H. G. Wells – Gesammelte Werke

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23. Kapitel – In Drury Lane

Sie wer­den jetzt«, fuhr der Un­sicht­ba­re fort, »alle Nach­tei­le mei­ner Lage be­grei­fen. Ich hat­te kein Ob­dach, kein Ge­wand – und Klei­der an­le­gen, hieß so viel, als mich al­ler mei­ner Vor­tei­le zu be­ge­ben, und et­was Selt­sa­mes und Fürch­ter­li­ches aus mir zu ma­chen.«

»Da­ran hat­te ich gar nicht ge­dacht«, sag­te Kemp.

»Auch ich nicht. Und der Schnee hat­te mir auch an­de­re Ge­fah­ren ge­zeigt. Ich konn­te im Schnee nicht um­her­ge­hen; er hät­te sich auf mir fest­ge­setzt und mich ver­ra­ten. Auch der Re­gen hät­te mich als den wäß­ri­gen Um­riss ei­nes Men­schen – eine Art Sei­fen­bla­se – sicht­bar ge­macht. Über­dies sam­mel­te sich – wenn ich in Lon­don um­her­ging – Schmutz an mei­nen Knö­cheln, Staub auf mei­ner Haut. Ich wuss­te nicht, wie lan­ge es dau­ern wür­de, bis ich auch in­fol­ge die­ses Um­stan­des sicht­bar wer­den wür­de. Aber ich wuss­te recht wohl, dass es nicht gar zu lan­ge wäh­ren könn­te.«

»Kei­nes­falls lan­ge in Lon­don.«

»Ich ging durch ver­schie­de­ne Hin­ter­gäss­chen ge­gen die Gre­at Port­land Street zu und war bald am Ende der Stra­ße, in der ich ge­wohnt hat­te, an­ge­langt. Dort mach­te ich halt, weil noch im­mer eine große Men­schen­men­ge die rau­chen­den Trüm­mer des Hau­ses um­stand, wel­ches ich in Brand ge­steckt hat­te. Mei­ne vor­nehm­lichs­te Sor­ge war, mir Klei­der zu ver­schaf­fen. Ich sah in ei­nem der klei­nen Trödl­er­ge­schäf­te, wo Zei­tun­gen, Sü­ßig­kei­ten, Spiel­zeug, Pa­pier­wa­ren, Christ­schmuck usw. feil­ge­bo­ten wer­den, eine Rei­he von Mas­ken und falschen Na­sen und kam wie­der auf den Ge­dan­ken zu­rück, den die Spiel­wa­ren im Ba­sar in mir her­vor­ge­ru­fen hat­ten. Nicht län­ger ziel- und plan­los, wen­de­te ich mich um und lenk­te mei­ne Schrit­te, die be­leb­ten Stra­ßen vor­sich­tig ver­mei­dend, nach den Hin­ter­gäss­chen am Strand; denn ich er­in­ner­te mich dun­kel, in je­ner Ge­gend ver­schie­de­ne Ver­kaufs­lä­den mit Thea­ter­ko­stü­men ge­se­hen zu ha­ben.

Es war ein kal­ter Tag und ein schar­fer Nord­wind feg­te durch die Stra­ßen. Ich ging schnell, um von nie­mand über­holt zu wer­den. Jede Kreu­zung brach­te Ge­fahr, je­der Passant muss­te auf­merk­sam be­ob­ach­tet wer­den. Über­dies hat­te ich mich von neu­em er­käl­tet und leb­te in fort­wäh­ren­der Angst, dass mein Nie­sen die Auf­merk­sam­keit auf sich len­ken könn­te.

End­lich er­reich­te ich das Ziel mei­nes Su­chens, einen schmut­zi­gen, klei­nen La­den in ei­ner Sei­ten­gas­se von Dr­u­ry Lane, mit ei­nem Schau­fens­ter voll Thea­ter­flit­ter, falscher Ju­we­len, Perücken, Schu­he und Do­mi­nos. Der La­den war alt­mo­disch, dun­kel und nied­rig und lag in ei­nem un­freund­li­chen, dun­keln, vier­stö­cki­gen Hau­se. Ich späh­te durch das Fens­ter, sah nie­mand drin­nen und trat ein. Das Öff­nen der Tür setz­te eine lär­men­de Glo­cke in Be­we­gung. Ich ließ die Tür of­fen und ging um eine lee­re Klei­der­pup­pe her­um hin­ter einen ho­hen Steh­spie­gel in eine Ecke des La­dens. Eine Mi­nu­te lang zeig­te sich nichts. Dann hör­te ich schwe­re Trit­te durch ein Zim­mer ge­hen und ein Mann er­schi­en im La­den.

Ich hat­te jetzt al­les ge­nau über­legt. Mei­ne Ab­sicht war, mich ins Haus ein­zu­schlei­chen, und wenn al­les ru­hig sein wür­de, mir eine Perücke, Mas­ke, Bril­le und einen An­zug zu su­chen und mich der Welt in ei­ner viel­leicht ko­mi­schen, aber im­mer­hin an­nehm­ba­ren Ge­stalt zu zei­gen. Bei die­ser Ge­le­gen­heit konn­te ich na­tür­lich auch al­les Geld, das ich fand, an mich neh­men.

Der Mann, der den La­den be­tre­ten hat­te, war klein und buck­lig, hat­te bu­schi­ge Au­gen­brau­en, lan­ge Arme und sehr kur­ze, krum­me Bei­ne. Au­gen­schein­lich hat­te ich ihn bei sei­nem Mahl ge­stört. Er blick­te mit dem Aus­druck der Er­war­tung im La­den um­her. Die­ser gab ei­nem Aus­druck der Über­ra­schung und end­lich des Zor­nes Raum, als er den La­den leer sah. ›Ver­damm­te Bu­ben!‹ sag­te er. Er ging zur Tür und blick­te die Stra­ße hin­auf und hin­un­ter. Bald dar­auf kam er zu­rück, stieß die La­den­tür zor­nig mit dem Fuß zu und ging flu­chend zu der Tür, die in das In­ne­re des Hau­ses führ­te.

Ich trat vor, um ihm zu fol­gen. Bei dem Geräusch mei­ner Be­we­gun­gen hielt er plötz­lich inne. Auch ich blieb, von sei­nem fei­nen Ge­hör über­rascht, ste­hen. Dann schlug er mir die Tür vor der Nase zu.

Ich zö­ger­te. Plötz­lich hör­te ich, wie sich sei­ne Schrit­te rasch wie­der nä­her­ten und die Tür aufs neue ge­öff­net wur­de. Er sah im La­den um­her, wie je­mand, der sei­ner Sa­che nicht ganz si­cher ist. Dann un­ter­such­te er, lei­se vor sich hin­spre­chend, den La­den­tisch, blick­te in alle Ecken und blieb end­lich un­ent­schlos­sen ste­hen. Er hat­te die Tür of­fen ge­las­sen, und ich schlüpf­te in das Haus.

Das Zim­mer, das ich be­trat, war ein arm­se­li­ger, klei­ner Raum mit ei­nem Hau­fen großer Mas­ken in der einen Ecke. Auf dem Tisch stand sein ver­las­se­nes Früh­stück und es war eine bit­te­re Auf­ga­be für mich, Kemp, den Duft des Kaf­fees ein­zuat­men und auf der Lau­er zu ste­hen, wäh­rend er zu­rück­kehr­te und sei­ne Mahl­zeit fort­setz­te. Drei Tü­ren gin­gen aus dem klei­nen Raum, eine führ­te zum ers­ten Stock­werk und eine hin­un­ter, aber alle wa­ren ge­schlos­sen. Ich konn­te nicht aus dem Zim­mer, so­lan­ge er drin­nen blieb. Er war so wach­sam, dass ich mich kaum be­we­gen durf­te. Mein Rücken war der Zug­luft aus­ge­setzt, und zwei­mal un­ter­drück­te ich ein Nie­sen ge­ra­de noch zur rech­ten Zeit.

Die Beo­b­ach­tun­gen, wel­che ich als un­ge­se­he­ner Zuschau­er mach­te, wa­ren neu und in­ter­essant, aber trotz­dem war ich ih­rer herz­lich müde und un­ge­dul­dig, lan­ge be­vor er sei­ne Mahl­zeit be­en­det hat­te. End­lich war er fer­tig, leg­te die Res­te sei­nes Bro­tes und die Kru­men, die er von dem senf­be­fleck­ten Tisch­tuch auf­ge­le­sen hat­te, auf die schwar­ze Zinn­plat­te, auf wel­cher die Tee­kan­ne stand, und nahm al­les mit sich hin­aus. Sei­ne Last ver­hin­der­te ihn, die Tür hin­ter sich zu schlie­ßen – wie er ge­wiss gern ge­tan hät­te. Ich habe nie­mals je­mand ge­se­hen, der auf das Schlie­ßen von Tü­ren so er­picht ge­we­sen wäre wie die­ser Mann. Ich folg­te ihm in eine sehr schmut­zi­ge, im Sou­ter­rain ge­le­ge­ne Kü­che, wo ich das Ver­gnü­gen hat­te, ihm zu­zu­se­hen, wie er das Ge­schirr ab­zu­wa­schen be­gann. Dann stieg ich, als ich fand, dass ich auf dem Stein­bo­den kal­te Füße be­kam und mein War­ten nutz­los war, wie­der hin­auf und setz­te mich in sei­nen Stuhl beim Ka­min. Das Feu­er brann­te schlecht und ich leg­te ge­dan­ken­los ein we­nig Koh­le auf. Das Geräusch brach­te ihn so­fort her­auf und er such­te das gan­ze Zim­mer ab – auf ein Haar hät­te er mich be­rührt. Selbst nach ein­ge­hen­der Un­ter­su­chung schi­en er nicht be­frie­digt. Er blieb auf der Schwel­le ste­hen und warf einen Blick zu­rück, ehe er wie­der hin­un­ter­ging.

Eine Ewig­keit muss­te ich in dem klei­nen Wohn­zim­mer war­ten; end­lich kam er her­auf und öff­ne­te die Tür, die zum obe­ren Stock­werk führ­te. Ich folg­te ihm un­mit­tel­bar auf den Fer­sen.

Auf der Trep­pe blieb er plötz­lich ste­hen, so­dass ich bei­na­he in ihn hin­ein­ge­sto­ßen wäre. Er wen­de­te sich um, blick­te mir ge­ra­de ins Ge­sicht und lausch­te. ›Ich hät­te schwö­ren kön­nen‹, sag­te er. Er leg­te die lan­ge, haa­ri­ge Hand an die Un­ter­lip­pe und blick­te die Trep­pe hin­auf und hin­un­ter. Dann brumm­te er et­was vor sich hin und stieg wie­der auf­wärts.

Die Hand auf der Tür­klin­ke blieb er von neu­em ste­hen, mit dem­sel­ben zor­nig-er­staun­ten Aus­druck im Ge­sicht. Er be­gann mei­ne lei­sen Be­we­gun­gen zu ge­wah­ren – der Mann muss teuf­lisch fei­ne Ohren ge­habt ha­ben. Plötz­lich brach er in Wut aus.– – ›Wenn je­mand hier im Hau­se ist …‹ rief er mit ei­nem Fluch, ohne die Dro­hung zu be­en­di­gen. Er steck­te die Hand in die Ta­sche, fand nicht, was er such­te, und eil­te ge­räusch­voll an mir vor­über die Trep­pe hin­un­ter. Ich folg­te ihm nicht, son­dern setz­te mich auf die obers­te Stu­fe und war­te­te sei­ne Rück­kehr ab.

Bald kam er wie­der her­auf, noch im­mer vor sich hin­spre­chend. Er öff­ne­te die Tür des Zim­mers und schlug sie, be­vor ich noch ein­tre­ten konn­te, rasch hin­ter sich zu.

Ich be­schloss nun, das Haus zu durch­stö­bern; es war sehr alt und bau­fäl­lig, so dump­fig, dass sich die Ta­pe­ten von den Mau­ern lös­ten, und voll von Rat­ten. Die Türan­geln wa­ren ver­ros­tet und ich fürch­te­te mich, die Tü­ren zu öff­nen. Meh­re­re Zim­mer wa­ren un­mö­bliert, in an­de­ren lag Thea­ter­kram her­um. In ei­nem Zim­mer fand ich einen Hau­fen al­ter Klei­der, die ich zu durch­stö­bern be­gann. In mei­nem Ei­fer ver­gaß ich sein schar­fes Ge­hör voll­kom­men. Ich hör­te lei­se Trit­te und blick­te ge­ra­de zur rich­ti­gen Zeit auf, um ihn mit ei­nem alt­mo­di­schen Re­vol­ver in der Hand zu er­bli­cken. Ich ver­hielt mich ganz still, wäh­rend er mit of­fe­nem Mun­de arg­wöh­nisch um­her­schau­te. ›Das muss sie ge­we­sen sein‹, sag­te er lang­sam. ›Ver­flucht!‹

Lei­se schloss er die Tür und un­mit­tel­bar dar­auf hör­te ich, wie der Schlüs­sel rasch um­ge­dreht wur­de. Dann ver­klan­gen sei­ne Schrit­te und ich wur­de mir plötz­lich be­wusst, dass ich ein­ge­schlos­sen war. Eine Mi­nu­te lang wuss­te ich nicht, was ich be­gin­nen soll­te. Rat­los ging ich von der Tür zum Fens­ter und wie­der zu­rück. End­lich ent­schloss ich mich, vor al­lem an­de­ren die Klei­der zu un­ter­su­chen, da­bei warf ich aus ei­nem obe­ren Fach einen gan­zen Stoß zu Bo­den. Dies brach­te ihn, noch fins­te­rer bli­ckend, zu­rück. Dies­mal be­rühr­te er mich so­gar, sprang er­schreckt zu­rück und blieb fas­sungs­los in der Mit­te des Zim­mers ste­hen.

 

Bald be­ru­hig­te er sich. ›Rat­ten‹, flüs­ter­te er, die Hand an die Lip­pen le­gend. Ich glitt lei­se aus dem Zim­mer, aber ein Brett knack­te un­ter mei­nen Fü­ßen. Dann ging der teuf­li­sche klei­ne Kerl im gan­zen Hau­se her­um, sperr­te alle Tü­ren ab und steck­te die Schlüs­sel in die Ta­sche. Als ich mir über sei­ne Ab­sich­ten klar wur­de, be­kam ich einen Wu­t­an­fall – ich konn­te mich kaum so lan­ge be­herr­schen, bis mei­ne Zeit ge­kom­men war. Jetzt wuss­te ich schon, dass er al­lein im Hau­se sei, so mach­te ich kei­ne Um­stän­de wei­ter und schlug ihn nie­der.«

»Was?«, rief Kemp.

»Ja, ich schlug ihn nie­der, wäh­rend er die Trep­pe hin­ab­ging. Von rück­wärts, mit ei­nem Stuh­le, der im Flur stand. Er fiel die Trep­pe hin­un­ter wie ein Sack.«

»Aber hö­ren Sie! Die all­ge­mei­nen Ge­set­ze der Men­sch­lich­keit – –«

»Sind sehr gut und wohl­tä­tig für ge­wöhn­li­che Men­schen. Aber die Sa­che war, Kemp, dass ich aus dem Hau­se muss­te, ohne dass er mich be­merk­te, und zwar in ei­ner Ver­klei­dung. Ei­nen an­de­ren Aus­weg gab es nicht. Und dann kne­bel­te ich ihn mit ei­ner Louis-Quar­tor­ze-Wes­te und band ihn in ein Bett­tuch ein!«

»In ein Bett­tuch!«

»Mach­te eine Art Bün­del aus ihm. Es war eine ziem­lich gute Idee; denn so brach­te ich den Esel zum Schwei­gen und mach­te es ihm ver­teu­felt schwer, wie­der her­aus­zu­kom­men. Mein lie­ber Kemp, es nützt nichts, dass Sie da­sit­zen und mich an­star­ren, als ob ich einen Mord be­gan­gen hät­te. Er hat­te einen Re­vol­ver. Wenn er mich ein­mal ge­se­hen hät­te, hät­te er mich auch be­schrei­ben kön­nen.«

»Und doch«, sag­te Kemp, »in Eng­land – heut­zu­ta­ge! Und der Mann war in sei­nem ei­ge­nen Hau­se, und Sie – nun ja! Sie be­raub­ten ihn!«

»Berau­ben! Was Teu­fel! Nächs­tens wer­den Sie mich einen Dieb nen­nen. Sie sind doch ge­wiss nicht so tö­richt, noch nach der al­ten Pfei­fe zu tan­zen. Kön­nen Sie mei­ne Lage nicht be­grei­fen?«

»Aber auch die sei­ni­ge!«, sag­te Kemp.

Der Un­sicht­ba­re er­hob sich. »Was wol­len Sie da­mit sa­gen?«

Ein Aus­druck der Ent­schlos­sen­heit trat auf Kemps Ge­sicht. Er woll­te spre­chen, be­zwang sich aber. »Schließ­lich«, sag­te er in plötz­lich ver­än­der­tem Ton, »muss­te es wohl ge­sche­hen. Sie be­fan­den sich in ei­ner Zwangs­la­ge. Und doch – –«

»Na­tür­lich war ich in ei­ner Zwangs­la­ge – in ei­ner höl­li­schen Zwangs­la­ge! Und er brach­te mich zur Verzweif­lung mit sei­nem Re­vol­ver und dem Öff­nen und Ver­sper­ren der Tü­ren. Sie ta­deln mich nicht, nicht wahr? Sie ma­chen mir des­halb kei­ne Vor­wür­fe?«

»Ich ma­che nie­mals je­man­dem Vor­wür­fe«, er­wi­der­te Kemp. »Das ist ganz un­mo­dern. Was ta­ten Sie dann?«

»Ich war hung­rig. Un­ten fand ich einen Laib Brot und et­was Käse – mehr als ge­nug, um mei­nen Hun­ger zu stil­len. Ich nahm auch et­was Brannt­wein mit Was­ser und dann ging ich an dem großen Bün­del vor­bei – es lag ganz still – in das Zim­mer mit den al­ten Klei­dern. Dort blick­te ich durch eine Spal­te im Vor­hang zum Fens­ter hin­aus. Drau­ßen war hel­lich­ter Tag – blen­dend hell, im Ver­gleich mit den dunklen Schat­ten des un­freund­li­chen Hau­ses, in dem ich mich be­fand. Mei­ne Er­re­gung wich lang­sam dem kla­ren Be­wusst­sein mei­ner Lage.

Ich be­gann das Haus sys­te­ma­tisch zu durch­su­chen. Ich ver­mu­te­te, dass der Buck­li­ge schon ei­ni­ge Zeit al­lein dort ge­wohnt ha­ben muss­te. Er war ein son­der­ba­rer Kauz. – Al­les, was mir mög­li­cher­wei­se von Nut­zen sein konn­te, trug ich in das Zim­mer mit den Klei­dern, um dort eine sorg­fäl­ti­ge Aus­wahl zu tref­fen.

Ich hat­te dar­an ge­dacht, mein Ge­sicht und al­les, was von mir sicht­bar sein soll­te, zu schmin­ken und zu pu­dern; dies hät­te aber den Nach­teil ge­habt, dass ich Ter­pen­tin und an­de­re Mit­tel und ziem­lich viel Zeit ge­braucht hät­te, um mich wie­der un­sicht­bar zu ma­chen. End­lich wähl­te ich eine et­was bes­ser ge­form­te Nase, die nicht lä­cher­li­cher war als die vie­len an­de­ren mensch­li­chen Na­sen, dunkle Au­genglä­ser, einen grau­en Ba­cken­bart und eine Perücke. Un­ter­klei­der fand ich kei­ne, aber die konn­te ich spä­ter kau­fen; so nahm ich in­zwi­schen einen Do­mi­no und ei­ni­ge wei­ße Hals­tü­cher. Auch So­cken such­te ich ver­geb­lich, aber die Schu­he des Buck­li­gen wa­ren ziem­lich weit und ge­nüg­ten mir. In der Geld­la­de un­ten wa­ren drei So­ver­eigns und 30 Schil­ling in Sil­ber, und in ei­nem ver­sperr­ten Kas­ten, den ich auf­brach, acht Pfund in Gold. So konn­te ich, neu aus­ge­stat­tet, wie­der in die Welt hin­aus­ge­hen.

Dann zö­ger­te ich wie­der. War mei­ne Er­schei­nung wirk­lich glaub­wür­dig? Ich ver­such­te es, mich in dem klei­nen Schlaf­zim­mer­spie­gel von al­len Sei­ten zu be­trach­ten, ob nicht ir­gend­wo eine Lücke klaf­fe, aber al­les schi­en in Ord­nung zu sein. Ich war eine gro­tes­ke Fi­gur, wie man sie auf dem Thea­ter zu se­hen pflegt, aber si­cher kei­ne phy­si­sche Un­mög­lich­keit. Dann schloss ich die Fens­ter­la­den und un­ter­zog mit Hil­fe des großen Steh­spie­gels mei­ne gan­ze Ge­stalt ei­ner ge­nau­en Un­ter­su­chung.

Es dau­er­te ei­ni­ge Mi­nu­ten, bis ich den Mut fand, die Tür auf­zu­schlie­ßen und auf die Stra­ße hin­aus­zu­tre­ten. Der klei­ne Mann soll­te sich aus dem Tuch wi­ckeln, wann er woll­te. Nach fünf Mi­nu­ten la­gen ein Dut­zend Stra­ßen­bie­gun­gen zwi­schen mir und dem La­den. Ich schi­en nicht be­son­ders auf­zu­fal­len. Die letz­te Schwie­rig­keit schi­en be­sei­tigt.«

Er hielt wie­der ein.

»Und Sie küm­mer­ten sich nicht wei­ter um den Buck­li­gen?«, frag­te Kemp.

»Nein«, er­wi­der­te der Un­sicht­ba­re. »Ich habe auch nie­mals ge­hört, was aus ihm wur­de. Ich ver­mu­te, dass er sich los­band oder das Tuch zer­riss. Die Kno­ten wa­ren ziem­lich fest.«

Er schwieg, ging ans Fens­ter und blick­te hin­aus.

»Was ge­sch­ah, als Sie hin­aus­ka­men?«

»O! Nichts als Ent­täu­schun­gen er­leb­te ich. Ich dach­te, mei­ne Lei­den wä­ren vor­über. Tat­säch­lich glaub­te ich un­ge­straft tun zu dür­fen, was ich woll­te – nur mein Ge­heim­nis durf­te ich nicht ver­ra­ten. So dach­te ich. Was ich nun tat, wel­che Fol­gen mei­ne Hand­lun­gen auch ha­ben moch­ten – mir galt es gleich. Ich brauch­te nur mei­ne Klei­der ab­zu­le­gen und zu ver­schwin­den. Nie­mand konn­te mich hal­ten. Ich konn­te mir Geld neh­men, wo ich es fand. Ich be­schloss, mir ein be­son­ders gu­tes Mahl zu gön­nen, dann woll­te ich in ei­nem gu­ten Ho­tel ab­stei­gen und mei­ne Gar­de­ro­be er­gän­zen. Ich war er­staun­lich hoff­nungs­se­lig; es ist nicht be­son­ders an­ge­nehm, er­zäh­len zu müs­sen, was für ein Esel ich war. Ich ging in ein Gast­haus und war schon nahe dar­an, mein Früh­stück zu be­stel­len, als ich mich be­sann, dass ich nicht es­sen konn­te, ohne mein un­sicht­ba­res Ge­sicht zu zei­gen. So sag­te ich dem Mann, dass ich in zehn Mi­nu­ten zu­rück sein wür­de, und ging ver­zwei­felt fort. Ich weiß nicht, ob Sie, wenn Sie sehr hung­rig wa­ren, je­mals eine sol­che Ent­täu­schung er­leb­ten.«

»Vi­el­leicht kei­ne so bit­te­re«, sag­te Kemp, »aber ich kann sie mir vor­stel­len.«

»Ich hät­te die dum­men Ker­le prü­geln kön­nen. End­lich konn­te ich dem Ver­lan­gen nach ei­ner an­stän­di­gen Mahl­zeit nicht län­ger wi­der­ste­hen, ging in ein an­de­res Gast­haus und ver­lang­te ein Se­pa­rat­zim­mer. Ich sei arg ent­stellt, er­klär­te ich. Sie sa­hen mich neu­gie­rig an, aber na­tür­lich war es nicht ihre Sa­che – und so kam ich end­lich zu mei­nem Mit­tags­mahl. Es war nicht be­son­ders gut, aber es ge­nüg­te; und als ich da­mit fer­tig war, zün­de­te ich mir eine Zi­gar­re an und such­te einen neu­en Plan zu ent­wer­fen. Und drau­ßen stürm­te und schnei­te es.

Je län­ger ich dar­über nach­dach­te, Kemp, de­sto bes­ser be­griff ich, welch eine hilflo­se Un­ge­reimt­heit ein un­sicht­ba­rer Mensch ei­gent­lich ist – in ei­nem kal­ten und schmut­zi­gen Kli­ma und ei­ner be­völ­ker­ten, zi­vi­li­sier­ten Stadt. Be­vor ich die­ses wahn­sin­ni­ge Ex­pe­ri­ment mach­te, hat­te ich von tau­send Vor­tei­len ge­träumt. An je­nem Nach­mit­tag er­kann­te ich die bit­te­re Täu­schung. Ich dach­te an all die Din­ge, die ein Mensch für wün­schens­wert hält. Al­ler­dings wur­de es mir durch mei­ne Un­sicht­bar­keit mög­lich, sie zu er­lan­gen, aber zu­gleich wur­de es mir un­mög­lich, sie zu ge­nie­ßen. Ehr­geiz – was half mir der er­run­ge­ne Platz, wenn ich mich auf dem­sel­ben nicht zei­gen konn­te? Lie­be – sie konn­te mir nicht wer­den. Po­li­tik, barm­her­zi­ge Wer­ke, Sport – sie flö­ßen mir kein In­ter­es­se ein. Und dazu war ich ein ver­mumm­tes Ge­heim­nis, die Ka­ri­ka­tur ei­nes Men­schen ge­wor­den.«

Er schwieg und schi­en einen Blick durchs Fens­ter zu wer­fen.

»Aber wie ka­men Sie nach Iping?«, frag­te Kemp, ängst­lich be­müht, ein leb­haf­tes Ge­spräch in Gang zu hal­ten.

»Dort be­gann ich zu ar­bei­ten. Ich hat­te noch eine Hoff­nung, eine un­kla­re Idee. Ich habe sie noch. Jetzt ist sie zur vol­len Ge­wiss­heit ge­wor­den. Ich will zu­rück! Wie­der den al­ten Zu­stand her­stel­len, wann es mir be­liebt. Wenn ich al­les ge­tan ha­ben wer­de, was ich un­sicht­bar tun will. Und dar­über möch­te ich haupt­säch­lich mit Ih­nen spre­chen – –«

»Sie gin­gen di­rekt nach Iping?«

»Ja. Ich hat­te nichts zu tun, als mein Ge­päck und eine An­zahl von Che­mi­ka­li­en kom­men zu las­sen, um mei­ne Idee aus­zu­füh­ren – ich wer­de Ih­nen die Be­rech­nun­gen zei­gen, so­bald ich mei­ne Bü­cher be­kom­me – und dann ging ich an die Ar­beit. Him­mel! Ich er­in­ne­re mich noch heu­te an den Schnee­sturm, der da­mals wü­te­te und wel­che Mühe ich hat­te, mei­ne falsche Nase vor der Feuch­tig­keit zu schüt­zen –.«

»Zu­letzt ha­ben Sie vor­ges­tern«, sag­te Kemp, »als man Ihr Ge­heim­nis ent­deck­te – wie die Zei­tun­gen sa­gen –«

»Es ist rich­tig. Habe ich die­sen Nar­ren von ei­nem Gen­darmen er­schla­gen?«

»Nein«, ant­wor­te­te Kemp. »Man hofft, dass er auf­kom­men wird.«

»Das ist gut für ihn. Ich hat­te die Ge­duld ver­lo­ren. Die Nar­ren! Wa­rum lie­ßen sie mich nicht in Ruhe? Und der Spe­ze­rei­wa­ren­händ­ler?«

»Nie­mand ist töd­lich ver­wun­det«, ant­wor­te­te Kemp.

»Nur von mei­nem Land­strei­cher weiß ich nichts«, sag­te der Un­sicht­ba­re mit ei­nem un­an­ge­neh­men La­chen.

»Beim Him­mel, Kemp, ein Mann Ihres Schla­ges weiß nicht, was Wut ist. Jah­re­lang ge­ar­bei­tet und ge­schuf­tet zu ha­ben, da­mit ir­gend­ein Idi­ot ei­nem alle Plä­ne durch­kreuzt! – Je­der be­lie­bi­ge Dumm­kopf auf Got­tes Erd­bo­den war förm­lich dar­auf ver­ses­sen, mei­ne Ab­sich­ten zu­nich­te zu ma­chen … Wenn mir das noch oft pas­siert, wer­de ich wild – dann mö­gen sie sich hü­ten!

Wie die Sa­chen jetzt ste­hen, ha­ben sie mir al­les tau­send­mal schwe­rer ge­macht.«