Die Toten von Rottweil

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Kapitel 7

Fast hätte Jones ihn umarmt, als sie sich eben vorm »b2« getrennt hatten. Doch er hatte es rechtzeitig registriert und es verhindern können. So weit kam es noch! Er war immerhin ihr Vorgesetzter, nicht ihr Freund. Auch wenn sie einen zusammen getrunken hatten, änderte sich nichts daran. Das musste sie begreifen lernen.

Ein paar Straßen vom Bioladen entfernt blieb Zeller stehen, nahm sein Smartphone aus der Manteltasche und scrollte durch die Nummern des Adressbuches. Wenn er sich nicht täuschte, hatte er die von Edwin Stranger abgespeichert. Da war sie doch. Sauber unter »R« wie »Rotary« abgelegt. Er musste dringend sein Ablagesystem ändern. Die ewige Sucherei war anstrengend.

Der Hauptkommissar musste es nicht lange klingeln lassen, der Präsident des Rotary Clubs meldete sich schnell. Er hatte seinen Anruf erwartet und sich vorsorglich die nötigen Zahlen bereits von seinem Sekretär vorlegen lassen. Es waren nur 55 der 60 Mitglieder zu dem Vortrag erschienen. Dazu fünf Gäste. Er würde ihm die Namen mailen. Als Zeller ihn fragte, wie der Abend gewesen sei, meinte er nur lapidar: »Durchwachsen.« Einige Vorschläge und Ideen des Richters seien zwar gut gemeint gewesen, aber nicht durchsetzbar und abwegig. Sogar auf die Frage nach der Wiedereinführung der Todesstrafe habe er kein klares Statement dagegen abgegeben. Zeller solle sich das mal vorstellen. Ein Richter wie Schuhmacher, und dann so etwas. Er habe mehr von ihm erwartet.

Zeller gab sich damit nicht zufrieden und bohrte weiter. War da nichts anderes? Kein Eklat? Keine Streitereien?

Stranger zögerte kurz und meinte dann, dass Zeller es ja sowieso erfahren würde. Schließlich sei er bei der Kripo. Ja, es habe erheblichen Zoff gegeben. Ein unbekannter Mann habe Schuhmacher vorgeworfen, sein Richteramt zu missbrauchen. Grundsätzlich verhänge er die Höchststrafe. Außer bei einem einzigen Fall, als er »in dubio pro reo« entschieden habe. Kurz bevor er aus dem Saal geworfen wurde, habe der Mann dann noch gedroht, dass Schuhmacher ihm besser nie bei Nacht begegnen solle. »Den Mann hatte von meinen Leuten keiner eingeladen. Da bin ich mir absolut sicher«, erklärte Stranger.

Richter Schuhmacher habe verlegen reagiert, als der Unruhestifter endlich weg gewesen sei. Er habe gesagt, dass man es als Richter nicht einfach habe und manchmal sogar um sein Leben fürchten müsse. Prahlerisch habe er hinzugefügt, dass er sich zu wehren verstehe, es wäre nicht das erste Mal in seinem langen Leben als Gesetzeshüter, dass er bedroht würde, und immer habe er auf sämtliche Schutzmaßnahmen verzichtet.

Zeller dankte dem Rotary-Chef und hoffte, schon bald die Adressen der anwesenden Gäste von ihm zu bekommen. Stranger versprach es und legte auf.

Zellers heutiger Bedarf an kriminalistischer Arbeit war gedeckt. Er brauchte mehr Zeit, um nachzudenken, ohne jemanden an seiner Seite zu haben. Weder Elli Jones noch einen anderen seiner Kollegen. Auch schaltete er sein Smartphone ab. Er wollte keine Anrufe oder andere Ablenkungen seines Gedankenflusses. Scheinbar missmutig stapfte er mit tief in den Taschen seines Mantels vergrabenen Händen durch die Stadt. Den Kragen hatte er hochgeschlagen, obwohl die Temperaturen an diesem späten Mittag mild waren. Es war September und außer einem immer mal wieder böig auffrischenden Wind war es ein schöner Tag. Der Altweibersommer zeigte schon jetzt, dass er seinem Namen alle Ehre machen würde. Doch im Gegensatz zu den äußeren Umständen fröstelte es Zeller im Inneren. Ihm wurde einfach nicht warm. Die jüngsten Gewalttaten in seiner Stadt nahmen ihn mehr mit, als er es sich eingestehen wollte.

Plötzlich begann es zu nieseln und auf dem Bürgersteig bildeten sich kleine Pfützen, die ganz langsam vollliefen und sich zu größeren vereinigten. Zeller störte es nicht besonders. So ein Wetter hatte er ganz gern. Da konnte er sich selbst fühlen, wurde eins mit seiner Umwelt und der Natur und es waren nicht so viele Menschen auf den Straßen unterwegs. Noch lieber hatte er es, wenn ein richtig starker Wind um seine Nase pfiff, wenn er körperlich schwer dagegen ankämpfen musste und trotzdem kaum vorwärtskam. So ein Wind wie an der weiten französischen Atlantikküste. Dort war er aber nicht, sondern in Rottweil, rief er sich selbst ins Gedächtnis, mit einem großen Haufen Problemen am Hals. Deshalb würde er sich jetzt irgendwo unten im Stadtgraben auf eine Bank setzen und überlegen.

Eigentlich war sein erster Gedanke gewesen, ins Polizeirevier zu gehen und nach dem Stand der Ermittlungen zu fragen. Doch dafür war es noch zu früh und er würde kaum Neues erfahren. Was sollte er also dort? Sollten die mal in Ruhe ihre Arbeit erledigen. Dafür brauchten sie ihn nicht. Nachher hieß es wieder, dass er am liebsten alles selber mache und keinem vertraue. Das stimmte nicht und das wussten all diejenigen, mit denen er schon längere Zeit zusammenarbeitete. Aber er konnte ein Kontrollfreak sein, das gab er unumwunden zu, und wenn etwas nicht passte, und war es nur ein kleines Detail, dann hakte er bei den Kollegen nach. Immer wieder. Egal, wie es bei den anderen ankam.

Kurzfristig änderte er sein Vorhaben, machte kehrt und lief in die entgegengesetzte Richtung. Es war an der Zeit und längst überfällig. Lange hatte er sich davor gedrückt, doch jetzt musste es sein. Über einen seiner seltenen Besuche würde sich sein alter Herr sicherlich freuen. Vielleicht würde er ihn sogar erkennen. Gewiss war es jedoch nicht. An manchen Tagen schimmerte ein wenig Erinnerung durch die unüberwindbare Nebelwand in seinem Hirn. Zwar wurden diese lichten Momente immer weniger, aber man wusste nie, was in so einem Hirn letztendlich vor sich ging. Um dies herauszubekommen, musste er ihn sehen.

Bis zum Hospital war es nicht weit. Zeller würde nicht einmal 30 Minuten brauchen. Am Anfang schritt er kräftig aus und kam gut voran. Doch je näher er dem Rottenmünster und somit seinem Vater kam, desto langsamer wurde er. Tausende Ausreden fielen über ihn her, Tausende Entschuldigungen sausten durch seinen Kopf. Bei jedem Schritt rang er mit sich, ob er seinen Weg fortsetzen sollte oder lieber nicht.

Er besuchte ihn nicht gern, seinen alten Herrn, trat jedes Mal nur mit größter Mühe dem Mann gegenüber, der mal sein herrischer Vater gewesen war. Groß von Wuchs, egoistisch, unerbittlich und verbohrt. Es war ein Elend zu sehen, was aus ihm geworden war. Wie er nicht einmal mehr fähig war, Wörter zu zusammenhängenden Sätzen zu verbinden, und stattdessen in ein unverständliches Gebrabbel eines Kleinkindes verfiel. Allerdings ertappte Zeller sich dabei, und das gar nicht mal so selten, wie er bei sich dachte, dass es ihm recht geschehe, dem fürchterlichen Patriarchen. Dass es schade sei, dass er höchstwahrscheinlich nichts mehr von seinem eigenen Verfall mitbekam.

*

Als er das Hospital nach nicht mal 20 Minuten wieder verließ, war er verstört. Wieso hatte er nicht auf sein Innerstes gehört, sondern dieser törichten Blitzidee nachgegeben, von der er sich im Voraus hätte denken können, wie sie enden würde? Es war noch schlimmer gewesen als sonst. Er hatte das Zimmer seines Vaters fluchtartig verlassen müssen. Sein ohrenbetäubendes Geschrei war nicht zum Aushalten gewesen. Nichts hatte ihn zu beruhigen oder zu besänftigen vermocht. Es war furchtbar gewesen. Wie dieser Mann anschließend von zwei Pflegern fixiert wurde, hatte Zeller nicht mehr bis zum Ende mit anschauen wollen.

Der Kommissar spürte plötzlich, dass er hungrig war. Vor lauter Stress hatte er die Nahrungsaufnahme vollständig vergessen und musste schleunigst etwas zu sich nehmen. Egal wo. Es würde seine Laune wieder aufhellen. Nicht weit entfernt befand sich ein griechisches Restaurant. Vielleicht würde er dort sogar jemanden treffen, den er schon eine Zeit lang nicht mehr gesehen hatte.

Im Dionysos gab es genug freie Plätze um diese Uhrzeit, der Mittagsandrang war vorbei, die meisten Gäste hatten das Lokal bereits verlassen. Nur noch zwei junge Männer saßen an ihrem Gyros. Mit einem Kopfnicken begrüßte Zeller, nachdem er eingetreten war und sich die Regentropfen vom Mantel geschüttelt hatte, den Chef und setzte sich an den etwas abseits stehenden Zweimanntisch mit Blick auf den Innenhof. An diesem Tisch saß er meistens.

Möglicherweise war das Glück ihm heute hold und er würde kommen. Noch besser wäre es, wenn er nicht alleine käme, sondern in Begleitung seiner Frau. Da konnte er ihm nicht so schnell ausweichen wie sonst gerne, wenn er ihn gewollt zufällig traf. Egal, wo er sich gerade aufhielt, Zeller würde ihn finden. Dafür waren ihm die Vorlieben des Mannes zu bekannt. Und wenn er ihn hier nicht antraf, dann würde er als Nächstes seine Schritte in Richtung Stadtpark lenken oder in den Stadtgraben. Auch am Wasserturm hing er gerne ab und mit ihm eine ganze Menge ständig wechselnder jüngerer und älterer, stellenweise polizeibekannter Leute.

Allmählich wurde Zeller die Warterei zu lang. Er saß schon mehr als eine Stunde in dem Lokal und hatte zu den beiden vom Haus spendierten Ouzos noch zwei Gläser Rotwein getrunken. Warum noch warten? Wer wusste schon, ob er heute überhaupt kommen würde. Trotzdem, einen Versuch war es wert. Er gab sich weitere zehn Minuten. Die letzte Frist. Kurz bevor er sein Unterfangen aufgeben und bezahlen wollte, kam der lang ersehnte Gast, und er war nicht allein, genau wie Zeller es sich gewünscht hatte.

Seine Angetraute war bedeutend älter als er, auf den ersten Blick um mindestens zehn Jahre. Ihre wasserstoffblonden Haare und ihr knallroter Mund sollten dies kaschieren. Dazu trug sie heute einen karierten Minirock von verbotener Kürze, nicht nur für Frauen ihres Alters. Die weißen Beine staken wie Stelzen darunter hervor, die Knie wie seltsame, kugelartige Verdickungen an dünnen Stangen.

 

Der Kommissar kannte auch sie seit langer Zeit und musste bei ihrem Anblick lächeln. Michaela, in den einschlägigen Fachkreisen auch Michi oder Mausi genannt, musste zeitlebens einem inneren Drang gehorchen und als unwiderstehlicher Vamp durch die Straßen der ehemaligen Reichsstadt auf hohen Highheels über das Kopfsteinpflaster stöckeln, ohne sich dabei die Knöchel zu brechen. Anders ging es bei ihr nicht. So war sie schon immer gewesen. Zeller gab sich noch nicht zu erkennen, ließ die beiden zunächst an ihrem Tisch Platz nehmen und wartete ab, bis sie bestellt hatten. Dann erst erhob er sich und schlenderte zu ihnen hinüber, um sich unaufgefordert neben den Mann zu setzen.

»Ich hätte es mir denken können, dass Sie hier sind, Herr Kommissar. Aber ich weiß nichts! Weder von dem Toten auf dem Hofgerichtsstuhl noch von denen im Turm«, begann der in bekannter Manier auf Zeller einzureden, ohne dass der Kommissar ihm eine Frage gestellt hatte.

»Warum bist du so aufgeregt? Habe ich gesagt, dass ich etwas von dir wissen will, Rainer?«

»Sie sind nie ohne Grund hier. Das wissen Sie so gut wie ich. Wahrscheinlich werden wir bald das Stammlokal wechseln. Notgedrungen. Oder, Michi, was sagst du dazu? Dann sind wir den Kommissar los.«

Michi schwieg lieber.

»Ihr werdet mich nie los, das müsste euch eigentlich klar sein. Ist doch schön, wenn man so anhängliche Freunde im Leben hat wie mich. Da ist man nie allein. Oder? Also, Rainer, was willst du mir erzählen? Was drückt auf deinem kläglichen Rest von Gewissen? Komm, erleichtere dich. Ich bin ganz Ohr.« Zeller nutzte das Überraschungsmoment gnadenlos aus. Die Zeit, sich mit seiner Begleitung abzusprechen und eine Strategie festzulegen, gab er Rainer oder besser Fluppi, wie ihn die Szene nannte, nicht. Mit seinem Outfit erschien der Kerl wie aus einer anderen Zeit. Im Gesicht trug er bis zum Unterkiefer reichende geschwärzte Koteletten, die mit dem wuchtigen Schnauzer zusammenwuchsen und einen fließenden Übergang bildeten. Seine schmalen Lippen wurden von dieser Haarpracht eingerahmt. Rainers Kinn zierte ein dünner Zopf, der vernachlässigt wirkte und hin und her baumelte wie das Pendel einer alten Uhr. Seine Kleidung bestand aus einem bunten Hawaiihemd und einer beigen Schlaghose, die allerdings nicht mehr ganz sauber war.

So kannte Zeller ihn schon seit langer Zeit. Rainer blieb sich treu. Er hatte sein Outfit seit den 70ern nicht mehr groß verändert, wie er dem Kommissar einmal stolz erklärt hatte. Außer in den vielen Jahren, die er im Knast gesessen und notgedrungen etwas anderes hatte tragen müssen. Doch diese Phase schien vorbei. In der letzten Zeit war er erstaunlich stabil und es sah so aus, als ob er sein Geld auf ehrliche Art verdiente und nicht mehr durch das Verticken verschiedener Drogen. Vielleicht war es ja die fürsorgliche Überwachung durch Zeller, die Rainer von krummen Touren schon im Vorfeld abhielt. Nur Michi machte den Eindruck, als ob sie wieder anschaffen ging.

»Irgendetwas müsst ihr gehört haben. Es wird darüber gesprochen, da bin ich mir sicher.« Zeller brauchte nur in ihre Gesichter zu sehen. Die beiden wussten mehr, als sie ihn glauben machen wollten.

»Geredet wird doch immer, Herr Kommissar«, fing Rainer mit verlegenem Grinsen an und zeigte dabei seine schwarzen Stummel im Mund. »Aber nichts, was Sie als Polizist interessieren könnte. Es gibt Dummschwätzer aller Art. Die einen sagen das, die anderen jenes. Warum soll ich Sie damit langweilen?«

»Auch wenn du denkst, es ist nichts von Wert, sag es mir besser trotzdem. Ich kann schon alleine entscheiden, ob es wichtig ist oder nicht«, versetzte Zeller. Er hatte genug von den Spielchen.

Michaela räusperte sich. Der Kommissar nickte ihr aufmunternd zu. »Na, ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen soll. Man will doch schließlich niemanden belasten.«

»Trau dich ruhig«, ließ Zeller sich vernehmen.

»Ich habe was gehört«, begann sie noch einmal und senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, »der schöne Ede bekam Besuch. Wie schon öfter. Der ist Wachmann im Turm. Seit ein paar Wochen erst, nachdem er von seinem ehemaligen Chef in Neufra rausgeschmissen worden ist. Wahrscheinlich wegen irgendwelcher krummen Dinger, munkelt man. Wenn er Nachtschicht hat, ist immer was los. Auch Weiber sind dabei.«

»Was für Weiber? Geht’s vielleicht ein bisschen verständlicher? Ist es eine Beziehungskiste, hat er eine Geliebte?«

»Eine Geliebte?« Michaela prustete los. »Das erlaubt der sich nie und nimmer. Der ist doch nicht lebensmüde. Da würde ihn seine Babbs so richtig fertigmachen. Ritsch, ratsch, ab wäre sein Schwanz. Aber so was von … Ohne Babbs kann der nicht existieren. Sie ohne ihn schon.«

»Was ist es dann?«, fragte Zeller weiter.

»Die treffen sich seit Neustem regelmäßig im Turm. Es sind mehrere. Immer wieder sind andere dabei. Der Hirsch ist dort, der Rechtsanwalt, den kennen Sie doch auch. Der ist oft bei Gericht. Dann noch einer von der Stadtverwaltung und einer vom Landratsamt. So genau weiß ich das auch nicht. Ich bin doch keine 20 mehr.« Michaela lachte ihr dreckiges Lachen so lange, bis sie einen Hustenanfall bekam und nach Luft schnappte. Instinktiv griff sie nach ihrer Zigarettenschachtel. Doch ehe sie eine davon herauszog, besann sie sich und verstaute die Schachtel wieder in ihrem billigen Gucci-Handtaschenplagiat.

Die Kellnerin brachte das bestellte Essen. Der Kreta-Teller war für Michi bestimmt, während Rainer einen auf Vegetarier machte und nur einen Bauernsalat vorgesetzt bekam. Ungefragt stellte die Bedienung drei Ouzos auf den Tisch. Rainer schob einen davon in Zellers Richtung. Der lehnte ab und stand auf, nickte den beiden zu und verließ das Lokal. Er hatte fürs Erste genug gehört. Sie hatten ihm etwas gesagt, aber viel mehr verschwiegen, da war er sich sicher. Vielleicht wollten sie ihn nur auf eine falsche Fährte locken. Zuzutrauen war ihnen grundsätzlich alles, wenn es notwendig war. Hauptsache, die beiden kamen ungeschoren aus der Sache heraus. Er würde den Druck erhöhen müssen. Dann würde er schon sehen, was da noch im Verborgenen ruhte, dachte sich Zeller, während er seinen Hut mit beiden Händen zurechtrückte und in Richtung Innenstadt lief. Für den Anfang konnte er ganz zufrieden sein.

Kapitel 8

Zeller rief in seiner Dienststelle an und fragte nach dem aktuellen Stand. Es gab nichts Neues für ihn. Auch keinen vorläufigen Bericht aus der Rechtsmedizin. Die Leichen waren zwar mittlerweile in Tübingen angekommen, deren Obduktion dauerte jedoch noch an. Das brauchte seine Zeit. Drei Mordfälle auf einen Schlag hatte man hier nicht alle Tage.

Er bat um die Adresse von Wachmann Seidel und rief sich ein Taxi. Bis zu dessen Wohnung in der Oberndorfer Straße war es ein Stück und er wurde schließlich nicht fürs Wandern bezahlt, rechtfertigte er die Entscheidung vor sich selbst.

Nach kurzer Fahrt hielten sie vor der genannten Hausnummer. Seidel wohnte im dritten Stock eines Hauses aus den 50er-Jahren. Es sah sauber und gepflegt aus. Die Hauswände waren nicht beschmiert, die Abfalltonnen standen in einem Unterstand ohne herumliegende Papierreste oder Bananenschalen, ein paar Autos in den dafür vorgesehenen Parkbuchten. Keine Hinweise auf Vernachlässigung, auf Armut oder Kriminalität. Ein normales Haus, wie es in Rottweil Tausende andere gab. Wieso war er überhaupt davon ausgegangen, dass Seidel in prekären Verhältnissen lebte, fragte sich Zeller. Nur weil ihn seine Informanten mit Gaunereien in Verbindung brachten? Vorsicht, rief er sich zur Ordnung. Seidel hatte eine geregelte Arbeit, dazu Frau und Kinder.

Er klingelte an der Haustür. Eine weibliche Stimme meldete sich. Zeller stellte sich vor und bat um Einlass. Prompt öffnete sich die Tür. Das ging aber schnell, dachte der Kommissar, erkannte dann aber, dass das Öffnen der Tür nicht von der Dame an der Gegensprechanlage veranlasst worden war, sondern durch einen älteren Herrn, der gerade aus dem Haus trat und wohl zufällig mit angehört hatte, was durch die Anlage gesprochen worden war.

»Na, endlich kommt mal einer von der Polizei in diese abgelegene Gegend. Lange genug hat es gedauert. Es ist doch nicht mehr auszuhalten mit denen da oben!«, redete er sogleich Klartext mit Zeller.

»Wen meinen Sie mit ›denen da oben‹? Die Landesregierung oder die des Bundes?«, gab der ironisch zurück.

»Quatsch! Na, die Seidels im Dritten natürlich. Mit der Frau haben Sie doch gerade gesprochen? Da ist immerzu Krach und Streiterei und Remmidemmi zwischen den beiden. Dazu noch die Kinder. Dabei ist die Frau ja noch ganz nett. Barbara grüßt freundlich und ist schön anzusehen. Immer gepflegt und ordentlich gekleidet. Die hätte Besseres verdient als diesen Kerl. Der hat ein Problem. Schreit beim kleinsten Anlass wie wild durch die Gegend. Doch von mir haben Sie das nicht. Ich möchte keinen Ärger mit ihm haben.«

Ehe Zeller weiter nachfragen konnte, war der Mann in sein Auto gestiegen und davongefahren. Der Kommissar nahm immer zwei Stufen auf einmal und freute sich, dass er dabei nicht außer Atem kam. Dafür reichte seine Fitness also offenbar noch aus. Vielleicht sollte er trotzdem mal wieder zum Training gehen. Für die Seniorenmannschaft seines Rottweiler Rugbyvereins fühlte er sich allerdings viel zu jung.

Im obersten Stock angekommen, klingelte er an der Eingangstür unter einem von Kinderhand gemalten Namensschildchen. Eine Frau öffnete ihm. Er zeigte ihr seinen Dienstausweis. Sie stellte sich als Barbara Seidel vor und erklärte ihm, dass er ungelegen käme. Ihr Mann habe sich gleich nach der Arbeit hingelegt, eventuell solle der Herr Kommissar später wiederkommen. Es sei eine fürchterliche Nacht gewesen, habe Eduard zu ihr gesagt, ohne es weiter zu erklären. Anders als sonst. Jetzt könne man ihn unmöglich stören, außer, es sei etwas lebensbedrohlich Wichtiges.

»Frau Seidel, lassen Sie Ihren Mann ruhig schlafen. Ich würde Sie gern etwas fragen. Am besten gleich. Kann ich vielleicht reinkommen? Oder wir laufen ein paar Schritte nach draußen?«

Sie überlegte, blieb aber bei der Aussage, dass es in diesem Augenblick unmöglich sei. Die Kinder bräuchten ihr Mittagessen. Aber in zwei Stunden könne sie nach unten kommen, wenn es unbedingt sein müsse. Hauptsache, sie oder ihr Mann bekämen keine Schwierigkeiten.

Sie verabredeten sich auf dem nahen Spielplatz. Zeller wusste, wo er sich befand. Er war mit dem Taxi daran vorbeigefahren.

Frau Seidel hielt Wort und kam mit zwei Kindern im Schlepptau zum vereinbarten Treffpunkt. Noch war hier zum Glück nicht viel los, nur wenige Mütter und Väter mit ihren Sprösslingen waren zu sehen. Der Lärmpegel kam Zeller entgegen. Die Tochter der Seidels, sie mochte um die fünf sein, lief sogleich hinüber zum Sandkasten und begann mit roten, gelben und blauen Kunststoffformen Sandkuchen zu backen, die sie ständig der Mutter und dem Kommissar zum Probieren brachte. Das andere Kind, ein etwa siebenjähriger Junge, turnte mit zwei weiteren Kindern geschickt im Klettergerüst herum.

»Herr Kommissar, was hat mein Mann schon wieder ausgefressen, dass Sie nicht mit ihm selbst sprechen können? Hängt es mit dem zusammen, was heute im Turm passiert ist?«

»Was wissen Sie darüber?«, fragte Zeller prompt zurück. Vorhin hatte sie doch behauptet, dass ihr Mann so müde gewesen sei und sich sofort habe hinlegen müssen. Vielleicht hatte er ihr mehr erzählt, als sie ihn glauben ließ.

Es stellte sich heraus, dass sie keine Ahnung davon hatte, was geschehen war. Ihr Mann hatte nur angedeutet, dass der Turm für den Besucherverkehr gesperrt worden war und dies über das gesamte Wochenende. Es habe einen Unfall auf der Besucherplattform gegeben. Zeller ließ sie reden. Wortlos hörte er ihr zu und betrachtete sie dabei. Die Frau sprach unaufgeregt und gewählt. Ganz anders als ihr Mann. Er stellte sich vor, dass sie gut Lehrerin sein konnte oder Erzieherin. Den Umgang mit ihren Kindern meisterte sie souverän. Das gefiel ihm.

Allerdings ging es der Frau augenscheinlich nicht besonders gut. Sie sah erschöpft aus und blickte Zeller mit einem traurigen, resignierten Blick an. Sie hatte es offenbar nicht leicht. Zeller glaubte zu wissen, warum, er hatte Frauen wie sie schon oft zu Gesicht bekommen. Meistens wurden sie allein gelassen mit der Erziehung ihrer Kinder, während sich die Erzeuger entweder aus dem Staub gemacht hatten oder in Arbeit, Alkohol oder in andere Affären flüchteten. Diese Männer waren zumeist überfordert von den eigenen Ansprüchen und der unbarmherzigen Realität um sie herum. Zellers Mitgefühl ihnen gegenüber hielt sich in Grenzen.

»Wieso musste Ihr Mann seine besser bezahlte Arbeitsstelle vor ein paar Monaten verlassen?«, brach er das aufkommende Schweigen.

 

»Man hatte ihm gekündigt. Er wollte dort nicht von sich aus weg.«

»Warum ist er entlassen worden?«

»Er hat selten von der Arbeit erzählt. Seiner Aussage nach hatte man sich für einen anderen, billigeren Wachdienst entschieden. Da wurde er nicht mehr gebraucht. Man hat ihn abserviert und ihm einige Dinge vorgeworfen, die nicht stimmten. Ich glaube ihm. Eduard ist ein ehrlicher Mensch. Lügen ist nicht seine Sache.«

»Warum hat er sich keinen Anwalt genommen?«

»Dafür war er zu feige. Er hatte Angst, danach keinen neuen Job mehr zu finden.«

»Wenig später wurde er im Testturm angestellt. Nicht schlecht für Sie. Oder?«

»Wie man es nimmt. Er verdient dort weniger. Wir haben getrennte Konten, ist besser so. Er kann nicht mit Geld umgehen. In der Regel zahlt er einen festen Betrag auf mein Konto ein. Der ist gleich geblieben, es geht nicht anders. Aber er jammert darüber. Eduard kommt mit dem Wenigen schlechter aus als wir. Er ist leider mehr zu Hause, so komisch das klingt. Das ist nicht immer gut für uns. Wenn er von der Nachtschicht zurückkommt, dürfen wir nur auf Zehenspitzen durch die Wohnung schleichen, und wehe die Kinder sind einmal zu laut. Dann kommt es gleich wieder zu einer Streiterei. Aber es sind doch Kinder! Die kann man nicht immer für alles verantwortlich machen.« Die Züge der Frau wurden hart.

»Spielt Ihr Mann?«, fragte Zeller weiter.

Sie überlegte. Die Antwort schien ihr nicht leichtzufallen. »Ich weiß es nicht. Früher hatte er Probleme mit dem Spielen, mit Alkohol und Amphetaminen. Er war in einer illegalen Pokerrunde. Dazu drückte er sich oft in den Muckibuden herum, war Teil eines speziellen Freundeskreises. Erst Hanteln stemmen, dann in die Sauna und später noch ein wenig mit den Kerlen abhängen und saufen. Als wir uns kennenlernten, hat er mir davon erzählt. Er hat sich geändert. In die Muckibude geht er nur noch selten. Ist auch nicht billig da. Schon deshalb bin ich froh darüber.«

Zeller war unzufrieden. Ihre Aussage passte nicht zu denen der Turmmanagerin und seiner anderen Informanten. Warum sollten Rainer und Michi lügen? Da musste etwas am Laufen sein, wovon Frau Seidel nicht die geringste Ahnung hatte. Und wofür sich eine langweilige Nachtwache besonders gut eignete. Viel gab es nicht, was dafür infrage kam.

»War Ihr Mann in letzter Zeit verändert? Aufgeregter als sonst? Verunsichert? Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?«

Wieder dachte sie über seine Frage nach. »Eigentlich war alles beim Alten. Eduard ist immer gereizt, bei der kleinsten Gelegenheit geht er hoch. Besonders seit der Geburt unserer Tochter. Er war nur am Anfang seines Jobwechsels anders. Da war er ausgeglichen und lieb. Hin und wieder brachte er den Kindern etwas mit. Er hat mich sogar ausgeführt, in die Villa Duttenhofer. Ich hatte gehofft, dass alles gut werden würde. Leider hielt dieser Zustand nicht lange an. Nach ein paar Wochen war alles wieder beim Alten. Manchmal schlimmer als vorher und kaum auszuhalten. Schade.«

»Hat Ihr Mann eine Geliebte?«

»Wie kommen Sie darauf? Das soll er sich getrauen! Dann fliegt er achtkantig zu Hause raus, der schöne Ede. Das würde ich ihm nie verzeihen.«

Genauso hatte es kurz zuvor Michi behauptet, erinnerte sich Zeller. Sie hatte also recht gehabt.

Barbara Seidel schaute auf die Uhr und rief nach ihren Kindern. Zeller war klar, dass er heute nichts mehr von ihr erfahren würde. Er dankte ihr für das offene Gespräch und gab ihr sein Kärtchen. Sie versprach, ihn anzurufen, wenn ihr etwas einfallen würde. Aber er solle sich nicht allzu große Hoffnungen machen. Vielleicht würde sich bald alles ändern, sagte sie beim Abschied zu ihm und ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen.

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