H. G. Wells – Gesammelte Werke

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21. Kapitel – In Oxford Street

Als ich zum ers­ten Mal hin­un­ter­stieg, traf ich auf un­ver­mu­te­te Schwie­rig­kei­ten, weil ich mei­ne Füße nicht sah. Ich stol­per­te zwei­mal und fand das Trep­pen­ge­län­der nur mit Mühe. Auf ebe­nem Bo­den kam ich je­doch, wenn ich nicht zu Bo­den sah, ganz gut vor­wärts. Ich be­fand mich in ei­nem Zu­stand höchs­ter Er­re­gung. Ich hat­te das Ge­fühl, wel­ches ein Se­hen­der ha­ben mag, der mit Klei­dern, die kein Geräusch ver­ur­sa­chen, und mit Lap­pen an den Fü­ßen eine nur von Blin­den be­wohn­te Stadt be­tritt. Ich emp­fand ein wil­des Ver­lan­gen, Un­fug zu trei­ben, Leu­te zu er­schre­cken, sie auf den Rücken zu klop­fen, ih­nen die Hüte vom Kop­fe zu schla­gen und über­haupt aus mei­ner be­son­ders vor­teil­haf­ten Lage al­len mög­li­chen Nut­zen zu zie­hen.

Aber kaum war ich in die Gre­at Port­land Street ge­langt, als ich lau­tes Zu­sam­menk­lir­ren hör­te und von rück­wärts einen hef­ti­gen Stoß er­hielt. Als ich mich um­wen­de­te, sah ich einen Mann, der einen Korb mit So­da­was­ser­fla­schen trug und ver­blüfft auf sei­ne Last blick­te. Ob­gleich mich der Stoß wirk­lich ver­letzt hat­te, fand ich sein Er­stau­nen so un­wi­der­steh­lich ko­misch, dass ich laut auf­lach­te. ›Der Teu­fel steckt in dem Kor­be‹, sag­te ich und ent­wand den Korb sei­nen Hän­den. Er ließ ihn wi­der­stands­los fah­ren und ich hob ihn hoch in die Luft.

Aber ein Narr von ei­nem Kut­scher, der vor ei­nem Wirts­haus stand, stürz­te plötz­lich auf uns zu, und sei­ne aus­ge­streck­te Hand traf mich beim Ohr. Ich ließ das Gan­ze mit vol­ler Wucht auf ihn nie­der­fal­len, und erst, als sich vie­le Schrit­te nä­her­ten, die Leu­te aus den Kauf­lä­den tra­ten und Wa­gen an­hiel­ten, wur­de es mir klar, was ich an­ge­stellt hat­te. Mei­ne Tor­heit ver­wün­schend, lehn­te ich mich an ein Aus­la­ge­fens­ter und traf An­stal­ten, dem be­gin­nen­den Auf­lauf aus­zu­wei­chen. Ei­nen Au­gen­blick spä­ter hät­te mich die Men­ge ein­ge­schlos­sen und ich wäre un­fehl­bar ent­deckt wor­den. Ich stieß einen Flei­scher­bur­schen, der sich glück­li­cher­wei­se nicht um­dreh­te, um das Nichts, wel­ches ihn so un­sanft be­rührt hat­te, zu su­chen, bei­sei­te und flüch­te­te hin­ter den Wa­gen des Kut­schers. Ich weiß nicht, wie die Sa­che ver­lief. Ei­lig kreuz­te ich die Stra­ße, und in der Angst vor Ent­de­ckung des We­ges kaum ach­tend, ge­lang­te ich in die be­leb­te Ox­ford Street.

Ich such­te mit dem Men­schen­strom vor­wärts zu kom­men, aber das Ge­drän­ge war zu dicht für mich, und bin­nen kur­z­em wa­ren die Fer­sen mei­ner Füße von den Leu­ten wund ge­sto­ßen. Ich trat also auf die Fahr­stra­ße hin­aus, de­ren un­ebe­nes Pflas­ter für mei­ne Füße sehr schmerz­haft war. Da traf mich die Deich­sel ei­nes vor­über­fah­ren­den Miet­wa­gens hef­tig am Schul­ter­blatt und er­in­ner­te mich dar­an, dass ich schon frü­her nicht un­er­heb­lich ver­wun­det wor­den war. Ein glück­li­cher Ge­dan­ke ret­te­te mich vor wei­te­ren Un­fäl­len. Ich wich dem Wa­gen schnell aus, ent­ging durch eine ra­sche Be­we­gung ei­nem Zu­sam­men­stoß mit ei­nem Man­ne, der eben die Stra­ße über­schritt und be­fand mich nun hin­ter dem Wa­gen, des­sen Spu­ren ich un­mit­tel­bar folg­te, sehr ver­blüfft über die Wen­dung, die mein Aben­teu­er ge­nom­men hat­te. Ich zit­ter­te nicht nur vor Auf­re­gung, son­dern auch vor Käl­te. Es war ein hel­ler Ja­nu­ar­tag; die dün­ne Kot­schicht, die den Bo­den be­deck­te, war na­he­zu ge­fro­ren. So tö­richt es jetzt auch er­schei­nen mag, ich hat­te nicht be­dacht, dass ich sicht­bar oder un­sicht­bar, doch dem Wet­ter und al­len sei­nen Fol­gen aus­ge­setzt blieb.

Da kam mir eine glän­zen­de Idee. Ich lief vor und stieg in den Wa­gen. Und so fuhr ich, vor Käl­te zit­ternd, mit den ers­ten An­fän­gen ei­ner star­ken Er­käl­tung und den im­mer schmerz­haf­ter wer­den­den Ver­let­zun­gen auf dem Rücken lang­sam die Ox­ford Street ent­lang. Mei­ne Stim­mung war von der, in wel­cher ich vor zehn Mi­nu­ten mei­ne Wan­de­rung be­gon­nen hat­te, him­mel­weit ver­schie­den. Wenn Un­sicht­bar­keit dies be­deu­te­te! Nur ei­nes ein­zi­gen Ge­dan­kens war ich jetzt fä­hig, wie ich mich aus der Klem­me, in der ich mich be­fand, her­aus­ar­bei­ten könn­te?

Wir fuh­ren lang­sam wei­ter, als plötz­lich eine Frau, die sechs oder sie­ben gelb­ge­bun­de­ne Bü­cher trug, den Wa­gen an­rief. Ich sprang ge­ra­de zu rech­ter Zeit her­aus, um nicht von ihr ent­deckt zu wer­den. Im Sprun­ge streif­te ich einen Kar­ren, der eben vor­über­fuhr. Ich ging die Stra­ße nach Blooms­bu­ry ent­lang, in der Ab­sicht, mich hin­ter dem Mu­se­um nach Nor­den zu wen­den, umso in ein ru­hi­ge­res Vier­tel zu ge­lan­gen. Mir war jetzt grau­sam kalt, und die Selt­sam­keit mei­ner Lage mach­te mich so nie­der­ge­schla­gen, dass ich wäh­rend des Lau­fens lei­se wim­mer­te. An der We­ste­cke des Plat­zes rann­te ein klei­ner, wei­ßer Hund aus dem Ge­bäu­de der Phar­ma­zeu­ti­schen Ge­sell­schaft her­aus und be­gann mit ge­senk­ter Schnau­ze mir nach­zu­spü­ren.

Ich war mir frü­her nie­mals klar dar­über ge­wor­den, aber der Ge­ruch­sinn ist für den Hund das, was das Auge für einen se­hen­den Men­schen ist. Hun­de be­mer­ken durch ih­ren Ge­ruch­sinn einen Men­schen, wel­cher sich be­wegt, so wie Men­schen sei­ne Be­we­gun­gen mit den Au­gen ver­fol­gen kön­nen. Das Tier be­gann zu bel­len und zu sprin­gen und gab mir nur zu deut­lich zu er­ken­nen, dass es mich be­merkt hat­te. Ich kreuz­te Gre­at Rus­sel Street, blick­te wäh­rend des Ge­hens über die Schul­ter zu­rück und ging Mon­tague Street ein Stück hin­auf, be­vor ich ent­deck­te, in welch miss­li­cher Lage ich mich be­fand.

Denn plötz­lich ver­nahm ich die Klän­ge ei­ner Mu­sik­ka­pel­le, und als ich die Stra­ße hin­auf­blick­te, sah ich eine große An­zahl Men­schen aus Rus­sel Squa­re her­aus­kom­men. Sie tru­gen rote Jer­sey­ja­cken und das Ban­ner der Heils­ar­mee schweb­te ih­nen vor­aus. Eine sol­che Men­ge zu durch­drin­gen, konn­te ich nicht hof­fen; und da ich Furcht da­vor hat­te, mich noch wei­ter von mei­ner Woh­nung zu ent­fer­nen, eil­te ich, der Ein­ge­bung des Au­gen­blicks fol­gend, die wei­ßen Stu­fen ei­nes Hau­ses, wel­ches dem Mu­se­um ge­gen­über­lag, hin­an, um dort zu war­ten, bis das Ge­drän­ge vor­über war. Glück­li­cher­wei­se blieb der Hund bei den Klän­gen der Mu­sik ste­hen, zö­ger­te, kehr­te dann um und lief nach Hau­se zu­rück.

Der Zug kam her­an, die Teil­neh­mer brüll­ten mit un­be­wus­s­ter Iro­nie ir­gend­ei­ne Hym­ne, und es schi­en mir eine end­lo­se Zeit, be­vor die Flut sich an mir vor­über­ge­wälzt hat­te. ›Dum, dum, dum‹ ging die Trom­mel, und für den Au­gen­blick be­merk­te ich zwei Stra­ßen­jun­gen nicht, die vor den Stu­fen ne­ben mir ste­hen­blie­ben. ›Schau her‹ sag­te der eine. ›Auf was soll ich schau­en?‹ frag­te der an­de­re. ›Die­se Fuß­tap­fen hier – von ei­nem Bar­fü­ßi­gen.‹

Ich blick­te hin­ab und sah, dass die bei­den Jun­gen ste­hen­ge­blie­ben wa­ren, um auf die schmut­zi­gen Fuß­spu­ren zu gaf­fen, wel­che ich auf den frisch ge­weiß­ten Stu­fen zu­rück­ge­las­sen hat­te. Die Vor­bei­ge­hen­den stie­ßen und dräng­ten sie aus dem Wege, aber ihre ver­fluch­te Neu­gier­de war ein­mal er­regt wor­den. ›Da ist ein bar­fü­ßi­ger Mensch die Stu­fen hin­auf­ge­gan­gen, oder ich ver­ste­he gar nichts‹ sag­te der eine. ›Und er ist nicht wie­der her­un­ter­ge­gan­gen. Und sein Fuß hat ge­blu­tet.‹

Das größ­te Ge­drän­ge war schon vor­über. ›Sieh her, Ted‹, sag­te der jün­ge­re der bei­den in dem Ton höchs­ter Über­ra­schung und deu­te­te ge­ra­de auf mei­ne Füße. Ich blick­te nie­der und sah, dass sie durch den sie be­de­cken­den Kot in ih­ren Um­ris­sen sicht­bar ge­wor­den wa­ren. Vor Schreck war ich wie ge­lähmt.

›Das ist doch son­der­bar!‹ sag­te der äl­te­re. ›Höchst son­der­bar. Wie das Ge­s­penst ei­nes Fu­ßes, nicht wahr?‹ Er zö­ger­te und trat dann mit aus­ge­streck­ter Hand vor. Ein Mann blieb ste­hen, um zu se­hen, was er fan­gen woll­te; bald dar­auf ein Mäd­chen. In ei­nem Au­gen­blick wür­de er mich be­rührt ha­ben. Da sah ich, was ich zu tun hat­te. Ich mach­te einen Schritt, der Bur­sche fuhr mit ei­nem Schrei zu­rück, und mit ei­ner schnel­len Be­we­gung schwang ich mich über die Zwi­schen­mau­er in die Tor­ein­fahrt des nächs­ten Hau­ses. Aber der klei­ne­re Jun­ge war klug ge­nug, die Be­we­gung zu ver­fol­gen, und noch be­vor ich die Stu­fen ganz hin­ab­ge­stie­gen war und die Stra­ße er­reicht hat­te, hat­te er sich von sei­ner au­gen­blick­li­chen Be­stür­zung er­holt und rief laut, dass die Füße hin­ter der Mau­er ver­schwun­den sei­en.

Sie eil­ten hin und ver­folg­ten mei­ne fri­schen Fuß­spu­ren über die Trep­pe bis auf die Stra­ße hin­un­ter.

›Was gibt es?‹ frag­te je­mand.

›Fü­ße! Se­hen Sie dort hin! Ren­nen­de Füße!‹

Alle Leu­te auf der Stra­ße, mei­ne drei Ver­fol­ger aus­ge­nom­men, zo­gen hin­ter der Heils­ar­mee her, und die­ser Men­schen­strom hin­der­te nicht nur mich, son­dern auch sie. Man ver­nahm ver­wun­der­te Aus­ru­fe und Fra­gen. Auf die Ge­fahr hin, einen jun­gen Men­schen um­zu­ren­nen, drang ich durch das Ge­wühl und lief im nächs­ten Au­gen­blick, so schnell ich konn­te, ge­gen Rus­sel Squa­re zu, wäh­rend fünf oder sechs er­staun­te Men­schen mei­nen Fuß­spu­ren folg­ten. Ich hat­te kei­ne Zeit, ih­nen die Sa­che zu er­klä­ren, sonst wäre die gan­ze Heils­ar­mee hin­ter mir her­ge­kom­men.

Zwei­mal bog ich um Ecken, drei­mal kreuz­te ich die Stra­ße und trat wie­der in mei­ne al­ten Fuß­spu­ren. Und als mei­ne Füße heiß und tro­cken wur­den, be­gan­nen die feuch­ten Ein­drücke zu ver­schwin­den. End­lich konn­te ich einen Au­gen­blick Atem schöp­fen, rieb mei­ne Füße mit den Hän­den rein und ent­kam auf die­se Wei­se. Das letz­te, was ich von mei­nen Ver­fol­gern sah, war eine Grup­pe von ei­nem Dut­zend Men­schen, die un­sag­bar ver­blüfft auf die Fuß­spu­ren starr­ten, die ih­nen eben­so un­ver­ständ­lich wa­ren als Ro­bin­son Cru­soe die Spur im San­de.

 

Der ei­li­ge Lauf hat­te mich bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de er­wärmt, und mit neu­em Mut setz­te ich mei­nen Weg durch die we­ni­ger be­leb­ten Stra­ßen fort. Mein Rücken war sehr steif und wund ge­wor­den, die Füße schmerz­ten mich und ich hin­k­te in­fol­ge ei­nes klei­nen Schnit­tes am Fuße. Zur rech­ten Zeit sah ich einen Blin­den her­an­kom­men und floh mit Mühe, weil ich sei­nen fei­nen Spür­sinn fürch­te­te. Hie und da er­eig­ne­ten sich zu­fäl­li­ge Zu­sam­men­stö­ße, und die Leu­te blie­ben ver­wun­dert ste­hen, als ih­nen Flü­che, de­ren Ur­sprung sie nicht er­grün­den konn­ten, in die Ohren klan­gen. Dann fiel et­was still und ru­hig auf mein Ge­sicht; es wa­ren fei­ne Schnee­flo­cken, die lang­sam die Erde be­deck­ten. Ich hat­te mich er­käl­tet, und so sehr ich mich be­herrsch­te, ich muss­te von Zeit zu Zeit nie­sen. Und je­der Hund, der in mei­ne Nähe kam, gab mir An­lass zu neu­em Schre­cken.

Dann eil­ten Män­ner und Kna­ben vor­bei und rie­fen laut, wäh­rend sie vor­über­has­te­ten. Es brann­te. Sie lie­fen in die Rich­tung mei­ner Woh­nung und ich sah eine schwar­ze Rauch­säu­le über die Dä­cher und Te­le­fon­dräh­te em­por­stei­gen. Ich war über­zeugt, dass in mei­ner Woh­nung das Feu­er aus­ge­bro­chen war. Mei­ne Klei­der, mei­ne Ap­pa­ra­te und Hilfs­mit­tel, kurz mei­ne Habe bis auf das Scheck­buch und die drei Ta­ge­bü­cher, wel­che mich auf dem Post­amt er­war­te­ten, wa­ren dort. Es brann­te! Wenn je ein Mensch, so hat­te ich mei­ne Schif­fe hin­ter mir ver­brannt. Das Haus stand in Flam­men.«

Der Un­sicht­ba­re hielt ein und blieb in Ge­dan­ken ver­sun­ken. Kemp warf einen ner­vö­sen Blick durch das Fens­ter. »Ja«, sag­te er, »fah­ren Sie fort.«

22. Kapitel – Im Warenhaus

So be­gann ich im Ja­nu­ar die­ses Jah­res, eben als ein Schnee­sturm los­zu­bre­chen droh­te – und wenn sich der Schnee auf mir fest­setz­te, muss­te er mich ver­ra­ten! – er­käl­tet, müde, mit Schmer­zen, un­sag­bar elend und noch im­mer erst halb von mei­ner Un­sicht­bar­keit über­zeugt, die­ses neue Le­ben, zu wel­chem ich ver­dammt bin. Ich hat­te kei­ne Zuf­lucht, kei­ne Hil­fe, kein mensch­li­ches We­sen auf der gan­zen Welt, wel­chem ich ver­trau­en konn­te. Hät­te ich mein Ge­heim­nis ver­ra­ten, hät­te ich mich selbst zu­grun­de ge­rich­tet – wäre zu ei­ner blo­ßen Se­hens­wür­dig­keit, ei­nem Na­tur­wun­der her­ab­ge­sun­ken. Nichts­de­sto­we­ni­ger war ich un­schlüs­sig, ob ich nicht den ers­ten bes­ten Vor­über­ge­hen­den an­spre­chen und mich sei­ner Barm­her­zig­keit an­ver­trau­en soll­te. Aber ich kann­te nur zu gut den Schre­cken, den mein Ge­ständ­nis her­vor­ru­fen wür­de. Auf der Stra­ße fass­te ich kei­nen Plan. Mein ein­zi­ger Ge­dan­ke war, vor dem Schnee Schutz zu fin­den, mir Klei­der zu ver­schaf­fen und mich zu er­wär­men; dann konn­te ich dar­an den­ken, Plä­ne zu ma­chen. Aber die Häu­ser in Lon­don wa­ren alle ver­schlos­sen und ver­rie­gelt und selbst für mich Un­sicht­ba­ren un­zu­gäng­lich.

Da kam ich auf einen glän­zen­den Ge­dan­ken. Ich kehr­te um und ging durch die Gower Street bis zum Om­ni­um, dem großen Wa­ren­haus, in dem man al­les kau­fen kann – Sie ken­nen es wohl: Fleisch, Grün­zeug, Wä­sche, Mö­bel, Klei­der, selbst Öl­ge­mäl­de. Ich hat­te ge­hofft, die Tü­ren of­fen zu fin­den, aber sie wa­ren ge­schlos­sen. Als ich in der großen Ein­fahrt stand, hielt ein Wa­gen drau­ßen und ein Mann in Uni­form – Sie ken­nen die Leu­te mit ›Om­ni­um‹ auf den Müt­zen – riss die Tür auf. Es ge­lang mir, hin­ein­zu­kom­men; ich ging durch das Ma­ga­zin durch – es war die Ab­tei­lung, in der man Bän­der, Hand­schu­he, St­rümp­fe und der­glei­chen ver­kauft – und ge­lang­te in eine noch ge­räu­mi­ge­re Re­gi­on, wo alle er­denk­li­chen Korb­wa­ren auf­ge­stellt wa­ren.

Aber auch dort fühl­te ich mich nicht si­cher, denn fort­wäh­rend ka­men und gin­gen Men­schen, und ich wan­der­te ru­he­los um­her, bis ich zu ei­ner rie­si­gen Ab­tei­lung in ei­nem obe­ren Stock­werk ge­lang­te, wel­che un­ge­heu­re Men­gen von Bett­stel­len ent­hielt. Ich klet­ter­te über die­se hin­über und fand end­lich einen Ru­he­platz zwi­schen auf­ge­häuf­ten Ma­trat­zen. Der Raum war schön be­leuch­tet und be­hag­lich warm, und ich be­schloss, hier ver­steckt zu blei­ben und ein wach­sa­mes Auge auf das hal­be Dut­zend Ver­käu­fer und die paar Kun­den zu ha­ben, bis die Zeit zum Schlie­ßen kom­men wür­de. Dann wür­de es mir mög­lich sein, dach­te ich, mich dort nach Nah­rung, Klei­dung und ei­ner Mas­ke um­zu­se­hen, das Haus zu durch­su­chen und viel­leicht auf dem Bett­zeu­ge dort zu schla­fen. Der Plan schi­en mir an­nehm­bar. Mei­ne Ab­sicht war, mir Klei­der zu ver­schaf­fen, mich in nicht zu auf­fäl­li­ger Wei­se zu ver­mum­men, Geld zu neh­men, mei­ne Bü­cher und Pa­ke­te ab­zu­ho­len, dann ir­gend­wo eine Woh­nung zu mie­ten und einen Plan zur voll­stän­di­gen Aus­nut­zung der Vor­tei­le, wel­che mir, wie ich noch im­mer dach­te, mei­ne Un­sicht­bar­keit über mei­ne Mit­menschen gab, aus­zu­ar­bei­ten.

Die Sperr­stun­de kam schnell ge­nug her­an. Ich kann nicht mehr als eine Stun­de auf den Ma­trat­zen ge­le­gen sein, als die Fens­ter­la­den ge­schlos­sen und die Kun­den hin­aus­ge­lei­tet wur­den. Und dann be­gann eine An­zahl jun­ger Leu­te mit an­er­ken­nens­wer­ter Schnel­lig­keit die in Un­ord­nung ge­brach­ten Wa­ren zu­recht­zu­le­gen. So­wie sich das Wa­ren­haus leer­te, ver­ließ ich mein Ver­steck und stieg vor­sich­tig in die we­ni­ger öden Ab­tei­lun­gen im un­te­ren Stock­werk hin­ab. Ich war wirk­lich über­rascht, zu se­hen, wie schnell die jun­gen Leu­te die Wa­ren ein­räum­ten, die Stüh­le auf die La­den­ti­sche stell­ten und sich mit ei­nem Aus­druck von Leb­haf­tig­keit, wie ich ihn noch sel­ten an Ver­käu­fern ge­se­hen hat­te, den Tü­ren zu­wand­ten. Dann kam eine gan­ze Men­ge Lehr­jun­gen mit Be­sen und Staub­we­deln, um rein zu ma­chen, und end­lich, eine gute Stun­de, nach­dem das Eta­blis­se­ment ge­schlos­sen wor­den war, hör­te ich die Rie­gel vor­schie­ben. Stil­le la­ger­te sich über den Ort, und ich wan­der­te durch die wei­ten Ma­ga­zi­ne, Ga­le­ri­en, Ver­kaufs­räu­me – ein­sam und al­lein.

Mein ers­ter Gang galt dem Ort, an dem man St­rümp­fe und Hand­schu­he zum Ver­kauf aus­ge­bo­ten hat­te. Es war dun­kel und ich such­te müh­sam nach Zünd­hölz­chen; end­lich fand ich wel­che in ei­ner Schub­la­de des Kas­sen­pul­tes. Dann muss­te ich mir eine Ker­ze su­chen. Ich war ge­zwun­gen, die Hül­len her­un­ter­zu­rei­ßen und eine Men­ge Schub­la­den in Un­ord­nung zu brin­gen; aber end­lich ge­lang es mir zu fin­den, was ich such­te. Die Auf­schrift auf dem Kas­ten, aus dem ich sie nahm, lau­te­te: ›Woll­ja­cken und Woll­wes­ten‹. Dann nahm ich So­cken, ein dickes Hals­tuch und aus der Klei­der­ab­tei­lung Bein­klei­der, eine lan­ge Ja­cke, einen Über­rock und einen breit­ran­di­gen Hut mit ab­wärts ge­bo­ge­ner Krem­pe. Ich be­gann mich wie­der als Mensch zu füh­len, und mein nächs­ter Ge­dan­ke war auf Spei­se und Trank ge­rich­tet.

Oben war eine Ab­tei­lung für Er­fri­schun­gen, und dort fand ich kal­tes Fleisch. In ei­ner Kan­ne war noch Kaf­fee; ich zün­de­te das Gas an und wärm­te ihn wie­der, und al­les in al­lem ging es mir nicht schlecht. Nach­her, als ich den Ort nach Bet­tü­chern durch­such­te – ich muss­te mich schließ­lich mit Dau­nen­kis­sen be­gnü­gen – stieß ich auf eine große Men­ge von Scho­ko­la­de, ver­zu­cker­ten Früch­ten – mehr als gut für mich war – und et­was wei­ßen Bur­gun­der. In der Nähe war ein Spiel­wa­ren­la­ger, und ich kam auf einen glän­zen­den Ge­dan­ken. Ich fand dort künst­li­che Na­sen – für Fa­schings­mas­ke­ra­den – und mach­te mich auf die Su­che nach ei­ner dunklen Bril­le. Aber das Om­ni­um hat­te kei­ne op­ti­sche Ab­tei­lung. Mei­ne Nase hat­te mir wirk­lich Sor­gen ge­macht. Ich hat­te ur­sprüng­lich an Schmin­ke ge­dacht. Aber mei­ne Ent­de­ckung ließ mich mehr an Perücken und Mas­ken den­ken. End­lich leg­te ich mich, warm und be­hag­lich, in mei­nen Dau­nen­kis­sen zur Ruhe.

Mei­ne letz­ten Ge­dan­ken vor dem Ein­schlum­mern wa­ren die an­ge­nehms­ten, die ich seit mei­ner Ver­wand­lung ge­habt hat­te. Ich be­fand mich in ei­nem Zu­stan­de phy­si­scher Be­frie­di­gung, der sich mei­nem Geis­te mit­teil­te. Ich dach­te, dass es mir ge­lin­gen wür­de, am nächs­ten Mor­gen in mei­nen Klei­dern un­be­merkt zu ent­schlüp­fen, mein Ge­sicht mit ei­nem Tuch, wel­ches ich zu die­sem Zweck ge­nom­men hat­te, zu be­de­cken, mit dem zu­sam­men­ge­raff­ten Gel­de Au­genglä­ser zu kau­fen und so mei­ne Ver­klei­dung zu ver­voll­komm­nen. Ich ver­fiel in un­zu­sam­men­hän­gen­de Träu­me über all die fan­tas­ti­schen Er­eig­nis­se der letz­ten Tage. Ich sah den häss­li­chen Kerl, mei­nen Haus­wirt, in sei­nem Zim­mer flu­chen; ich sah sei­ne bei­den Söh­ne und das fal­ti­ge Ge­sicht der Al­ten, die nach ih­rer Kat­ze frag­te. Dann stand ich wie­der auf dem zu­gi­gen Hü­gel und hör­te den al­ten Geist­li­chen an mei­nes Va­ters of­fe­nem Gra­be mur­meln: ›Er­de zur Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.‹

›Auch du‹, sag­te eine Stim­me, und plötz­lich wur­de ich ge­gen das Grab ge­drängt. Ich wehr­te mich, schrie, rief die Trau­er­gäs­te um Hil­fe an, aber die­se folg­ten mit un­er­schüt­ter­li­cher Auf­merk­sam­keit dem Got­tes­dienst. Auch der alte Geist­li­che wich und wank­te nicht. Ich ent­deck­te, dass ich un­sicht­bar und un­hör­bar war und über­ir­di­sche Mäch­te ihre Hand auf mich ge­legt hat­ten. Um­sonst wi­der­streb­te ich, ich wur­de über den Rand ge­drängt, der Sarg klang hohl, als ich auf ihn fiel, und eine Schau­fel Erde nach der an­de­ren wur­de mir nach­ge­wor­fen. Nie­mand ach­te­te mei­ner, nie­mand ge­wahr­te mich. Ich mach­te eine ver­zwei­fel­te Be­we­gung des Wi­der­stan­des und er­wach­te.

Die blei­che Lon­do­ner Däm­me­rung war an­ge­bro­chen, das Haus war von ei­nem kal­ten, grau­en Licht er­füllt, das sich durch die Fens­ter­lä­den hin­durch­stahl. Ich rich­te­te mich auf und eine Zeit lang konn­te ich mich nicht be­sin­nen, wie ich in die­sen wei­ten Raum mit den Zahl­ti­schen, den auf­ge­sta­pel­ten Wa­ren und den Hau­fen von Kis­sen hin­ein­ge­ra­ten war. Dann, als mein Erin­ne­rungs­ver­mö­gen zu­rück­kehr­te, hör­te ich Stim­men im Ge­spräch.

Weit von mir sah ich in dem hel­le­ren Licht ei­ner Ab­tei­lung, wo die Vor­hän­ge schon zu­rück­ge­zo­gen wa­ren, zwei Män­ner, die ihre Schrit­te nach mei­nem Zuf­luchts­ort lenk­ten. Ich sprang auf die Füße und blick­te mich nach ei­nem Ver­steck um; schon aber hat­te sie das Geräusch mei­ner Be­we­gung auf­merk­sam ge­macht. Ich ver­mu­te, dass sie nur eine Ge­stalt sa­hen, die sich ge­räusch­los ent­fern­te. ›Wer ist da?‹ rief der eine, und ›Halt!‹ schrie der an­de­re. Ich flog um eine Ecke und kam ge­ra­des­wegs – eine Ge­stalt ohne Ge­sicht, be­den­ken Sie das! – auf einen schlan­ken, fünf­zehn­jäh­ri­gen Bur­schen zu. Er schrie gel­lend auf, ich warf ihn zu Bo­den, eil­te an ihm vor­bei, bog um eine an­de­re Ecke und warf mich, ei­ner glück­li­chen Ein­ge­bung fol­gend, hin­ter ei­nem La­den­tisch flach nie­der. Im nächs­ten Au­gen­blick ka­men ei­li­ge Schrit­te an mir vor­bei und ich hör­te Stim­men ru­fen: ›Al­le zu den Tü­ren!‹

Wäh­rend ich am Bo­den lag, ver­ließ mich die Über­le­gung voll­stän­dig. So selt­sam es schei­nen mag, in je­nem Au­gen­blick fiel mir nicht ein, mei­ne Klei­der aus­zu­zie­hen, was das klügs­te ge­we­sen wäre. Wahr­schein­lich hat­te ich es mir in den Kopf ge­setzt, in den­sel­ben zu ent­flie­hen, und die­se Idee be­herrsch­te mich. Und dann er­tön­te ein Schrei un­mit­tel­bar vor mir: ›Hier ist er!‹

Ich sprang auf, er­griff einen Stuhl vom La­den­tisch, wir­bel­te ihn durch die Luft und ließ ihn schwer auf den Kerl nie­der­fal­len, der ge­ru­fen hat­te. Als ich um die Ecke bie­gen woll­te, traf ich auf einen an­de­ren, schlug auch ihn nie­der und eil­te die Trep­pe hin­auf. Der Bur­sche eil­te mir nach, rief laut ›Ach­tung!‹ und stieg dicht hin­ter mir die Trep­pe hin­auf. Da be­merk­te ich auf ei­nem Ge­stell einen Hau­fen hell­far­bi­ger Töp­fe, er­griff einen der­sel­ben, wand­te mich auf der letz­ten Stu­fe um und ließ ihn schmet­ternd auf sei­nen dum­men Schä­del nie­der­fal­len. Die gan­ze Rei­he Töp­fe pol­ter­te her­un­ter und ich hör­te von al­len Sei­ten ver­wor­re­nes Schrei­en und ei­len­de Schrit­te. In tol­lem Lauf rann­te ich nach dem Bü­fett­zim­mer; dort war ein weiß­ge­klei­de­ter Mann, ver­mut­lich ein Koch, der die Jagd von neu­em be­gann. Ich mach­te eine letz­te, ver­zwei­fel­te Wen­dung und fand mich zwi­schen Lam­pen und Ei­sen­wa­ren. Ich floh hin­ter den La­den­tisch, er­war­te­te dort mei­nen Koch, und als die­ser an der Spit­ze der Ver­fol­ger in der Tür er­schi­en, warf ich eine Lam­pe auf ihn. Er stürz­te zu Bo­den und ich kroch wie­der hin­ter den La­den­tisch und be­gann, so schnell ich konn­te, mich mei­ner Klei­der zu ent­le­di­gen. Rock, Wes­te, Bein­klei­der, Schu­he gin­gen leicht, aber ein Schaf­woll­leib­chen sitzt fes­ter. Ich hör­te wie­der Men­schen kom­men, mein Koch lag re­gungs­los auf der an­de­ren Sei­te des Ti­sches und ich muss­te ein neu­es Ver­steck su­chen.

 

›Hier­her, Schutz­mann!‹ hör­te ich je­mand ru­fen. Ich fand mich wie­der in mei­nem Bett­wa­ren­la­ger, an das sich eine un­end­li­che Flucht von Ab­tei­lun­gen mit Klei­dern an­schloss. In die­se stürz­te ich hin­ein, wur­de mein letz­tes Klei­dungs­stück nach ver­zwei­fel­tem Zer­ren end­lich los und stand wie­der als ein frei­er Mann, aber keu­chend und er­schöpft, vor dem Schutz­mann und den drei Ver­käu­fern, wel­che eben um die Ecke bo­gen. Sie stürz­ten sich auf mei­ne Ja­cke und pack­ten mei­ne Bein­klei­der. ›Er wirft sei­nen Raub weg‹, sag­te ei­ner der jun­gen Leu­te. ›Er muss ir­gend­wo hier sein!‹

Aber sie fan­den mich doch nicht.

Ich be­ob­ach­te­te die Jagd noch ei­ni­ge Zeit und ver­fluch­te mein Miss­ge­schick, durch wel­ches ich die Klei­der wie­der ver­lo­ren hat­te. Dann ging ich in den Bü­fett­raum, trank dort ein we­nig Milch, setz­te mich ans Feu­er und über­dach­te mei­ne Lage.

Ein klei­nes Weil­chen spä­ter ka­men zwei Leu­te her­ein und be­gan­nen die Er­eig­nis­se sehr auf­ge­regt zu be­spre­chen. Ich hör­te eine über­trie­be­ne Auf­zäh­lung al­ler mei­ner Mis­se­ta­ten und alle mög­li­chen Ver­mu­tun­gen über mei­ne Per­son. Dann fing ich wie­der an, Plä­ne zu schmie­den. Jetzt, da das Haus alar­miert war, wäre es un­end­lich schwie­rig ge­we­sen, ir­gen­det­was dar­aus zu ent­wen­den. Ich ging in den Pack­raum hin­ab, um zu se­hen, ob es mög­lich wäre, ein Pa­ket zu pa­cken und an mich zu adres­sie­ren, aber ich ver­stand die Art des Ver­san­des nicht. Ge­gen elf Uhr be­gann es zu tau­en, und da das Wet­ter schö­ner und et­was wär­mer als am vor­her­ge­hen­den Tage war, gab ich das Wa­ren­haus als hoff­nungs­los auf und ging wie­der auf die Stra­ße hin­aus, ver­zwei­felt über mei­nen Mis­ser­folg und ganz und gar im Un­ge­wis­sen, was ich nun be­gin­nen soll­te.«