Der Schatz der Kürassiere

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Kapitel 2

Fort Plappeville, 21. und 22. August 1870

Mit bleichen Gesichtern und den Kutscher insgeheim verfluchend, gingen die Männer leicht schwankend durch die offen stehende Stahltüre, über der ein Schild mit der Aufschrift „Kommandantur“ hing. Am Ende eines von zwei Gasleuchten schwach erhellten Gewölbeganges lag die Wachstube. Der wachhabende Offizier, ein Lieutenant und die drei anwesenden Soldaten salutierten, als sie die Wachstube betraten. Der Offizier wandte sich an Grau und Muller:

„Messieurs Colonel*, Sie und Ihre Begleiter werden schon erwartet.“ Philippe pfiff leise durch die Zähne, als er vom militärischen Rang der Angesprochenen hörte und auch Fréchencourt war sichtlich überrascht. Ein Soldat öffnete eine Tür und die Männer betraten einen großen quadratischen Raum mit grob verputzten weißen Wänden. Was sofort ins Auge fiel, waren die beiden gekreuzten Lanzen mit den daran befestigten Trikoloren, mit denen die rückwärtige Wand des sonst schmucklosen Raumes dekoriert war. Davor befand sich ein großer dunkler Eichenschreibtisch, der seine besten Tage schon hinter sich hatte.

Der Offizier, der vor dem einzigen Fenster des Raumes stand und den Eintretenden zunächst den Rücken zugewandt hatte, drehte sich nun um und kam den Besuchern entgegen. Grau machte die Männer miteinander bekannt:

„Lieutenant-colonel* Jacques Duchesne, der Festungskommandant. Monsieur Richard Fréchencourt und seine rechte Hand Monsieur Philippe Perçu.“ Duchesne musterte Fréchencourt und Philippe aufmerksam aber nicht unfreundlich.

„Ich hatte eigentlich Ihren Vater erwartet, aber auch Sie Messieurs sind selbstverständlich innerhalb der Mauern von Fort Plappeville willkommen. Sie befinden sich hier in der vordersten Linie, aber das sollte Sie nicht beunruhigen, denn hier sind Sie sicher wie in Abrahams Schoß. Die Deutschen wissen ganz genau, dass sie sich bei einem Angriff eine blutige Nase holen würden. Deshalb begnügen sie sich damit, uns zu belagern und uns hin und wieder eine Granate zu schicken, offenbar um uns zu zeigen, dass sie noch da sind“, spottete Duchesne. Als wenn der Gegner die Worte des Festungskommandanten gehört hätte. vernahmen sie ein unangenehmes Zischen. Sekundenbruchteile später schlug eine Granate irgendwo in der Nähe ein. Eine heftige Explosion ließ die Mauern erzittern und brachte die Deckenbeleuchtung ins Schwanken. Fréchencourt und Philippe duckten sich automatisch.

„Die haben auch schon besser gezielt. Ist wohl im Graben eingeschlagen“, sagte Duchesne unaufgeregt und grinste. Seine Artillerie antwortete umgehend mit einer Salve.

Der Festungskommandant bat seine Besucher an einem Kartentisch Platz zu nehmen und wandte sich dann erklärend an Fréchencourt und Philippe:

„Pierre, Jean und ich kennen uns schon seit Jahren. Wir waren zusammen auf der Militärakademie, danach trennten sich unsere Wege. Ich kam zur kämpfenden Truppe und die beiden heuerten beim Kriegsministerium an. Für Pierre und Jean hat sich dieser Schritt gelohnt, Sie haben sicher ihre Offiziersränge erfahren“, und grinsend fügte er hinzu: „Bei uns Praktikern lassen die Beförderungen nun einmal etwas länger auf sich warten als bei den Theoretikern vom Kriegsministerium. Die beiden sind bereits Colonel und ich bin erst Lieutenant-colonel“, seufzte er. „Ich habe mit ihnen gewettet, dass ich sie eines Tages im Rang überholen werde.“ Grau und Muller lachten amüsiert. Sie ahnten nicht, dass Duchesne diese Wette gewinnen würde. Der Kommandant läutete seiner Ordonanz.

„Messieurs, darf ich Ihnen ein Glas Wein oder lieber etwas Alkoholfreies anbieten?“ Alle vier stimmten für Wein.

„Aber nur ein Glas für jeden, Jacques. Du weißt ja, wir haben noch etwas vor“, meinte Grau. Duchesne zog die Augenbrauen hoch:

„Klar, ich habe die Vorbereitungen vom Fenster aus beobachtet, aber Pierre, erzähle mir doch mal, wie und wo ihr Monsieur Fréchencourt gefunden habt.“ Grau schilderte Duchesne ausführlich das Geschehen, angefangen mit ihrem Eintreffen in der Rue des Jardins No.12 bis zu ihrer Ankunft im Fort.

Duchesne hörte der Schilderung aufmerksam zu und schaute dabei abwechselnd zu Fréchencourt und Philippe. Als Grau geendet hatte, sagte der Festungskommandant:

„Monsieur Fréchencourt., ich hätte auch nicht anders gehandelt als Sie. Ich hoffe nur, Ihre Männer sind durchgekommen.“

„Das hoffe ich allerdings auch“, erwiderte Fréchencourt. Inzwischen hatte die Ordonanz, ein junger Fähnrich, die Gläser mit einem erlesenen Spätburgunder gefüllt. Nachdem der Offiziersanwärter den Raum wieder verlassen hatte, erhob sich Duchesne mit dem Weinglas in der Hand.

„Lasst uns auf ein gutes Gelingen anstoßen“, sagte er. „Messieurs, dürfen Philippe und ich nun endlich erfahren, was da gut gelingen soll?“, fragte Fréchencourt.

„Ach, haben die Schlingel Sie noch nicht eingeweiht? Dann gehen Sie bitte einmal mit mir zum Fenster“, erwiderte Duchesne. Die Gruppe folgte ihm. Was Fréchencourt und Philippe auf dem Festungshof sahen, ließ sie tief durchatmen, dort lag ausgebreitet eine graue Ballonhülle.

„Den haben wir noch nicht lange. Kurz vor Kriegsbeginn hat Paris damit begonnen, alle hiesigen Festungsanlagen mit Ballonen für Aufklärungszwecke auszustatten. Soviel ich weiß, hat aber bis jetzt nur Plappeville einen bekommen. Wie Sie sehen, prüfen meine Männer gerade die Verbindungen der Ballonhülle mit dem Korb. Sobald es dunkel ist, wird der Ballon mit Leuchtgas gefüllt, dann können Sie starten“ erklärte Duchesne.

„Bei den tief hängenden Wolken und dem leichten Nieselregen dürften Sie von den Deutschen unentdeckt bleiben. Wichtig ist nur, dass der Ballon schnell an Höhe gewinnt. Der Wind ist frisch und kommt aus Nordost und soll sich, wie unser ‚Wetterfrosch’ vorhersagt, vorläufig nicht drehen. Diese Luftströmung wird Sie ungefähr in Richtung Paris treiben. Bessere Voraussetzungen für den Überflug der gegnerischen Linien gibt es nicht.“

„Und wer soll das Ding manövrieren?“, fragte Fréchencourt, der während den Ausführungen des Festungskommandanten mit Schweißperlen auf der Stirn starr in den Innenhof geblickt hatte.

„Ich!“, antwortete Muller. „Ich habe schon einige Ballonfahrten hinter mir und bin, wie Sie sehen, immer wieder heil runtergekommen. Wenn wir die ersten vierzig Kilometer geschafft haben, sind wir in jedem Fall jenseits der feindlichen Linien, alles andere wird sich dann ergeben.“ Fréchencourt warf einen Seitenblick auf Philippe, der zufrieden lächelnd das Treiben auf dem Hof beobachtete:

„Du hast wohl gar keine Bedenken Philippe?“

„Warum sollte ich? Im Gegenteil, mein Jugendtraum vom Fliegen geht in Erfüllung, wenn auch nicht unter idealen Bedingungen, aber immerhin. Zudem ist das unsere einzige Chance von hieraus unbehelligt nach Hause zu kommen.“

„Mir ist unwohl bei der Sache, aber mir bleibt ja keine andere Wahl“, stellte Fréchencourt betrübt fest.

„So, lasst uns jetzt endlich anstoßen.“, sagte der Festungskommandant. Die Männer erhoben ihre Gläser und prosteten sich zu.

„Kommen wir nun wieder zum Grund unseres Zusammenseins, folgen Sie mir bitte zum Kartentisch, Messieurs“, forderte Duchesne seine Besucher auf. An Muller gewandt sagte er:

„Jean, hier ist die gewünschte Karte. Wir haben die momentane Windrichtung eingezeichnet und wenn es dabei bleibt, werdet ihr hier irgendwo zwischen Paris und Orleans landen.“ Die Männer beugten sich über die Landkarte.

„Die größten Probleme sind die Wetterverhältnisse und die Dunkelheit, denn wir können nicht auf Sicht fahren und müssen uns ausschließlich auf Höhenmesser und Kompass verlassen“, bemerkte Muller, und Grau fügte hinzu:

„Wir haben keine andere Wahl, Messieurs. Da wir über feindliche Linien hinweg müssen, helfen uns die tiefhängenden Wolken und die Dunkelheit der Nacht, unentdeckt zu bleiben. Darüber hinaus nutzen wir den Vorteil, dass niemand auf der Gegenseite mit einem Durchbruch mit einem Ballon rechnet. Ich jedenfalls habe keine Zweifel, dass wir das schaffen werden, denn Jean ist ein erfahrener Ballonfahrer.

Dennoch können wir nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen, dass es schief geht. Für den Fall, dass wir aus irgendwelchen Gründen zur frühzeitigen Landung über besetztem Gebiet gezwungen werden und wir in die Hände der Deutschen fallen sollten, werden wir uns jetzt eine andere Identität zulegen.

Und zwar starten wir als Mitglieder des hiesigen Ballonclubs ‚Les Charlières de Metz’ und haben den Auftrag, die Post der letzten Tage nach Paris zu bringen. Wir werden deshalb zwei Postsäcke mitführen. Zudem erhalten wir neue Papiere, die zwar unsere richtigen Namen, aber hiesige Adressen enthalten, wobei bei Ihnen, Monsieur Fréchencourt und bei Ihnen, Philippe, als Wohnort das Haus in der Rue des Jardins angegeben ist.

Wenn wir bemerken sollten, dass es brenzlig wird, werden wir alles, was auf unsere wahre Identität hinweist, sofort vernichten. Die Deutschen lieben ‚Husarenstücke’ und sie würden uns großen Respekt entgegenbringen. So hätten wir eine gute Chance halbwegs ungeschoren davon zu kommen.“ Fréchencourt und Philippe nickten zweifelnd.

„Messieurs, ich schlage folgendes weitere Vorgehen vor“, sagte der Festungskommandant:

„Sie sollten versuchen noch ein bis zwei Stunden zu schlafen, denn es wird sicherlich eine anstrengende Nacht. Wir haben für Sie einen Raum neben der Wachstube vorbereitet. Ich werde Sie um elf Uhr wecken lassen.

Um diese Uhrzeit werden meine Männer beginnen, den Ballon zu füllen, denn es muss stockdunkel sein, weil der prall gefüllte Ballon die Festungsmauern überragen wird. Bei Dämmerlicht könnte der Ballon von den deutschen Vorposten entdeckt werden, und dann wäre die Mission gescheitert, bevor sie begonnen hätte.

 

Sofern die Startvorbereitungen planmäßig verlaufen – wovon ich ausgehe – können Sie so gegen zwei Uhr in der Frühe starten. Bei Beginn der Morgendämmerung werden Sie sich bereits weit hinter den feindlichen Linien befinden und damit den gefährlichen Teil der Unternehmung hinter sich gebracht haben, der Rest wird für meinen Freund Jean ein Kinderspiel sein.“

Die Männer prosteten sich nochmals zu, dann verabschiedete sich Duchesne mit den Worten:

„Ich werde jetzt die Startvorbereitungen überwachen. Bis nachher, und entspannen Sie sich.“ Die vier Ballonfahrer folgten der Ordonanz zu ihrem Ruheraum.

Der Raum war fensterlos und wurde durch einen Luftschacht belüftet. Eine Gaslampe verbreitete ihr müdes Licht. An jeder der vier Wände stand ein Feldbett.

„Nicht sehr einladend, aber für einen kurzen Schlaf reicht es“, bemerkte Grau. Die Männer zogen ihre Schuhe aus, entledigten sich ihrer Cuts und legten sich auf die Strohmatratzen.

Punkt elf Uhr wurde heftig an die Türe gepocht:

„Messieurs, bitte aufstehen, es ist soweit.“ Die Männer erhoben sich. Fréchencourt konnte man ansehen, dass er kaum ein Auge zugemacht hatte, die übrigen drei wirkten ausgeruht und voller Tatendrang. Ein wenig später betraten sie die Wachstube, wo sie bereits erwartet wurden. Der wachhabende Offizier, es war derselbe wie bei ihrer Ankunft, übereichte den Männern ihre neuen Papiere und die Unterlagen, die sie als Mitglieder des hiesigen Ballonclubs auswiesen.

„Und hier der Auftrag der ‚Poste Française’, zwei Postsäcke nach Paris zu bringen“, ergänzte der Wachhabende.

„Philippe, Sie sind der Verantwortliche für diese Sendung“, sagte Grau. „Auf dem Formular steht Ihr Name.“ Philippe warf einen kurzen Blick auf das Schreiben und steckte es dann unbeeindruckt in seine Westentasche.

Der Offizier übergab Muller nun eine geöffnete Holzkiste.

„Höhenmesser, Fernrohr und Kompass.“ Muller nahm die Instrumente einzeln in die Hand und prüfte sie eingehend.

„Auf die können wir uns verlassen“, sagte er zufrieden an seine Mitfahrer gewandt:

„Fehlt nur noch der Regenschutz.“

„Die Capes hängen dort drüben“, antwortete der Wachhabende und zeigte auf einen schmiedeeisernen Kleiderständer. Duchesne, der im Hintergrund das Geschehen verfolgt hatte, trat nun zu den Männern.

„So, Messieurs, nachdem nun alle Formalitäten erledigt sind, lasst uns nach draußen gehen, um zu sehen, wie weit meine Leute mit den Startvorbereitungen sind.“

„Einen Augenblick noch bitte“, unterbrach ihn Grau. „Jacques, ich möchte dich daran erinnern, deine beiden Männer Claude Robin und Roger Mourai aus euren Soldlisten zu streichen, wir hatten dir ja bereits gesagt, dass sie jetzt dem Kriegsministerium unterstellt sind.“

„Pardon, das hatte ich ganz vergessen. Lieutenant übernehmen Sie das. Vermerken Sie hinter den beiden Namen Robin und Mourai ‚Verlust.’ Den wahren Grund müssen wir verschleiern, aber so ganz aus der Luft gegriffen ist ‚Verlust’ ja nicht.“

Die Männer verabschiedeten sich von dem Wachabenden, legten sich die Regenumhänge um die Schultern und folgten Duchesne. Als dieser die Stahltüre zum Innenhof öffnete, schlug ihnen ein von einem kräftigen Wind getriebener Nieselregen entgegen, zudem war es stockfinster.

„Was für ein tolles Wetter“, murmelte Fréchencourt resigniert vor sich hin, so leise, dass die anderen es nicht verstehen konnten. Als sich die Augen der Männer etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten sie schemenhaft erkennen, dass sich der Ballon schon ein wenig aufgerichtet hatte und nun seitlich über dem Korb schwebte. Das Zischen des einströmenden Gases in die Ballonhülle wurde vom Wind fast verschluckt. Noch konnten die Ballastsäcke allein den Ballon am Boden halten, allerdings waren sechs Soldaten vonnöten, ihn mit Seilen gegen ein Abdriften zu sichern. Acht weitere Soldaten hielten sich unter einem Mauervorsprung bereit, um bei Bedarf die Sicherungsmannschaft zu verstärken.

„Was hätten wir nur bei besserem Wetter gemacht?“, ließ sich Fréchencourt, diesmal lautstark, vernehmen. In seiner Stimme schwang so etwas wie Galgenhumor mit.

„Dann hätten wir heute nicht starten können. In einer klaren Nacht wäre das Risiko entdeckt und beschossen zu werden, viel zu groß, denn überall hier in der Nähe befinden sich Vorposten der Deutschen, die ein wachsames Auge auf Fort Plappeville haben. Nur bei diesem Mistwetter geht unser Plan auf“, antwortete Muller. Fréchencourt beschloss, sich seinem Schicksal zu ergeben.

Es dauerte noch gut zwei Stunden, bis ein Unteroffizier dem Festungskommandanten den Ballon startklar meldete. Nachdem die Instrumente im Ballonkorb verstaut und die beiden Postsäcke außen am Korb befestigt waren, verabschiedete sich die Ballonbesatzung von Duchesne und bestieg über eine Leiter den Korb.

„Viel Platz haben wir ja nicht“, schrie Grau gegen den Wind an.

„Die wenigen Stunden werden wir überstehen, oder leidet jemand an Klaustrophobie?“, entgegnete Muller ebenso lautstark.

„Wenn alles klar ist, gebe ich jetzt das Startzeichen.“ Als die Gefährten nickten, hob Muller die Hand. Die Männer der Haltemannschaft, die inzwischen auf über dreißig Mann angewachsen war, ließen die Halteseile zunächst langsam durch die Hände gleiten, bis sich auch der Ballonkorb oberhalb der Festungsmauern befand, dann ließen sie die Seile auf ein Kommando los. Der Ballon machte einen Sprung nach oben. Muller öffnete schnell hintereinander einige Ballastsäcke, so dass der Ballon sehr schnell an Höhe gewann. In wenigen Augenblicken verschwand das Fort aus den Augen der Männer, die Dunkelheit verschluckte die Erde unter ihnen. Die Fahrt ins Ungewisse hatte begonnen.

Kapitel 3

Deutsche Stellung Nähe Metz, 20. August 1870, ein Tag vorher

„Scheißwetter“, sagte einer der drei Soldaten, die in der kargen Wohnstube des verlassenen Bauernhauses saßen. Das schwache Licht einer Petroleumlampe verbreitete sein diffuses Licht im Raum. Die Flamme war auf die geringste Leuchtkraft zurückgedreht. Das war der Situation geschuldet, denn man befand sich schließlich mitten in Feindesland und wollte den Gegner nicht mit einem hell erleuchteten Fenster auf sich aufmerksam machen. Zudem ging auch das Petroleum langsam zur Neige.

„Seit wir am frühen Abend hier eingerückt sind, regnet es ununterbrochen.“

„Das hat auch seine guten Seiten, Kurt. Wegen des schlechten Wetters wird in dieser Nacht wohl nichts mehr passieren. Die Franzosen haben sich nach Metz zurückgezogen und lecken ihre Wunden. Unsere Entscheidung, heute Nacht auf Patrouillengänge in die nähere Umgebung zu verzichten, geht daher vollkommen in Ordnung“, entgegnete der ranghöhere Offizier, der auf einem wackeligen Holzstuhl vor dem einzigen Fenster des Raumes saß und in eine totale Finsternis starrte.

„Dein Wort in Gottes Ohr. Ich hoffe, dass es diese Nacht ruhig bleibt. Wir sind alle ziemlich erschöpft und können jede Stunde Schlaf gut gebrauchen, Anton. Wir haben zwar in die Kämpfe bei Gravelotte nicht mehr eingreifen müssen, sollten aber nicht vergessen, dass wir dennoch die letzten beiden Tage fast ununterbrochen im Sattel gesessen haben.“ Er wandte sich an seinen Kameraden, der auf der Bank neben ihm saß:

„Hast du die Männer schon zur Ruhe geschickt, Oskar?“

„Ja Kurt, sofort nach dem die Pferde versorgt waren, so gegen neun. Ich habe sie in der Scheune einquartiert. Zwei Mann Posten bei den Pferden, zwei Mann am westlichen und ein Mann am östlichen Hoftor. Wachwechsel alle zwei Stunden, Wachhabender Gefreiter Berg“, entgegnete Wachtmeister Oskar Ahren kurz und knapp.

Die drei Männer führten die 2. Kompanie der 3. Eskadron* des Kürassier-Regiments – Rheinisches Nr. 8 – aus Deutz. Das Regiment erhielt nach der gewonnenen Schlacht bei Gravelotte den Befehl, einen Teil der Lücke zwischen dem I. und VII. Armeekorps zu füllen, um den Belagerungsring um Metz zu schließen. Die beiden Kompanien der 3. Eskadron hatten in der Nähe der Ortschaft Pouilly, jeweils zwei Kilometer von einander entfernt, Stellungen bezogen. Der Stab der Eskadron unter Rittmeister* von Seidel hatte sich in Pouilly einquartiert.

„Kannst du uns auf der Karte einmal zeigen, wo genau wir uns jetzt befinden, Anton?“, fragte Seconde-Lieutenant Kurt Müschen.

„Ich will es versuchen, Kurt.“ Premier-Lieutenant Franz Anton von Buschhagen, erhob sich, schloss die Fensterläden und ging zu seiner Satteltasche, die er auf einer Holztruhe abgelegt hatte. Der Tasche entnahm er eine Generalstabskarte und breitete sie auf dem großen Eichentisch in der Mitte des Raumes aus.

„Stell bitte die Flamme der Funzel etwas größer, damit wir was erkennen können, Oskar“, forderte er Ahren auf. Der Wachtmeister drehte den Docht ein Stück heraus und schob dann die Lampe in die Nähe der Karte.

„Also, dort im Norden ist Metz, hier im Südwesten der Stadt befindet Gravelotte. Südlich davon, ungefähr hier, war der Verfügungsraum unseres Regiments.“ Buschhagen untermalte das Gesagte mit dem Finger auf der Karte.

„Wir sind heute Morgen zunächst in südöstliche Richtung geritten, an den Stellungen des VII. Korps vorbei, haben bei Couvry das Flüsschen Seille* überquert und den Ort Pouilly im Norden umgangen. Dann sind wir ungefähr hier auf diese Straße gestoßen, die von Pouilly nach Metz führt. Dieser sind wir zunächst in Richtung Metz gefolgt. Nach ungefähr eineinhalb Kilometern haben wir die Straße nach rechts verlassen und sind eine ganze Weile auf einem Feldweg, der nicht eingezeichnet ist, ostwärts geritten.“ Buschhagen beschrieb auf der Karte einen Kreis.

„Unser Quartier muss sich demnach hier irgendwo zwischen dem Fort Queuleu und Pouilly befinden, hoffentlich außerhalb der Reichweite der Kanonen des Forts. Leider ist der Kartenmaßstab zu groß, so dass eine genaue Ortsbestimmung nicht möglich ist. Wo genau wir uns befinden, muss morgen früh ein Spähtrupp herausfinden.“

„Dann kann der in einem erkunden, wo die 1. Kompanie Stellung bezogen hat“, fügte Müschen hinzu.

„Da hast du Recht, Kurt. Aber dann benötigen wir zwei Trupps, einen schicken wir nach Osten, den anderen nach Westen. Ich habe die Befürchtung, dass wir hier so schnell nicht wieder wegkommen und die Erholungspause länger dauert, als uns lieb ist. Jedenfalls werden wir uns morgen zunächst einmal häuslich einrichten. Wir können froh sein, ein festes Dach über dem Kopf zu haben und nicht biwakieren zu müssen.“ Buschhagen schaute auf seine Taschenuhr:

„Es ist gleich Mitternacht, auch wir sollten uns so langsam aufs Ohr legen. Wer weiß, was uns der morgige Tag so alles bringen wird. Allerdings möchte ich vorher noch etwas frische Luft schnappen. Ich glaube, es hat aufgehört zu regnen.“

„Sollen wir mitgehen, Kurt und noch ein lecker Zigärrchen rauchen, bevor wir uns hinlegen?“, fragte Ahren.

„Eine gute Idee, Oskar. Ich werde mir aber lieber ein Pfeifchen stopfen, das erste seit drei Tagen.“ Als sie vor die Türe traten, empfing sie eine klare Luft und es wehte ein frischer Wind aus nördlicher Richtung. Die Wolkendecke war teilweise aufgerissen und gab stellenweise den Blick auf den Sternenhimmel frei.

„Gehen wir mal vors Hoftor. Da hin und wieder aus der Richtung des Forts Kanonendonner zu hören ist, können wir vielleicht schon einmal den ungefähren Abstand zur Festung errechnen“, schlug von Buschhagen vor.

„Hoffentlich sind wir weit genug entfernt, sonst wird es ungemütlich“, fügte Müschen hinzu.

„Denen ihre Kanonen schießen maximal zwei Kilometer weit und das nur mit Rückenwind“, lästerte von Buschhagen.

„Keine Meldung Soldaten“, sagte Ahren, als sie in die Nähe des Postens kamen. Einer der Wachen stand innerhalb der Hofmauer, der andere jenseits des Tores und beobachtet aufmerksam die Umgebung. Die Soldaten hatten sich auf eventuelle Nahkämpfe eingestellt, denn sie hatten vorsorglich ihren Karabinern die Bajonette aufgepflanzt. Die erste Nacht in einer neuen Stellung war erfahrungsgemäß sehr heikel. Die Soldaten hatten zwar sofort nach ihrer Ankunft die nähere Umgebung erkundet und feindfrei gemeldet, aber die Rheinarmee war nah und ihre Stoßtrupps und die Franctireurs waren eine permanente Bedrohung.

Das Gehöft lag sehr einsam, eingebettet in eine grüne hügelige Landschaft. Rund um den Hof war freies Schussfeld von mindestens zweihundert Metern. Ein eventueller Angreifer würde Mühe haben, sich ungesehen zu nähern und wenn es doch gelingen sollte, würde sich ein Eindringen als sehr schwierig gestalten, denn zwischen den einzelnen Hofgebäuden, Wohnhaus, Scheune und Stallungen, befanden sich mannshohe Mauern. Ein großes Tor im Westen und ein kleineres Tor im Osten waren die einzigen Zugänge zum Innenhof. Das Gehöft war somit als Vorpostenstellung geradezu ideal.

 

Die Männer schlenderten über den steinigen Feldweg, der vom großen Tor in westliche Richtung führte und nach ungefähr zweihundert Metern zwischen Bäumen verschwand. Die bestellten Felder links und rechts waren nicht abgeerntet. Die Bewohner mussten den Hof samt ihren Tieren Hals über Kopf verlassen haben. Dafür sprach auch, dass noch fast die komplette Möblierung des Wohnhauses, viele landwirtschaftliche Geräte und auch einige Futtervorräte vorhanden waren.

„Ich kann mich nicht erinnern, hier lang geritten zu sein“, meinte Müschen kopfschüttelnd.

„Ich auch nicht, aber als wir den Hof entdeckten, waren wir nun einmal sehr angespannt, denn wir mussten damit rechnen, entweder auf die Bewohner, auf Franctireurs oder versprengte gegnerische Soldaten zu treffen. Aber Gott sei Dank mussten wir uns mit niemandem rumschlagen“, entgegnete Ahren.

„Gehen wir doch noch ein Stück weiter, bis zu den Bäumen da vorne. Ich meine, da hätte ich heute Nachmittag im Vorbeireiten eine Bank gesehen“, sagte von Buschhagen.

„Ach enä, Anton hatte noch einen Blick für Nebensächlichkeiten, während wir uns vor Angst fast in die Hosen gemacht haben“, feixte Müschen. Inzwischen hatten sie sich dem Waldstück genähert.

„Da vorne ist tatsächlich eine Bank“, vermeldete Ahren. Die Männer ließen sich auf der aus Baumstämmen grob gezimmerten Sitzgelegenheit nieder.

„Komm Oskar, gib mir bitte auch eine Zigarre“, bettelte von Buschhagen. „Ich wollte zwar mit dem Rauchen aufhören, aber ihr wisst ja, wenn ihr gleich mit dem Paffen anfangt, und ich euch zusehen muss, werde ich unleidlich.“ Ahren reichte Buschhagen grinsend sein Zigarrenetui. Still vor sich hin rauchend, hing jeder seinen Gedanken nach.

Premier-Lieutenant Franz Anton von Buschhagen, 1842 in Köln geboren, entstammte einer preußischen Offiziersfamilie und entschied sich ganz im Sinne seines Vaters früh für die militärische Laufbahn. Mit zwanzig Jahren kam er 1862 zum Kürassier-Regiment in Deutz. Während des Deutschen Krieges 1866 erhielt er das „Eiserne Kreuz 1. Klasse“. In der Entscheidungsschlacht, bei der bei Königgrätz die Truppen Preußens auf die Armeen Österreichs und Sachsens trafen, wurde er durch eine österreichische Kugel zwischen Schulter und linker Brust schwer verwundet. Sein Glück war, dass Ahren und Müschen ihn rechtzeitig aus der Kampfzone brachten. Die Ärzte im Lazarett hatten ihm gesagt, dass er die schwere Verletzung nur deshalb überlebt habe, weil das aus nächster Nähe abgefeuerte Geschoss glatt durch die Lunge hindurchgegangen sei. Bei einem Lungensteckschuss hätten sie ihm nicht helfen können. Im Anschluss an den Lazarettaufenthalt war er in Privatpflege bei Frau Anette von Rosenberg in Kolberg*. Buschhagen verliebte sich unsterblich in die schöne junge Offizierswitwe. Nach seiner Genesung kehrte er noch im gleichen Jahr zum Regiment zurück, wurde zum Premier-Lieutenant befördert und erhielt das Kommando über die 2. Kompanie der 3. Eskadron.

Anfang 1867 folgte Anette von Rosenberg ihrem ehemaligen Pflegling Anton von Buschhagen nach Deutz. Wenig später heirateten sie. Von Buschhagens haben eine zweijährige Tochter, ihr ganzer Stolz.

Der Premier-Lieutenant war etwas über einsachtzig groß und athletisch. Seine mittelblonden Haare waren, wie in Kriegszeiten üblich, kurz geschnitten. Die dichten Augebrauen über seinen stahlblauen Augen waren der einzige Haarwuchs in seinem ovalen Gesicht. Die gerade Nase und der energische Mund gaben ihm einen entschlossenen Gesichtsausdruck. Von Buschhagen hatte eine angenehme Stimme, und obwohl er darauf bedacht war akzentfrei zu sprechen, konnte er zu seinem eigenen Leidwesen seine kölnische Herkunft nicht leugnen. Seinen Soldaten gegenüber war er gerecht, handelte stets sehr überlegt und setzte seine Männer nie einer unkalkulierbaren Gefahr aus.

Seconde-Lieutenant Kurt Müschen, in Zons geboren, war zwei Jahre jünger als von Buschhagen. Da er keine Lust hatte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, der ein bekannter Kunsthistoriker und Sachverständiger für sakrale Kunst war, brach er sein Kunststudium ab und trat mit einundzwanzig Jahren in die preußische Armee ein. Nach seiner Offiziersausbildung in Brandenburg wurde er 1866 kurz vor Ausbruch des „Deutschen Krieges“ auf eigenen Wunsch ins Rheinland zu den Kürassieren nach Deutz versetzt. An der Schlacht bei Königgrätz nahm er als Fähnrich teil. Er rettete zusammen mit Ahren durch beherztes Eingreifen das Leben von Buschhagens. Hierfür erhielt er das „Eiserne Kreuz 2. Klasse“. Er selbst kehrte unversehrt nach Deutz zurück. Wegen Tapferkeit im Gefecht bei Mars la Tour, am 16. August dieses Jahres, wurde er vom Fähnrich zum Seconde-Lieutenant befördert. und erhielt das Kommando über den zweiten Zug der Kompanie.

Müschen hatte ungefähr die gleiche Statur wie von Buschhagen. Dass in seinen Adern auch italienisches Blut seiner Mutter floss, war unverkennbar. Seine Haare waren schwarz und ebenfalls kurz geschnitten. In seinem kantigen immer leicht gebräunten Gesicht saßen unter geschwungenen schmalen Brauen tiefliegende dunkle Augen. Die Nase war leicht gebogen, und obwohl sein Mund ein klein wenig zu breit geraten war, konnte man sein Gesicht als äußerst attraktiv bezeichnen. Was Müschen ärgerte, dass er schon wenige Stunden nach einer Rasur wieder unrasiert aussah.

Der Seconde-Lieutenant hatte eine dunkle Stimme, seinen rheinischen Dialekt konnte er nur schwer verbergen. Müschen war forsch und immer gut gelaunt. Da er sein Herz auf der Zunge trug, musste ihn von Buschhagen hin und wieder zügeln. Obwohl sein Verhältnis zu den Soldaten kameradschaftlich war, tat dies seiner Autorität keinen Abbruch. Aufgrund seiner stattlichen Erscheinung und seines attraktiven Aussehens, war Müschen zweifellos ein Frauenschwarm, was er vortrefflich auszunutzen wusste.

Der dritte im Bunde war Wachtmeister Oskar Ahren und mit 42 Jahren der Älteste der drei Männer. Im Jahr 1828 als vierter Sohn einer betuchten Bauernfamilie unmittelbar vor den Toren Kölns in Weidenpesch geboren, hatte er keine Aussicht, den elterlichen Hof jemals zu erben. Er wurde daher 1846 mit achtzehn Jahren Soldat. Oskar Ahren begann seine Laufbahn zunächst beim Dragonerregiment Nr. 4, bevor er 1847 zu den Kürassieren versetzt wurde. Kampferfahrung sammelte er 1848 bei Straßenkämpfen während der Bürgerunruhen in Erfurt und ein Jahr später bei der Niederwerfung der Revolution in Baden. Kontinuierlich kletterte er die Unteroffiziersleiter nach oben, bis er schließlich 1865 zum Wachtmeister befördert wurde. In der Schlacht bei Königgrätz rettete er zusammen mit Müschen, ohne Rücksicht auf das eigene Leben, den schwer verwundeten von Buschhagen. Ahren wechselte im Kampfgetümmel von seinem Pferd auf das von Buschhagens, hinter den bereits im Sattel zusammengesunkenen Schwerverletzten, riss die Zügel an sich und ritt aus der Kampflinie, während Müschen mit seinem Pallasch* den Feind auf Distanz hielt und gleichzeitig Ahrens Pferd aus der Kampfzone brachte. Für diese kühne Tat erhielt er wie Müschen das „Eiserne Kreuz 2. Klasse“. Ahren war für die Versorgung der Kompanie zuständig. Seit Seconde-Lieutenant von Schnell wegen einer Schussverletzung ins Lazarett musste, wurde ihm kommissarisch das Kommando über den zweiten Zug übertragen.

Ahren war schlank und muskulös und nur unwesentlich kleiner als die beiden anderen. Sein fast rundes Gesicht wurde von einem dichten halbmondförmig geschnittenen Schnurrbart beherrscht. Seinen Kopf bedeckten kurze braune struppigen Haare, die zu zähmen ihm nie gelang. Die leicht gerötete Nase zeugte davon, dass er einem mäßigen Alkoholgenuss nicht abgeneigt war, und seine listigen Augen verrieten, dass ihm der Schalk im Nacken saß. Sein gutmütiges Aussehen konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ahren im Kampf weder Rücksicht auf sich noch auf seine Gegner nahm. Er war in Gefechten immer in vorderster Linie zu finden und galt daher im Regiment als „Haudegen“. Dass er bisher nie ernsthaft verwundet wurde, war darauf zurückzuführen, dass er in der Lage war, jede Situation sehr schnell erfassen und analysieren zu können.