefunden. Was ich allerdings entdeckt habe, sind Pläne für eine schwere Geschützlafette, auf die vermutlich die neue Kanone montiert werden sollte. Leider bringt uns das nicht einen Schritt weiter.“

„Hm, das fürchte ich auch“, Graus Stimme klang ein wenig deprimiert.

„Und wir können nichts tun“, ergänzte Muller.

„Das Schlimmste was passieren kann ist doch, dass die Deutschen die Kanone bauen. So lange dies nicht der Fall ist, bleibt doch der Status quo erhalten, oder?“, fragte Gisele Fréchencourt.

„Ja, das ist richtig, Madame Fréchencourt“, stimmte Muller zu.

„Wir wissen nicht, was die Deutschen mit der Kiste gemacht haben und ob sie die Pläne überhaupt gefunden haben, beziehungsweise jemals finden werden. Ich glaube, dass alle Mutmaßungen darüber, was geschehen sein könnte oder noch geschehen wird, reine Spekulationen sind. Man kann eigentlich nur abwarten und hoffen, dass es gut geht“, fuhr Giselle Fréchencourt fort.

„Sie haben vollkommen Recht, Madame Fréchencourt! Wir können in der Tat nur abwarten und unsere Agenten in Berlin und bei den deutschen Rüstungsfirmen, insbesondere bei Krupp, anweisen, ihr Hauptaugenmerk auf den Bau neuer Geschütze zu legen. Was sonst noch zu tun ist, werden wir morgen im Kriegsministerium beraten“, sagte Grau und schaute auf seine Taschenuhr. „Es ist spät geworden. Jean und ich müssen jetzt leider aufbrechen, denn wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns. Wann sollen wir morgen früh hier sein, Richard?“

„So um neun?“, schlug Fréchencourt vor.

„Das ist eine gute Zeit“, bestätigte Grau. Die Gäste bedankten sich für das vorzügliche Essen und verabschiedeten sich von ihren Gastgebern. Dann bestiegen sie die im Hof bereitstehende Kutsche.

„Bis morgen früh um neun“, rief Fréchencourt, wohl wissend, dass es keine neuen Erkenntnisse geben würde.

Kapitel 5

Metz, 26. und 27. August 1870

Das regennasse Pflaster glänzte im trüben Licht der wenigen noch brennenden Gaslaternen. Zwei Männer schlichen sich lautlos an den Häuserwänden entlang und huschten jedes Mal in eine Haustüre oder Toreinfahrt, wenn eine Kutsche oder ein Fuhrwerk zu hören war. Erst wenn sich das Pferdegetrappel wieder entfernt hatte, setzten sie ihren Weg fort. Die Männer hatten ihre Mützen tief in die Stirn gezogen, so dass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte, dunkle weite Umhänge verwischten die Konturen ihrer Gestalten. Unter einer Laterne vor einem Abbruchhaus blieben sie stehen und betrachteten eine handgezeichnete Wegeskizze.

„Hier isses, letzte Hofeinfahrt vor No.12, Couteau!“ Der Mann, der Messer genannt wurde, antwortete krächzend:

„Oui, hier rein, dann noch zwei Mauern rüber.“

Bei einer Messerstecherei vor ungefähr sechs Jahren wurden Couteau durch einen Schnitt in den Hals beide Stimmbänder beschädigt. Weil ihm jedes Wort schwer fiel, hatte er sich angewöhnt, nur die notwendigsten Worte zu sprechen – wenn man bei seinem Geröchel überhaupt von sprechen reden konnte.

„Wir haun besser ab, die Sache gefällt mir nich, un nur wegen was zu mampfen.“ Cheval hatte Schweißperlen auf der Stirn.

„Wassis los mit dir, du has doch sonst kein Schiss. Geht einfach. Mit Schlüssel rein ins leere Haus, Sore nehmen und weg“, zerstreute Couteau die Bedenken seines Partners.

„Un wenn doch jemand drin is?“ Cheval ließ nicht locker.

„Kehle durch!“ Couteau unterstrich seine Aussage mit einer entsprechenden Handbewegung. Der Widerstand Chevals war gebrochen. Die beiden blickten sich noch einmal um. Die Rue des Jardins war menschenleer.

„Los komm“, drängte jetzt Cheval.

Als sie in der Toreinfahrt verschwanden, schlug die Uhr der nahen Kathedrale halb zwei. Die erste Mauer zum linken Nachbarhaus konnten sie leicht überwinden. Lautlos stiegen sie mit Hilfe von halb vermoderten Holzkisten auf die Mauerkrone. Dann ließen sie sich geräuschlos auf das Nachbargrundstück gleiten. Ein prüfender Blick sagte ihnen, dass sie bis hierhin unentdeckt geblieben waren.

„Müssen Rückzug vorbereiten“, flüsterte Cheval und rollte leise eine Regentonne an die Mauer.

Inzwischen hatte der Himmel aufgeklart, und der Hof lag nun im schwachen silbernen Mondlicht. Die Begrenzungsmauer zu Haus No. 12 schien mit fast zweieinhalb Metern Höhe unüberwindbar. Zudem waren auf der Mauerkrone Glasscherben einzementiert.

„Nach`em Plan muss Seite links hinten ne Tür drin sein“, raunte Cheval. Sie schlichen die Mauer entlang. Was sie im schwachen Licht erkennen konnten, war nicht sehr ermutigend. Die verrostete Eisentüre war längere Zeit nicht mehr geöffnet worden.

„Müssen ersmal das Gerümpel wegtun, damit ich ans Schloss rankomme.“ Sie machten sich an die Arbeit. Hier konnte sie von den Häusern aus niemand sehen, denn mehrere Holunderbüsche nahmen jede Sicht.

„Drück jez fest gegen die Tür.“ Cheval steckte einen Dietrich ins Schloss, und nach kurzer Zeit ließ sich die Tür wider Erwarten so weit aufstoßen, dass sie sich so gerade durch den Spalt quetschen konnten. Da die Aktion nicht ganz lautlos vonstatten gegangen war, verharrten die Männer einige Zeit regungslos in einem Gebüsch, dann betraten sie den Hinterhof von Haus No 12. Couteau hatte nun eines seiner drei Wurfmesser in der Hand, die er immer in einem Unterarmholster* mit sich führte. Er beherrschte eine besondere Wurftechnik, bei der das Messer im Flug nicht rotierte, sondern sich wie ein Pfeil fortbewegte. Diese Kunstfertigkeit hatte er in Paris von einem Russen gelernt. Die so geworfenen Messer trafen selbst auf eine Distanz von zwölf bis fünfzehn Metern noch präzise ihr Ziel. Niemand hatte bisher die Begegnung mit Couteaus Messern überlebt.

Couteau war einer der meist gesuchten Verbrecher Frankreichs. Mindestens sechzehn Morde, darunter an drei Polizisten, gingen auf sein Konto. Nachdem ihm in Paris der Boden zu heiß geworden war, hatte er sich vor drei Jahren nach Metz verzogen. Von nun an arbeitete er meistens mit dem „Pferd“ zusammen, wie man in der Unterwelt den geschicktesten Einbrecher von Metz wegen seiner länglichen Gesichtsform nannte. Auf beide waren hohe Belohnungen ausgesetzt, tot oder lebendig. Couteau deutete auf eine schwere Holztüre.

„Los!“ Cheval drängte nun zur Eile. Seit dem Betreten der Toreinfahrt war bereits eine halbe Stunde vergangen. Laut dem Plan führte von der Hoftüre aus ein etwa fünf Meter langer Flur geradewegs zur Eingangshalle. Von der Halle aus mussten sie die Freitreppe zur ersten Etage hochsteigen. Dort im Zimmer hinter der mittleren Tür sollte sich nach Informationen ihrer Auftraggeber das zu entwendende Bild befinden, auf dem eine Frau mit zwei kleinen Kindern dargestellt waren. Die beiden Einbrecher konnten nicht ahnen, dass sich das Bild nicht mehr in dem Haus befand, und wenn sie gewusst hätten, was sie anstatt der erhofften Beute erwarten würde, wären sie auf der Stelle umgekehrt.

So aber standen sie arglos vor der Hoftüre. Cheval zog zwei Schlüssel aus seiner Hosentasche, einen steckte er ins Schloss in der Türmitte, den zweiten in ein Schlüsselloch etwas oberhalb. Cheval drehte zunächst vorsichtig den oberen Schlüssel herum. Kaum hörbar schob sich ein Riegel zur Seite.

„Einmal“, flüsterte Cheval, dann öffnete er das zweite Schloss.

„Und zweimal.“ Die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen. Couteau grunzte zufrieden. Lautlos huschten die beiden ins Haus. Cheval steckte die Schlüssel wieder in die Tasche und zündete einen Kienspan an. In seinem flackernden Licht sahen sie, wie im Plan eingezeichnet, einen langen Gang, an dessen Ende sie die Tür zur Eingangshalle erkennen konnten. Sie schlichen los.

Als die Uhr der Kathedrale halb zwei schlug, saßen Claude Robin und Roger Mourai in der Küche des Hauses No 12. Die beiden erwarteten einen Trupp Franctireurs, die sich für den Angriff im Morgengrauen auf einen deutschen Vorposten mit neuer Munition versorgen wollten.

Nachdem Robin und Mourai vor vier Tagen von Fréchencourt den Auftrag erhalten hatten, sein Haus zu bewachen und die Franctireurs zu unterstützen, hatten sie sich schnell mit ihrer neuen Aufgabe vertraut gemacht. Bei den Freischärlern waren sie alsbald akzeptiert, und die Bewachung stellte sie bisher vor keine Probleme.

Das Haus hatte nur den einen Zugang von der Rue des Jardins. Dass die ehemalige Toreinfahrt mit einem Eisengitter versperrt war, hatte ihnen Philippe bei der Hausbegehung damit erklärt, dass die Angst vor Einbrechern den Vorbesitzer veranlasst hatten, die Einfahrt zu verschließen. Gut so, denn so mussten sie nur auf die Eingangstür Acht geben.

 

Es gab noch einen geheimen Fluchtweg, den Fréchencourt und seine Männer angelegt hatten, als das Haus zum Stützpunkt der Franctireurs wurde. Dieser Weg führte von der Hintertüre über den Hof. An der rückwärtigen Hofmauer befand sich ein gut getarntes Schlupfloch, durch das man auf das Gelände einer Tischlerei gelangte. Von dort war es kein Problem, auf die Parallelstraße Rue des Piques zu gelangen. Diesen Fluchtweg kannten nur wenige Eingeweihte und war als Zugang absolut tabu. Wer also durch die Hintertüre kam, konnte nur ein ungebetener Gast sein.

Wie an den Tagen zuvor, hatten Robin und Mourai auch heute abwechselnd ihre Rundgänge gemacht und dabei nichts Auffälliges festgestellt. Sie hatten bei Beginn der Dämmerung, wie an den Vortagen, an allen Fenstern die schweren Vorhänge zugezogen, damit kein Licht nach draußen dringen konnte. Niemand sollte wissen, dass das Haus bewohnt war.

Robin hatte bis ein Uhr geschlafen und wollte jetzt die Wache von Mourai übernehmen. Letzterer hatte allerdings beschlossen, zusammen mit seinem Kameraden auf die Freischärler zu warten und sich erst dann hinzulegen. Vor ihnen auf dem Küchentisch lagen zwei geladene Lefaucheux-Revolver aus dem Waffenarsenal Fréchencourts. Die beiden hatten sich für die handlichen sechsschüssigen Revolver entschieden, die offenbar aus Marinebeständen stammten. Bei der Armee wurden sie ihres Wissens nach nicht verwendet, jedenfalls hatten sie vorher noch nie welche gesehen.

Die ehemaligen Berufssoldaten hatten sich auf dem Schießstand im Keller den Umgang mit den Revolvern schnell selbst beigebracht. Mourai saß auf einem Stuhl wippend am Küchentisch, Robin im Halbdunkel auf einer gepolsterten Bank und döste vor sich hin, als die kleine Glocke anschlug, die durch eine Schnur mit dem Riegel der Hoftüre verbunden war.

„Da ist jemand unangemeldet ins Haus gekommen.“ Robin und Mourai sprangen auf, ergriffen ihre Revolver und spannten die Hähne. Was sich in der Folge abspielte, gehörte zum Einmaleins des Häuserkampfes. Robin entriegelte die Türe zur Eingangshalle. Mourai hatte den Docht der Petroleumlampe so weit herausgedreht, dass diese die größt mögliche Helligkeit verbreitete und sie dann auf den Boden gestellt. Als die beiden vernahmen, dass die Tür zur Halle geöffnet wurde, zählte Robin flüsternd bis drei, dann riss er die Tür auf und versetzte der Lampe mit dem Fuß einen Stoß, so dass sie über den Steinfußboden ein Stück weit in die Halle schlitterte. In ihrem Licht sahen sie die Eindringlinge. Mourai schoss zweimal, als er das Messer aufblitzen sah. Während er feuerte, ließ er sich auf den Boden fallen, so dass das Messer über ihn hinweg schwirrte und federnd in der Holzvertäfelung stecken blieb. Mit einem ungläubigen Blick in Richtung des Schützen sackte Couteau zunächst auf die Knie und fiel dann langsam vornüber aufs Gesicht. Ein Geschoss hatte ihn mitten ins Herz getroffen, während das zweite seine rechte Lunge durchbohrte. Auch Robin schoss sofort und traf Cheval, der sich schon mit einer halben Körperdrehung zur Flucht gewandt hatte, in die Schläfe. Cheval drehte sich um seine Körperachse und schlug dann hart auf den Boden. Der brennende Kienspan entglitt seiner Hand und verlöschte nach wenigen Sekunden auf den Steinfliesen. Mourai und Robin warteten einen Augenblick, bis sich der Pulverdampf ein wenig verzogen hatte und sie sicher sein konnten, dass vom Gegner keine Gefahr mehr ausging.

„Bist du in Ordnung, Claude?“ fragte Mourai, erhob sich und klopfte sich den imaginären Staub von der Kleidung.

„Oui, und du, Roger?“

„Ich auch. Das war verdammt knapp.“ Mourai atmete tief durch und zeigte auf das Messer, das in Brusthöhe fast bis zum Schaft im Holz steckte.

„Das waren Profis! Was wollten die hier und wie sind sie reingekommen?“, fragte Robin nachdenklich.

„Schauen wir mal.“ Mourai kniete sich neben den toten Cheval und durchwühlte seine Kleidung.

„Der hat eine Lageskizze und einen Grundriss vom Haus bei sich. Sieh mal, durch diese Türe in der Mauer zum Nachbarhaus sind sie auf den Hof gelangt. Ins Haus gekommen sind sie mit diesen Schlüsseln, sie müssen zu den Schlössern der Hoftür passen. Und hier hat er noch einen Dietrich und ein paar Kienspäne. Die wollten ein Bild stehlen, hier ist eine Beschreibung davon. Leider gibt es nichts, was auf die Identität des Burschen hindeutet, keine Papiere, nichts.“ Mourai erhob sich wieder.

„Seine Taschen sind leer“, sagte Robin, der Couteaus Leiche auf den Rücken gedreht hatte und nun die Kleidung durchsuchte.

„Das ist ein ganz unangenehmer Zeitgenosse“, Mourai zeigte auf das Halfter mit den Messern.

Es läutete an der Haustür. Robin öffnete den Türspion. Einer der vier Männer, die vor der Tür standen, flüsterte „La petite guerre.“ Robin schob den Riegel auf die Seite und öffnete die Türe. Nach und nach traten die Männer aus dem Schatten des Vordachs in die Empfangshalle.

„Was ist denn hier los?“, fragte der Anführer der Gruppe und zeigte auf die beiden Toten.

„Die sind gerade durch die Hoftüre reingekommen“, antwortete Robin, während er die Eingangstüre wieder verschloss.

„Und wie sind sie auf den Hof gelangt?“

„Schau mal auf ihren Wegeplan, da muss es in der Mauer zum Nachbargrundstück eine Türe geben“, antwortete Mourai achselzuckend.

„Das hatten sie bei sich.“ Robin übergab den Franctireurs die Pläne und die Schlüssel. Der Anführer schaute sich alles genau an.

„Sieht nach einem Auftragseinbruch aus. Die Türe habe ich noch nie bemerkt. Einer von euch?“ Alle Anwesenden schüttelten den Kopf.

„Das werden wir uns bei Tageslicht einmal genauer ansehen.“

„Wisst ihr eigentlich, wen ihr da erledigt habt?“ Ein anderer Franctireur klopfte Robin anerkennend auf die Schulter.

„Non, sollten wir die kennen?“ Mourai zog erstaunt seine Augbauen hoch.

„Das sind die gefährlichsten Verbrecher von Metz, besonders der hier.“ Der Mann zeigte auf Couteau.

„Ihr könnt froh sein, dass ihr nicht hier liegt“, fuhr er fort.

„Habt ihr schon einmal nachgesehen, ob das Bild überhaupt noch da ist?“

„Wann denn? Das ist passiert, kurz bevor ihr gekommen seid. Der Pulverdampf hat sich noch nicht ganz verzogen.“ Mourai grinste. Der Anführer der Franctireurs wandte sich an seine Männer:

„Wir verschieben unsere Attacke auf morgen Nacht. Wir müssen zunächst den beiden hier helfen, alles wieder in Ordnung zu bringen.“

„Hey, du Penner, aufwachen! Das ist kein Platz zum Schlafen, komm raus da!“ Als der Angesprochene keinerlei Anstalten machte, der Aufforderung Folge zu leisten, stieß der Soldat mit dem Gewehrkolben gegen die Füße, die unter der Plane des Bagagewagens hervorlugten. Der zweite Soldat, dem das alles nicht schnell genug ging, schlug die Plane zur Seite.

„Merde, der wird nie mehr aufwachen, der ist mausetot! Siehst du die zwei wunderschönen Einschusslöcher in seiner Brust? Das ist nicht mehr unsere Sache, wir geben der Polizei Bescheid“, sagte er und schlug die Plane wieder zurück. Die Patrouille ging gemächlichen Schrittes weiter. Die Soldaten hatten genug Tote gesehen. Das hier konnte sie nicht erschüttern.

Als der Priester um sechs Uhr die Kirche Sainte-Ségolène betrat, hatte er nicht erwartet, dass so früh am Morgen jemand die Beichte ablegen wollte. Denn auf der rechten Seite des schrankartigen Beichtstuhls, wo die Beichtenden Platz zu nehmen pflegten, war der Vorhang heruntergelassen.

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