Die Toten von Rottweil

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Kapitel 5

»Haben Sie die Namen aller Teilnehmer? War die gestrige Veranstaltung gut besucht?«, fragte Zeller seine neue Kollegin, kaum hatte er sie im Foyer des Turms wieder angetroffen.

»Es gibt keine Liste der anwesenden Zuhörer. Die Karten wurden nicht online angeboten, sondern von den Veranstaltern ausgegeben. Es war eine Gemeinschaftsveranstaltung des Rotary und des Lions Clubs. Einmal im Jahr findet ein Abend zu einem bestimmten Thema mit einem geladenen Referenten statt. Als Ansprechpartner fungierte der Präsident des Rotary Clubs, ein gewisser Herr Stranger. Über ihn lief alles zusammen. Der Club buchte den Referenten und übernahm die Kosten. Was der Richter für den Vortrag ausgezahlt bekam, weiß ich nicht. Meistens spenden die Referenten den Betrag an eines der Hilfsprojekte ihrer jeweiligen Organisation. Es ist nicht billig, das große Konferenzzimmer im Turm zu mieten. Da legen Sie für vier Stunden schon ein paar Tausend Euro hin. Dazu noch Getränke, Fingerfood und ein kleiner Snack als Bewirtung – man hat sich nicht lumpen lassen. Gleichfalls gab es einen Spendenaufruf an die Gäste für ein Projekt in Südamerika. Das ist bei derartigen Veranstaltungen gang und gäbe. Rotary unterstützt soziale Hilfsprojekte in der ganzen Welt, da wird immer Geld benötigt.«

Zeller hegte schon die Befürchtung, dass Jones mit ihrem Monolog nie zum Ende kommen würde. Als sie eine kurze Pause einlegte, um Luft zu holen, nutzte er den Moment und sagte: »Haben Sie den Präsidenten vom Rotary kontaktiert? Ich kenne ihn persönlich. Er ist ein guter Mann.«

Elli schüttelte den Kopf. »Leider habe ich ihn nicht erreicht. Dafür den vom Lions Club, einen Herrn Brauer. Aus seinem Verein sind insgesamt 35 Leute gekommen. 40 waren ursprünglich angemeldet, also konnten noch fünf Personen aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis mitgebracht werden. Die Beschaffung dieser Namen wird etwas Zeit in Anspruch nehmen. Brauer hat versprochen, sich darum zu kümmern.«

»Gut gemacht, Jones. Danke.«

Die junge Kollegin reagierte verlegen auf das unerwartete Lob. Ein Hauch von Röte überzog ihr Gesicht.

Zeller sah ihrer beider Anwesenheit im Turm vorerst als nicht mehr notwendig an. Sie könnten nun verschwinden, beschied er Elli und strebte gemeinsam mit ihr dem Haupteingang zu.

Beim Verlassen des Gebäudes sahen sie sich einer größeren Menschenmenge gegenüber. Die Anzahl überraschte selbst Zeller. Waren Sie alle hierher nach Rottweil gekommen, um von der höchsten Besucherplattform Deutschlands in über 200 Metern einen wunderbaren Blick auf die Alb und das Umland zu riskieren? Dass sie aus Sensationslust wegen des Mordes an den beiden Frauen erschienen waren, bezweifelte er. So rasend schnell konnte sich das kaum in der Stadt herumgesprochen haben. Dafür hätte schon das Schwarze Tor einstürzen müssen. Wahrscheinlich hatte man seitens des Turmbetreibers noch nichts unternommen, potenzielle Besucher über die zeitweise Schließung zu informieren. Jetzt standen sie vor dem Gebäude und warteten. Sicherlich fragten sie sich, was der Rettungswagen bedeutete und warum die Einsatzwagen der Polizei vor dem Eingang standen. Die Leute brauchten eine Erklärung.

Zeller spürte die wachsende Unruhe. Er kehrte zurück in den Turm und ließ die Turmmanagerin rufen. »Sie müssen schleunigst den Leuten da draußen Bescheid geben«, forderte er sie auf. »Die stehen da und warten auf Einlass. Hier kommt an diesem Wochenende aber niemand mehr rein. Das wird Ihnen hoffentlich klar sein.« Frau Schatz würde auf der Stelle handeln müssen. Das war schließlich ihr Job. »Haben Sie etwas auf Ihrer Homepage vermerkt?«, setzte er nach. »Noch nicht? Dann machen Sie es bitte rasch. Wenn das so weitergeht, stehen da draußen in ein paar Stunden einige Hundert Menschen. Da kann es zu Problemen kommen. Geben Sie auch eine Mitteilung ans örtliche Radio, damit erreichen Sie ebenfalls viele Leute. Kommendes Wochenende sieht es wieder anders aus. Da bin ich mir sicher.«

Frau Schatz wandte sich gerade zum Gehen, als Zeller sie nach einem weniger belagerten Ausgang fragte. Sie führte die beiden zum seitlichen Mitarbeitereingang und ließ sie hinaus.

»Hier soll das Auto vom Richter gestanden haben. Ganz schön clever. Da denkt man doch, es gehört einem, der hier arbeitet«, meinte der Hauptkommissar zu seiner Kollegin.

Sie kamen ohne große Schwierigkeiten an ihren Dienstwagen und fuhren zurück in die Stadt. Zeller rief im Büro an und fragte nach der privaten Adresse von Schuhmacher. Sie war nicht weit weg von hier, zentral gelegen, unterhalb der Königsstraße. Als sie dort eintrafen, sahen sie bereits zwei Autos der K8 vor dem Haus parken. Die sind wirklich auf Zack, dachte sich Zeller, da wird nichts auf die lange Bank geschoben. Ulli Brenner hatte ihre Truppe gut im Griff.

Kaum waren sie an der Wohnungstür angelangt, flogen ihnen zwei weiße Overalls entgegen. Zum dritten Mal an diesem Tag quälten sie sich hinein.

»Ich fasse es nicht, Paul. Schon wieder du. Anscheinend verfolgst du mich«, begrüßte ihn Ulli scherzhaft. Natürlich hatte sie ihn längst erwartet.

Zeller lachte. »Das hättest du wohl gern. Aber leider muss ich dich enttäuschen, du bist nicht der Grund, warum ich hier bin.« Er sah sich um. »Auf den ersten Blick eine ganz normale Wohnung. Ich hätte eigentlich erwartet, dass Schuhmacher anders gelebt hat. Wesentlich mondäner, mit einem alten, aus dunklem Mahagoniholz und bequemen Sesseln bestehenden Herrenzimmer, wo er abends gerne eine Zigarre rauchte und ein Glas Whisky dazu trank. Der Richter bekleidete seinen Posten schließlich schon seit etlichen Jahren. Ob er hier illustre Gäste empfangen hat? Kann ich mir nicht vorstellen. Na, immerhin verfügt die Wohnung über einen Balkon.«

»Wusstest du nicht, dass er geschieden war? Wie es heißt, hat er dabei sein Haus in Zimmern ob Rottweil und nicht gerade wenig Geld verloren. Seine ehemalige Angetraute hat ihn ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Sie lebt jetzt auf Gran Canaria und lässt es sich gut gehen. Das hat ihn total aus der Bahn geworfen. Noch dazu musste er seine zwei Kinder unterstützen, die beide studieren.« Ulli kannte sich blendend aus. Immer wenn Zeller Hintergrundinformationen zu stadtbekannten Leuten benötigte, fragte er zuerst die Leiterin der Kriminaltechnik. Erst wenn sie nichts wusste, und das war äußerst selten der Fall, versuchte er, andere Quellen anzuzapfen.

»Sucht nach Fremdspuren. Vielleicht war der Richter gestern Abend nicht allein. Sein Auto jedenfalls hatte er am Turm stehen gelassen. Außerdem hatte es einen handfesten Streit bei seinem Vortrag gegeben. Von hier aus ist es nicht sonderlich weit bis zum Hofgerichtsstuhl, wo man ihn gefunden hat. Die Strecke könnte ein Mann alleine schaffen, ohne für den Transport der Leiche ein Auto nehmen zu müssen«, überlegte Zeller laut.

»Es ist immer wieder schön, wenn du uns sagst, wie wir unsere Arbeit zu machen haben. Was würden wir nur ohne dich anstellen, Paul«, parierte Ulli die Gedankenspiele des Kommissars.

»Ich meine ja nur«, knurrte der zurück und es war nicht zu übersehen, dass er der Frotzelei überdrüssig wurde. Er schaute noch etwas unschlüssig in der Wohnung umher und sagte dann zu Elli Jones: »Kommen Sie, wir gehen woanders hin. Hier sind wir unerwünscht. Der Tag war bisher schon hart genug, da wird uns eine kleine Pause guttun.«

Sie spazierten von der Wohnung des Richters aus zuerst auf die Königsstraße. Zeller hatte die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben. Den schwarzen Borsalino aus Biberhaar hatte er tief ins Gesicht gezogen. Unmittelbar nach dem Café »Herz« blieb er ohne Ankündigung stehen und überquerte die Straße. Ein entgegenkommendes Auto musste abrupt bremsen. Der Fahrer zeigte dem Kommissar den Vogel und schimpfte wie ein Rohrspatz in seinem Fahrzeug. Zeller winkte ab und lief rasch weiter, so schnell, dass Jones Probleme bekam, mit ihm Schritt zu halten. Kaum auf der anderen Seite angelangt, sah die junge Polizistin das Park-Hotel, offenbar der Grund für die gefährliche Straßenüberquerung ihres Kollegen.

Zeller stürmte in das Gebäude und direkt zur Rezeption. Jones folgte ihm.

»Sind alle Ihre Gäste noch im Haus oder haben heute schon welche ausgecheckt?«, fragte der Kommissar, ohne sich lange mit Begrüßungsfloskeln aufzuhalten.

»Wer will das wissen?«, erkundigte sich die schwarzhaarige Frau hinter der niedrigen Theke anstelle einer Antwort. Auf einem weißen Schildchen am Revers ihrer roten Jacke stand »Martina Donatu«.

Zeller zeigte ihr seinen Ausweis und stellte sich vor.

Die Frau schaute in ihren PC. »Nein. Sie haben anscheinend Glück, es sind alle noch da. Ein Pärchen will morgen abreisen, zwei einzelne Herren bleiben bis Mittwoch. Sie sind zu dieser Zeit unterwegs. Keiner von ihnen ist im Augenblick im Hotel. Hier, sehen Sie, alle Gäste haben Ihre Schlüssel bei mir hinterlegt.« Sie zeigte mit einer ausholenden Geste zum Schlüsselregal hinter sich. Tatsächlich waren alle Fächer komplett belegt.

»Wer bewohnt die Zimmer mit den Fenstern zur Straße hinaus?«

Frau Donatu überlegte. »Lassen Sie mich kurz nachschauen. Ach, den Herrn hier hatte ich ganz vergessen. Er kam gestern spätabends unangemeldet an und bestand darauf, dass ich ihm noch ein Zimmer zuweise. Es gibt viele Hotels in Rottweil, da musste es doch nicht unbedingt meines sein, oder was sagen Sie? Er hat mich richtig in Stress versetzt und ich musste einiges umplanen. Dazu bezahlte er die Übernachtung im Voraus, also durfte ich ihm auch noch eine Rechnung ausstellen. Anschließend nahm er den Schlüssel entgegen, stellte seine Tasche ab und verschwand wieder. Einfach so.«

»Was ist ›spätabends‹ bei Ihnen?«

»Nach 19 Uhr.«

»Wissen Sie, wohin der Mann wollte?«, fragte Zeller gespannt.

 

»Er ist gleich zum Testturm gefahren. Da gab es wohl einen Vortrag oder so was Ähnliches. Warum fragen Sie, Herr Kommissar?«

»Haben Sie sein Auto gesehen?«

»Nur kurz. Es war ein SUV oder ein Kleinbus. Ich kenne mich da nicht aus. Die Farbe war jedenfalls dunkel«, antwortete die Rezeptionistin.

»Kann ich den Herrn sprechen?«

Das sei leider nicht mehr möglich, erklärte sie nach einem Blick in ihren PC. Der Gast sei in den frühen Morgenstunden abgereist.

Als Zeller wissen wollte, wann er denn nach dem Vortrag ins Hotel zurückgekehrt sei, konnte sie ihm keine Auskunft geben. Sie selbst habe ihn nicht mehr angetroffen und der Nachtportier, der ihm sicherlich weiterhelfen könne, erscheine erst heute gegen 22 Uhr wieder zum Dienst. Da könne Zeller gerne noch einmal wiederkommen und ihn selbst fragen.

Der Kommissar verlangte die Daten des Gastes. Umständlich schrieb die Rezeptionistin diese auf einen Zettel und versprach, sich bei ihm zu melden, sobald die anderen Herrschaften von ihren Ausflügen zurückkehren würden. Zellers Karte steckte sie sich dafür extra auf die Tastatur ihres PC.

Die beiden Kriminalbeamten verließen das Hotel. Zeller betrachtete den gerade mal 25 Meter entfernt liegenden Tatort von heute Morgen. Rechts daneben das Postamt, davor eine Bushaltestelle ohne einen wartenden Menschen. Am großräumig abgesperrten Ort des Verbrechens arbeiteten immer noch die Techniker aus Ullis Team. Mittlerweile dehnten sie die Suche auf die angrenzende Wiese aus, bis hin zur Post. Zwei andere überprüften die Parkplätze und den Bürgersteig der danebenliegenden Querstraße.

Zeller widerstand der Versuchung, zu den Kollegen hinüberzugehen und nach den bisherigen Ergebnissen zu fragen. Seine Neugierde kam nicht immer gut an. Manchmal wirkte es so, als ob er ungeduldig sei oder, schlimmer noch, die Techniker bei ihrer Arbeit kontrollieren wolle. Stattdessen fragte er Jones, ob sie Lust hätte, einen Kaffee mit ihm zu trinken.

Sie willigte ein. Dieser Tag war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Da war ein Kaffee genau das Richtige.

Nach ein paar Metern wechselten sie beim Kreisverkehr in die Stadionstraße und liefen weiter geradeaus, bis Zeller plötzlich scharf links in einen Hof einbog und direkt in den Bioladen »b2« stapfte. Im dortigen Bistro angekommen, bestellte er sich bei der Verkäuferin mit den knallroten Haaren einen doppelten Espresso.

»Wie immer, Herr Kriminalhauptkommissar?«, fragte sie und lächelte ihn freundlich an. Zeller nickte. Sie stellte den Espresso auf ein Tablett und zwei große Gläser mit Wasser dazu. Seine Kollegin bestellte lieber einen Latte macchiato.

Die beiden Kommissare setzten sich an den einzigen freien Tisch. Durch das gegenüberliegende Fenster sahen sie hinaus auf den Hof. Es herrschte ein geschäftiges Treiben an diesem Tag, ein ständiges Kommen und Gehen. Immer wieder trafen Lieferfahrzeuge ein, luden volle Kisten, Körbe und Pakete ab oder leere Behälter auf und fuhren weg. Unter dem überraschten Blick von Elli Jones holte Zeller einen Flachmann aus der Innentasche seines Mantels und goss sich einen gehörigen Schluck in die Espressotasse.

Ungefragt streckte sie ihm auch ihre Kaffeetasse entgegen. »Genau das brauche ich jetzt, Herr Kriminalhauptkommissar.«

Er zögerte kurz, ehe er den Schnaps in ihre Tasse goss. »Wird uns beiden guttun nach diesem verrückten Tag. Prost«, sagte er dann. Mit einem einzigen Schluck trank er die schwarze, hochprozentige Kaffeemischung aus. Akribisch schälte er danach das beiliegende Keks aus der Verpackung und schob es sich zwischen die Zähne. Genüsslich zermalmte er das harte Gebäck. »Kennen Sie den Bioladen? Ja? Haben Sie schon mal hier gegessen? Nein? Das müssen Sie unbedingt nachholen. Die französischen Linsen aus der Auvergne sind ein Traum. Oder der Rotbarsch im Salzmantel, dazu ein Gemüseragout aus Auberginen, Tomaten und Sellerie. Alles frisch zubereitet. Ich liebe es.« Für Zellers Verhältnisse war das ein ungewohnter euphorischer Ausbruch gewesen. So was hörte man selten von ihm. Er ließ es auf sein Gegenüber wirken. Jones sollte sich den Moment einprägen, allzu oft würde sie ihn nicht erleben. Erst nach einer Weile sprach er weiter und fragte: »Wieso wollten Sie eigentlich unbedingt nach Rottweil? Sie hätten es sich aussuchen können. Bei Ihren Noten und der super Beurteilung hätte jede Dienststelle Sie mit Handkuss genommen. Leute wie Sie sind gefragt. Nur kann ich mir nicht vorstellen, wie man zu so einer großartigen Benotung kommt. Ist Ihr Vater Innenminister oder irgendein anderes hohes Tier? Sagen Sie mir, was Sie dafür getan haben.« Er grinste unverschämt.

»Mit dem Chef geschlafen natürlich, was sonst?«, gab sie zurück und sah ihn mit großen Augen an.

»Hören Sie auf, Jones. Mit dem alten Griesgram Kopella ins Bett? Ich habe viel Fantasie, aber da hört sie auf.« Er winkte der Bedienung, bestellte sich einen weiteren Espresso und seiner Kollegin eine Latte gleich mit. Ihre Antwort gefiel ihm. Die Frau war gar nicht so übel.

»Natürlich habe ich nichts mit Kopella gehabt, mit ihm nicht und auch mit keinem anderen.«

»So genau wollte ich es gar nicht wissen«, entgegnete Zeller und grinste wieder.

Sie bekam einen roten Kopf und war um Festigkeit in ihrer Stimme bemüht: »Was denken Sie denn von mir! Ich habe mich angestrengt. Es ist mein Traumberuf! Ich will was bewegen. Ich möchte dazu beitragen, dass sich jeder in unserem Land sicher fühlen kann, dass das Verbrechen keine Chance hat. Ich möchte mithelfen, dass es weniger Kriminalität in unserem Lande gibt.« Sie trank einen Schluck von ihrer zweiten Latte macchiato, die die Bedienung eben vor ihr abgestellt hatte. Langsam normalisierte sich ihre Gesichtsfarbe wieder.

»So kriminell ist es bei uns gar nicht. Zum Glück, und wir machen einiges dafür, damit es so bleibt. Unsere Zahlen sind gut. Also, warum Rottweil? In einer Großstadt wäre mehr los als hier. Bis heute Morgen war das jedenfalls noch so. Mit den aktuellen Mordfällen können wir es allerdings mit jeder Metropole aufnehmen. Bitte verraten Sie mir, warum Ihre Wahl nicht auf Stuttgart gefallen ist, wo alle guten Abgänger hinwollen, oder meinetwegen auf Heidelberg. Meines Wissens suchen die dort dringend jemanden.«

»Ich komme von Stuttgart. Dort habe ich meine dreijährige Ausbildung absolviert. Es musste aber unbedingt Rottweil sein. Ich wollte zu Ihnen.«

»Zu mir?« Er schaute sie erstaunt an. Das war mal etwas ganz Neues, dass jemand seinetwegen in die Stadt kam. Die meisten wollten wegen ihm so schnell es ging wieder weg.

»Genau. Sie haben einen wirklich guten Ruf. Da habe ich mir gedacht, wenn es irgendwie geht, will ich zum Zeller. Der kann mir was beibringen, bei dem lerne ich wirklich etwas. Wie Sie den Fall mit den Dutzenden Mafiosi gelöst haben – echt toll. So will ich werden.«

Zeller musste bei diesen Worten grinsen. Da hatte er ja gleich am Anfang viel dafür getan, um ihre schönen Vorstellungen von ihm zu zerstören. Als ob er ein Vorbild sein könnte! Sein Heiligenschein dürfte in ihren Augen dahin sein. Und das war gut so. Womöglich ohrfeigte sie sich schon jetzt im Stillen für ihre fixe Idee und überlegte panisch, wie sie aus dieser Nummer wieder rauskam, ohne einen negativen Eintrag in ihre Personalakte verpasst zu bekommen. Ihr polizeiliches Idol war ein Säufer. Das hatte ihr bisher niemand gesteckt. Alle hatten dichtgehalten und ihn nicht verraten.

Als eine Art Wiedergutmachung bot er ihr das Du an. Sie freute sich sichtlich darüber. Ihm erschien es schlicht unkomplizierter im Umgang miteinander. Zeller schmunzelte und goss sich einen Schluck aus seinem Flachmann in die leere Tasse. Genau wie in ihre.

Kapitel 6

Am Tisch hinter den beiden Kriminalbeamten saß scheinbar ein vollkommen in seine Zeitung versunkener junger Mann. Nichts in der Welt vermochte ihn von seiner Lektüre abzulenken. Es musste ein spannender Bericht sein, den er da las. Er wandte selbst dann nicht den Blick ab, als er sein Croissant nach französischer Art in einen großen Pott mit dampfendem Kaffee tunkte. Genussvoll und genau zum richtigen Zeitpunkt steckte er sich das aufgeweichte Plunderteiggebäck in den Mund. Nicht zu früh und nicht zu spät. Hätte er einen Augenblick länger gewartet, wäre es als teigige Masse im Kaffeepott versunken.

Mike Färber war stolz auf seine französische Vergangenheit. Er hatte seine gesamte Jugend unweit von Paris verbracht, war in der Hauptstadt zur Schule gegangen und hatte später sogar ein paar Semester Philosophie an der Sorbonne studiert. Das war eine tolle Zeit gewesen, intensiv und aufregend. Doch was gewesen war, war vorbei und allenfalls noch als nostalgischer Erinnerungskram etwas wert. Es war nicht alles schön gewesen und er war inzwischen froh, damals das Weite gesucht und in Deutschland eine neue Heimat gefunden zu haben. Aber immerhin hatte er in Frankreich gelernt, wie man richtig frühstückte. Er trank einen Schluck Kaffee und wischte sich mit dem Handrücken den Mund sauber.

Wieso sprachen die beiden so leise? Kommissar Zeller war sonst kein Mann der leisen Töne. Er sagte deutlich, was er wollte. Nicht immer gewählt formuliert, aber so, wie es sein sollte – klar, schonungslos und ehrlich. Bei ihm gab es kein großes Drumherumgerede, kein Wischiwaschi wie bei den anderen, die sich oft scheuten, Stellung zu beziehen. Er machte unmissverständliche Ansagen. Jedenfalls meistens.

Mike Färber saß nicht zufällig auf dieser Bank im Bistro des Rottweiler Bioladens. Die Zeitung interessierte ihn keineswegs. Sie diente nur der Tarnung, genau wie die Zelebrierung eines französischen Frühstücks. Ihn interessierte an diesem Samstagnachmittag nur, was der Kriminalhauptkommissar und seine ganz passable Begleitung zu besprechen hatten. Den Zeller kannte er gut, nicht persönlich zwar, aber von einigen Besuchen im Gericht und aus der Zeitung. Der Hauptkommissar stand öfter Rede und Antwort bei Prozessen, was er stets souverän und unaufgeregt meisterte. Färber hatte noch nie eine Situation erlebt, in der er aus der Ruhe gebrachte worden wäre. Zeller aufs Kreuz zu legen, wie es manche Verteidiger versuchten, war ein erfolgloses Unterfangen.

Färber wollte näher ran an den Kommissar, ihn am besten als Informanten gewinnen. Vor einiger Zeit hatte er ihn deshalb um ein Interview gebeten. Ganz groß hätte er ihn im Radio herausgebracht, zur gefragtesten Sendezeit. Er hatte sich intensiv darauf vorbereitet und einige schöne Ideen entwickelt. Sein Konzept war genial gewesen.

Doch es war anders gekommen. Zeller hatte ihm einen Korb gegeben. Kurz und knapp. Als ob er als Chefredakteur beim Radio Antenne 1 Neckarburg Rock & Pop in Rottweil überhaupt nichts zu melden hätte. Färber war beleidigt gewesen und hatte dies Zellers Vorgesetztem, Polizeirat Bausinger, gesagt. Der hatte nur mit den Schultern gezuckt und ihm erklärt, dass der Kommissar nun mal so sei. Da könne man nichts machen, weder er als sein Chef noch Färber als Starreporter. Er solle sich doch einen anderen bewährten Polizisten oder noch besser eine Polizistin suchen. Zeller sei nicht der Einzige hier. Aber der Beste, hatte er dem Polizeirat damals grimmig an den Kopf geworfen und die Polizeidirektion unverrichteter Dinge wieder verlassen. Dann würde er eben ein Interview mit einer Krankenschwester oder einem Feuerwehrmann führen. Die waren auch wichtig im städtischen Zusammenleben, genau wie die Kriminalpolizei.

Sein heutiger Tag, dachte sich Färber, während er die beiden heimlich beobachtete, war nicht erfolgreich gewesen. Er ärgerte sich richtig darüber. Zu der toten Person auf dem Hofgerichtsstuhl am frühen Morgen hatte man ihn nicht vorgelassen. Wie dumm auch von ihm, dass er den Presseausweis in der anderen Jacke vergessen hatte. So hatte er erst mal zurück nach Hause gemusst, um den Ausweis zu holen. Eilig war er anschließend wieder zum Hofgerichtsstuhl zurückgekehrt. Doch trotz Presseausweises bekam er auch diesmal nicht die Erlaubnis, den Toten zu sehen oder einen der anwesenden Polizeibeamten zu sprechen. Wütend war er zurück nach Hause gefahren. Dort hatte immerhin seine Freundin mit einem liebevoll zubereiteten Frühstück auf ihn gewartet. Kaum hatte er es sich mit ihr gemütlich gemacht, musste er jedoch schon wieder los zum Turm. Sein Informant hielt ihn auf Trab. Als er endlich dort angekommen war, wurde bereits alles abgesperrt. Aber auch hier war es ihm unmöglich gewesen, in den Turm zu gelangen oder wenigstens etwas näher an das Geschehen. Die Leute, die er vor Ort befragt hatte, wussten genauso viel wie er, nämlich nichts, und stocherten im Dunkeln herum oder verloren sich in völlig absurden Verschwörungstheorien. Wenigstens konnte er einen Beitrag über die Stimmung der Menschen anfertigen, die man vergessen hatte, rechtzeitig über die Schließung des Turms zu informieren. Es kam viel Frust zum Vorschein. Zwar gefiel Färber nicht alles, was er hörte, aber es war ein toller Aufmacher für seine Sendung. Prompt griffen einige Radiohörer zum Telefon und spendeten Beifall.

 

Zeller hatte er nur kurz im Foyer des Turms gesehen, genau wie die unbekannte Kollegin an seiner Seite. Später hatte er beobachtet, wie sie den Turm durch den Personaleingang verlassen hatten und in ihren Wagen gestiegen waren. Er war ihnen gleich hinterhergejagt, hatte ihnen jedoch nicht lange folgen können. Mit seinem Fahrrad war er einfach zu langsam gewesen.

Er wusste aber, wo Zeller stets seinen Kaffee trinken ging. Oder seinen Flachmann auftanken. Es war schon bis zu ihm vorgedrungen, dass der Kommissar gerne einen schnäpselte, auch während des Dienstes. Im »b2« war er ihm schon öfter über den Weg gelaufen. So war ihm die Idee gekommen, dort auf ihn zu warten. Und die war goldrichtig gewesen, seine Journalistennase hatte sich nicht getäuscht. Leider waren die Informationen, die er bisher hatte aufschnappen können, spärlich. Da hatte er mehr erwartet. Wenigstens wusste er jetzt, dass die Frau an Zellers Seite seine Assistentin war. Wie hatte er sie genannt? Elli Jones? Das klang echt spannend. Färber hatte sofort gemerkt, dass sie nicht von hier sein konnte. Wahrscheinlich kam sie frisch aus den Staaten, nach einem Studium beim FBI oder vielleicht sogar bei der CIA. Bestimmt hatte man sie extra geholt, um der Rottweiler Kriminalpolizei unter die Arme zu greifen und die neuesten Ermittlungsmethoden beizubringen. War sie eine Forensikerin wie in dieser amerikanischen Fernsehserie? Oder war sie eine knallharte, in allen möglichen Kampfsportarten geschulte Kriminalerin mit den neuesten Waffen im Handgepäck? Zwar sah sie auf den ersten Blick nicht danach aus, aber er hatte sich schon oft in den Menschen getäuscht. Die Frau war anders als der sogenannte Sherlock Holmes von Rottweil. Sie würde Zeller Beine machen und Bausinger gleich mit. Da war er sich ganz sicher. An die würde er sich ranmachen, egal wie. Vielleicht als Verehrer, als potenzieller Liebhaber. Sie schien nicht verheiratet zu sein. Einen Ring an ihrer Hand hatte er jedenfalls nicht gesehen. Da müsste doch etwas zu machen sein.

Bei diesem Gedanken fiel ihm seine Freundin ein, mit der er seit ein paar Wochen zusammenwohnte. Hoffentlich würde sie ihm nicht auf die Schliche kommen. Ihre Eifersucht war nicht unerheblich. Egal, hier ging es um mehr. Sie würde es verstehen müssen. Ein investigativer Journalist musste flexibel sein und dabei mitunter gewisse Grenzen überschreiten.

Als die beiden Kriminaler sich nun voneinander verabschiedeten und Zeller in die eine Richtung und die Assistentin in die andere ging, stand er auf und folgte Jones unauffällig.