H. G. Wells – Gesammelte Werke

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

20. Kapitel – Im Hause in Great Portland Street

Für einen Au­gen­blick blieb Kemp still sit­zen und blick­te starr auf den Rücken der kopf­lo­sen Ge­stalt am Fens­ter. Dann zuck­te er un­ter ei­nem plötz­li­chen Ge­dan­ken zu­sam­men, er­hob sich, nahm den Un­sicht­ba­ren beim Arme und führ­te ihn von dem Fens­ter weg.

»Sie sind müde«, sag­te er, »und wäh­rend ich sit­ze, ge­hen Sie her­um. Neh­men Sie doch mei­nen Stuhl.«

Er setz­te sich zwi­schen Grif­fin und das nächs­te Fens­ter.

Grif­fin saß ei­ni­ge Zeit schwei­gend da, be­vor er sei­ne Er­zäh­lung wie­der auf­nahm.

»Als je­nes Er­eig­nis ein­trat«, fuhr er fort, »hat­te ich Che­sil­sto­we schon ver­las­sen. Es war im vo­ri­gen De­zem­ber. Ich hat­te ein Zim­mer in Lon­don ge­mie­tet, ein großes, un­mö­blier­tes Zim­mer in ei­nem ge­räu­mi­gen, schlecht ge­hal­te­nen Zins­hau­se, in ei­nem schmut­zi­gen Win­kel nahe Gre­at Port­land Street. Mei­ne Stu­be war mit den Ap­pa­ra­ten und Hilfs­mit­teln, die ich mit dem ge­raub­ten Gel­de ge­kauft hat­te, ge­füllt, und die Ar­beit schritt rüs­tig und er­folg­ver­hei­ßend ih­rem Ende ent­ge­gen. Ich war wie ein Mensch, der aus ei­nem dich­ten Wal­de her­aus­kommt und plötz­lich ein ihm un­ver­ständ­li­ches Schau­spiel vor sich sieht. Ich ging zu dem Be­gräb­nis­se mei­nes Va­ters. Doch hat­te ich für nichts auf der Welt Ge­dan­ken, als für mei­ne Un­ter­su­chun­gen, und rühr­te kei­nen Fin­ger, um sei­nen gu­ten Na­men zu ret­ten. Ich er­in­ne­re mich an das Lei­chen­be­gäng­nis, an den bil­li­gen Sarg, die kur­ze Trau­er­ze­re­mo­nie, den fros­ti­gen Hü­gel und den Geist­li­chen, sei­nen al­ten Stu­dien­kol­le­gen, der den Got­tes­dienst ab­hielt.

Ich er­in­ne­re mich, wie ich in un­ser ver­öde­tes Heim zu­rück­kehr­te, in dem Orte, der einst ein Dorf ge­we­sen war, und wel­chen hab­süch­ti­ge Bau­spe­ku­lan­ten jetzt in eine häss­li­che Stadt ver­wan­delt ha­ben. Ich sehe mich noch selbst, eine ha­ge­re, schwar­ze Ge­stalt, die ein­sam auf ei­nem feucht­glän­zen­den, schlüpf­ri­gen Sei­ten­pfa­de dem Dorf zu­schritt, geis­tig ge­trennt von al­lem, was mir in der Ju­gend die Hei­mat lieb und teu­er ge­macht hat­te …

Als ich in die Haupt­stra­ße ein­bog, wur­de ich noch ein­mal an mein al­tes Le­ben ge­mahnt. Ich be­geg­ne­te dem Mäd­chen, das ich vor zehn Jah­ren ge­kannt hat­te. Un­se­re Au­gen tra­fen sich …

Et­was zwang mich, mich um­zu­dre­hen und sie an­zu­spre­chen. Sie war eine sehr ge­wöhn­li­che Per­son.

Wie ein Traum war die­ser Be­such in mei­nem Hei­mat­sor­te. Da­mals fühl­te ich nicht, dass ich ver­ein­samt war, dass ich die Welt für eine Wüs­te hin­ge­ge­ben hat­te. Erst als ich in mein Zim­mer trat, hat­te ich die Emp­fin­dung, wie­der der Wirk­lich­keit an­zu­ge­hö­ren. Da wa­ren die Din­ge, wel­che ich kann­te und lieb­te. Da stan­den mei­ne Ap­pa­ra­te und war­te­ten bloß dar­auf, von mir zu der End­pro­be ver­wen­det zu wer­den. Und bis auf die Eb­nung von Klei­nig­kei­ten gab es kaum mehr ein erns­tes Hin­der­nis.

Ich will Ih­nen frü­her oder spä­ter den gan­zen kom­pli­zier­ten Pro­zess er­klä­ren. Jetzt brau­chen wir nicht nä­her dar­auf ein­zu­ge­hen. Mit Aus­nah­me ei­ni­ger Lücken, die ich ab­sicht­lich nur mei­nem Ge­dächt­nis­se ein­ge­prägt habe, ist er in Chif­fre­schrift in den Bü­chern, wel­che je­ner Land­strei­cher ver­bor­gen hat, nie­der­ge­schrie­ben. Wir müs­sen ihn ein­fan­gen. Wir müs­sen die Bü­cher wie­der ha­ben. Die ei­gent­li­che Auf­ga­be be­stand also dar­in, den durch­sich­ti­gen Ge­gen­stand, des­sen Bre­chungs­win­kel her­ab­ge­setzt wer­den soll­te, bei ei­ner be­stimm­ten Schwin­gung des Äthers zwi­schen zwei elek­tri­sche Zen­tren zu stel­len, wo­von ich spä­ter aus­führ­li­cher spre­chen wer­de. Nein – kei­ne Rönt­gen­strah­len; ich glau­be auch nicht, dass mei­ne Strah­len schon be­schrie­ben wor­den sind, und doch sind sie leicht sicht­bar. In ers­ter Li­nie be­nö­tig­te ich zwei­er klei­ner Dy­na­mo­ma­schi­nen, die ich mit ei­nem klei­nen Gas­mo­tor an­trieb. Zu mei­nem ers­ten Ex­pe­ri­men­te nahm ich ein Stück wei­ßen Woll­stof­fes. Es war das selt­sams­te Ding der Welt, den Stoff beim Auf­blit­zen der elek­tri­schen Fun­ken weich und weiß vor sich zu se­hen und dann zu be­ob­ach­ten, wie er gleich ei­ner Rauch­säu­le lang­sam ver­ging und end­lich ver­schwand.

Ich konn­te nicht glau­ben, dass es mir ge­lun­gen war. Ich streck­te mei­ne Hand ins Lee­re aus und da fand ich das Ding eben­so kom­pakt und fest wie frü­her. Ein un­heim­li­ches Ge­fühl be­schlich mich, als ich es in der Hand hielt und ich ließ es fal­len. Dann hat­te ich vie­le Mühe, es wie­der zu fin­den.

Und dann kam ein merk­wür­di­ger Ver­such. Hin­ter mir hör­te ich mi­au­en, und als ich mich um­wen­de­te, er­blick­te ich eine wei­ße, ma­ge­re, sehr schmut­zi­ge Kat­ze, die au­ßer­halb des Fens­ters auf dem De­ckel der Re­gen­was­ser­ton­ne saß. Da kam mir eine Idee. ›Du kommst mir eben recht‹, sag­te ich, öff­ne­te das Fens­ter und lock­te die Kat­ze in das Zim­mer. Sie kam schnur­rend her­ein – das arme Tier war halb ver­hun­gert und ich gab ihr et­was Milch von mei­nen Spei­se­vor­rä­ten, die ich in ei­nem Schran­ke in der Zim­me­r­e­cke ver­wahr­te. Nach­dem sie ge­trun­ken hat­te, ging sie su­chend im Zim­mer um­her, au­gen­schein­lich in der Ab­sicht, sich da­selbst häus­lich ein­zu­rich­ten. Der un­sicht­ba­re Woll­stoff ver­wirr­te sie ein we­nig. Sie hät­ten nur se­hen sol­len, wie sie fauch­te und dar­auf los fuhr! Ich mach­te ihr auf ei­nem Kis­sen ein La­ger zu­recht.«

»Und Sie ver­wan­del­ten sie?«

»Ich ver­wan­del­te sie. Aber ei­ner Kat­ze Me­di­ka­men­te ein­zu­ge­ben, ist kein Spaß, Kemp! Und der Ver­such miss­lang.«

»Miss­lang?«

»Aus zwei Grün­den. Ers­tens we­gen der Kral­len und zwei­tens we­gen des Farb­stof­fes rück­wärts im Auge der Kat­zen. Wie heißt er doch?«

»Ta­pe­tum.«

»Ganz rich­tig, Ta­pe­tum. Er ging nicht weg. Nach­dem ich der Kat­ze das zum Blei­chen des Blu­tes er­for­der­li­che Mit­tel ein­ge­ge­ben und ge­wis­se an­de­re Ver­än­de­run­gen an ihr vor­ge­nom­men hat­te, flö­ßte ich ihr Opi­um ein und leg­te sie und das Kis­sen, auf dem sie schlief, auf den Ap­pa­rat. Und nach­dem al­les üb­ri­ge ver­schwun­den war, blie­ben zwei klei­ne, glän­zen­de Punk­te in den Au­gen sicht­bar.«

»Selt­sam.«

»Ich kann es nicht er­klä­ren. Sie war na­tür­lich ge­bun­den und auf ih­rem La­ger fest­ge­macht, so­dass sie mir nicht ent­wi­schen konn­te. Aber sie war noch halb im Ne­bel sicht­bar, als sie wie­der zu sich kam und kläg­lich zu mi­au­en be­gann. Da klopf­te es an der Türe. Es war eine alte Frau aus dem un­te­ren Stock­werk, die mich im Ver­dacht hat­te, Vi­vi­sek­tio­nen vor­zu­neh­men – eine dem Trun­ke er­ge­be­ne alte Per­son, die auf der gan­zen Welt für nie­mand Lie­be emp­fand als für ihre Kat­ze. Ich gab dem Tie­re et­was Chlo­ro­form zu rie­chen und zeig­te mich an der Türe. ›Ist hier nicht eine Kat­ze?‹ frag­te sie. ›Mei­ne Kat­ze?‹ ›Hier nicht‹, ant­wor­te­te ich sehr höf­lich. Sie war nicht ganz über­zeugt und ver­such­te, an mir vor­bei ins Zim­mer zu bli­cken – merk­wür­dig ge­nug mag es ihr er­schie­nen sein, mit sei­nen kah­len Wän­den, den un­ver­hüll­ten Fens­tern, dem Feld­bet­te, dem lei­se ar­bei­ten­den Gas­mo­tor, den fah­len Blit­zen an den Po­len der Dy­na­mo­ma­schi­nen und dem schwa­chen Chlo­ro­form­ge­ruch in der Luft. End­lich muss­te sie sich zu­frie­den ge­ben und fort­ge­hen.«

»Wie lan­ge Zeit nahm es in An­spruch?«, frag­te Kemp.

»Drei oder vier Stun­den – bei der Kat­ze. Am längs­ten wi­der­stan­den die Kno­chen, die Seh­nen, das Fett und die Spit­zen der far­bi­gen Haa­re. Und wie ich schon sag­te, der rück­wär­ti­ge Teil des Au­ges, ein zä­her, re­gen­bo­gen­far­bi­ger Stoff, woll­te über­haupt nicht ver­schwin­den.

Drau­ßen war es Nacht ge­wor­den, lan­ge be­vor die Sa­che vor­über war und von dem Tier war nichts mehr zu se­hen als un­deut­lich die Au­gen und die Kral­len. Ich brach­te den Gas­mo­tor zum Ste­hen, tas­te­te nach dem Tie­re, das noch im­mer be­sin­nungs­los lag und strei­chel­te es. Dann lös­te ich die Schnü­re, die es fest­hiel­ten, ließ es dann, da es ganz er­schöpft war, auf dem un­sicht­ba­ren Kis­sen weiter­schla­fen und ging zu Bett. Doch konn­te ich lan­ge kei­nen Schlaf fin­den. Ich lag wach und wälz­te dum­mes, sinn­lo­ses Zeug in mei­nem Kopf her­um, ging mei­nen Ver­such in Ge­dan­ken wie­der und wie­der durch, und dann träum­te ich, dass al­les um mich her, so­gar der Erd­bo­den, auf dem ich stand, un­sicht­bar wur­de. Ge­gen zwei Uhr früh be­gann die Kat­ze zu mi­au­en. Ich ver­such­te sie zum Schwei­gen zu brin­gen, in­dem ich mit ihr sprach, und dann ent­schloss ich mich, sie hin­aus­zu­ja­gen. Ich er­in­ne­re mich an den Schre­cken, den ich aus­stand, als ich ein Licht an­zün­de­te und grün­schil­lern­de Au­gen – und sonst nichts! – vor mir sah. Ich hät­te ihr Milch ge­ge­ben, aber ich hat­te kei­ne mehr. Sie setz­te sich ne­ben die Türe und mi­au­te un­un­ter­bro­chen. Da ver­such­te ich sie zu fan­gen, um sie beim Fens­ter lang­sam hin­aus­zu­las­sen; sie ließ sich aber nicht er­grei­fen, son­dern ver­schwand. Dann hör­te ich sie in ver­schie­de­nen Tei­len des Zim­mers ohne Un­ter­lass jam­mernd mi­au­en. End­lich öff­ne­te ich das Fens­ter und be­gann sie zu ja­gen. Da ver­ließ sie ver­mut­lich das Zim­mer. We­nigs­tens sah und hör­te ich nie mehr et­was von ihr.

Dann wan­der­ten mei­ne Ge­dan­ken – der Him­mel weiß warum – wie­der zu dem Be­gräb­nis­se zu­rück und zu dem ver­las­se­nen, kah­len Hü­gel, un­ter dem mein Va­ter die letz­te Ruhe ge­fun­den hat­te. So ging es un­un­ter­bro­chen fort, bis end­lich die Däm­me­rung an­brach. Ich fühl­te, dass ich doch nicht schla­fen konn­te, so ver­schloss ich die Türe hin­ter mir und wan­der­te in die mor­gen­fri­schen Stra­ßen hin­aus.«

 

»Wol­len Sie da­mit sa­gen, dass eine un­sicht­ba­re Kat­ze in der Welt frei her­um­läuft?«, frag­te Kemp.

»Wenn sie nicht ge­tö­tet wor­den ist«, sag­te der Un­sicht­ba­re. »Wa­rum nicht?«

»Al­ler­dings warum nicht?«, wie­der­hol­te Kemp. »Ich woll­te Sie nicht un­ter­bre­chen.«

»Sie ist wahr­schein­lich ge­tö­tet wor­den«, sag­te der Un­sicht­ba­re. »Dass sie vier Tage spä­ter noch leb­te, weiß ich, denn in der Gre­at Tich­field Street kam ich da­mals zu­fäl­lig an ei­ner großen Men­schen­men­ge vor­bei, die sich an ei­nem Ab­zugs­ka­nal an­ge­sam­melt hat­te, weil man dort lau­tes Mi­au­en hör­te, ohne sich er­klä­ren zu kön­nen, wo­her es kam.«

Wohl eine Mi­nu­te schwieg er still. Dann fuhr er un­ver­mit­telt fort:

»Des Ta­ges vor der großen Ver­wand­lung ent­sin­ne ich mich deut­lich. Ich muss die Gre­at Port­land Street hin­auf­ge­gan­gen sein. Denn ich er­in­ne­re mich an die Ka­ser­ne in Al­ba­ny Street, aus der eben Sol­da­ten her­aus­rit­ten. End­lich fand ich mich in der Son­ne auf dem Gip­fel von Prim­ro­se Hill und fühl­te mich sehr krank und son­der­bar er­regt. Es war ein son­ni­ger Ja­nu­ar­tag – ei­ner je­ner son­nig kal­ten Tage, die den Schnee­fäl­len die­ses Jah­res vor­an­gin­gen. Mit bren­nen­dem Kop­fe such­te ich mir mei­ne Lage klarzu­ma­chen und einen Plan für die Zu­kunft zu fas­sen.

Jetzt, da ich den Preis mit Hän­den grei­fen konn­te, sah ich mit Er­stau­nen, wie we­nig Vor­tei­le ich mir von dem Er­folg ver­sprach. Tat­säch­lich war ich über­ar­bei­tet. Die An­span­nung ei­ner fast vier­jäh­ri­gen an­ge­streng­ten Ar­beit hat­te mich geis­tig und kör­per­lich her­un­ter­ge­bracht. Ver­geb­lich trach­te­te ich den En­thu­si­as­mus über mei­ne ers­ten Ver­su­che, mei­ne Lei­den­schaft für neue Ent­de­ckun­gen, die mich in den Stand ge­setzt hät­ten, selbst den Tod mei­nes grei­sen Va­ters mit Gleich­mut zu er­tra­gen, wie­der­zu­ge­win­nen. An nichts war mir ge­le­gen. Ich sah ziem­lich klar, dass dies eine vor­über­ge­hen­de Stim­mung war, die von Übe­r­an­stren­gung und Man­gel an Schlaf her­rühr­te, und dass es mir ent­we­der durch ärzt­li­che Be­hand­lung oder voll­stän­di­ge Ruhe leicht ge­lin­gen wür­de, mei­ne frü­he­re Ener­gie wie­der­zu­fin­den. Nur ein Ge­dan­ke schweb­te mir klar vor: dass die Sa­che durch­ge­führt wer­den muss­te. Die­ser fixe Ge­dan­ke be­herrsch­te mich noch im­mer. Und zwar muss­te sie bald durch­ge­führt wer­den, denn mein Geld ging zur Nei­ge. Ich ver­such­te an die mär­chen­haf­te Macht zu den­ken, über die ein un­sicht­ba­rer Mensch auf der Welt ver­fü­gen wür­de.

End­lich schlepp­te ich mich nach Hau­se, nahm et­was Nah­rung zu mir, dann eine star­ke Do­sis Strych­nin und leg­te mich an­ge­klei­det auf mein zer­wühl­tes Bett … Strych­nin ist ein groß­ar­ti­ges Mit­tel, Kemp, um einen Men­schen auf­zu­rüt­teln.«

»Es ist ein teuf­li­sches Mit­tel«, sag­te Kemp.

»Ich er­wach­te neu­ge­stärkt und sehr er­reg­bar. Sie ken­nen den Zu­stand?«

»Ich ken­ne die Wir­kung sehr gut.«

»Da klopf­te es an die Tür. Es war der Haus­herr. Er kam mit Dro­hun­gen; ich hät­te in der Nacht eine Kat­ze ge­quält, er wüss­te es be­stimmt – die Zun­ge der al­ten Frau war also ge­schäf­tig ge­we­sen – und be­ste­he dar­auf, al­les dar­über zu er­fah­ren. Die Ge­set­ze des Lan­des ge­gen die Vi­vi­sek­ti­on sei­en streng und er kön­ne des­halb zur Verant­wor­tung ge­zo­gen wer­den. Ich ver­leug­ne­te die Kat­ze. Dann mach­te er mir zum Vor­wurf, dass das Ar­bei­ten des Gas­mo­tors im gan­zen Haus un­an­ge­nehm be­merk­bar sei. Das war al­ler­dings rich­tig. Da­bei späh­te er über sei­ne sil­ber­ne Bril­le hin­weg im gan­zen Zim­mer um­her. Ich be­kam plötz­lich Angst, dass er et­was von mei­nem Ge­heim­nis er­ra­ten könn­te, und such­te mich zwi­schen ihn und mei­ne Ap­pa­ra­te zu stel­len. Das mach­te ihn nur noch neu­gie­ri­ger. Wo­mit ich mich be­schäf­ti­ge? Wa­rum ich im­mer al­lein sei, und bei ver­schlos­se­ner Tür ar­bei­te? Sei mei­ne Be­schäf­ti­gung nicht etwa un­ge­setz­lich oder ge­fähr­lich? Ich zah­le nur den ge­wöhn­li­chen Miet­zins. Sein Haus sei im­mer ein sehr an­stän­di­ges ge­we­sen – trotz der ver­ru­fe­nen Nach­bar­schaft. End­lich ver­lor ich die Ge­duld. Ich for­der­te ihn auf, das Zim­mer zu ver­las­sen. Er be­gann zu pro­tes­tie­ren und mit großem Wort­schwall auf sei­ne Rech­te als Haus­ei­gen­tü­mer zu po­chen. Im nächs­ten Au­gen­blick hat­te ich ihn am Kra­gen – et­was krach­te – und er flog in den Gang hin­aus. Ich schlug die Tür zu, ver­rie­gel­te sie und setz­te mich be­bend nie­der.

Er mach­te drau­ßen großen Lärm, um den ich mich aber nicht küm­mer­te, und nach ei­ni­ger Zeit ging er fort.

Aber das führ­te in mei­nen An­ge­le­gen­hei­ten zur Kri­sis. Ich wuss­te nicht, was er tun wür­de, nicht ein­mal, was er zu tun das recht hat­te. In eine neue Woh­nung zu zie­hen, hät­te einen Auf­schub be­deu­tet, auch fehl­ten mir die Mit­tel dazu, denn ins­ge­samt be­saß ich nur noch zwan­zig Pfund, die auf ei­ner Bank la­gen. Also ver­schwin­den! Der Ge­dan­ke war un­wi­der­steh­lich. Dann wür­de man nach­for­schen, mein Zim­mer durch­su­chen …

Bei dem Ge­dan­ken an die Mög­lich­keit, dass mein Werk auf sei­nem Hö­he­punkt ver­ei­telt oder un­ter­bro­chen wer­den könn­te, wur­de ich zor­nig und ge­wann mei­ne gan­ze Tat­kraft wie­der. Ich eil­te mit mei­nen drei Ta­ge­bü­chern und mei­nem Scheck­buch – der Land­strei­cher hat sie jetzt – hin­aus und adres­sier­te sie an ein Post­amt in Gre­at Port­land Street. Dann ging ich nach Hau­se, such­te ge­räusch­los mein Zim­mer zu ge­win­nen und ging an die Ar­beit.

An je­nem Abend und in der dar­auf­fol­gen­den Nacht wur­de es voll­bracht. Wäh­rend ich noch un­ter dem Ein­fluss der übel­er­re­gen­den, be­täu­ben­den Mit­tel, die mein Blut ent­fär­ben soll­ten, stand, er­tön­te wie­der­hol­tes Po­chen an der Tür. Es ver­stumm­te, Fuß­trit­te nä­her­ten und ent­fern­ten sich wie­der, dann poch­te es von neu­em. Je­mand ver­such­te, un­ter der Tür et­was ins Zim­mer zu schie­ben – ein blau­es Pa­pier. In ei­nem An­fall von Wut er­hob ich mich und riss die Tür weit auf. ›Was gibt es?‹ frag­te ich.

Es war der Haus­be­sit­zer mit ei­nem amt­li­chen Kün­di­gungs­bo­gen oder et­was der­glei­chen. Er reich­te ihn mir, sah, wie ich ver­mu­te, et­was Auf­fal­len­des an mei­nen Hän­den und er­hob die Au­gen zu mei­nem Ge­sicht.

Ei­nen Au­gen­blick blieb er atem­los ste­hen. Dann stieß er einen un­ar­ti­ku­lier­ten Schrei aus, ließ Licht und Schrift fal­len und tau­mel­te durch den dun­keln Gang ge­gen die Trep­pe zu.

Ich schloss die Tür, ver­rie­gel­te sie und ging zum Spie­gel. Jetzt be­griff ich sein Ent­set­zen … Mein Ge­sicht war weiß – weiß, wie aus Stein ge­hau­en. Aber es war ent­setz­lich. Auf sol­che Lei­den hat­te ich mich nicht ge­fasst ge­macht. Eine Nacht un­säg­li­cher Schmer­zen, be­glei­tet von Übel­kei­ten und Ohn­machts­an­fäl­len. Ich press­te die Zäh­ne zu­sam­men; ob­wohl mei­ne Haut, mein gan­zer Kör­per brann­te, lag ich da wie der star­re Tod. Jetzt ver­stand ich, warum die Kat­ze ge­jam­mert hat­te, be­vor ich sie chlo­ro­for­mier­te. Es war ein Glück, dass ich al­lein war und ohne Die­ner wohn­te. Es gab Au­gen­bli­cke, wo ich schluchz­te und stöhn­te und mit mir selbst sprach. Aber ich gab nicht nach … Ich ver­lor das Be­wusst­sein und er­wach­te in der Fins­ter­nis, matt und er­schöpft. Der Schmerz war vor­über. Ich dach­te, ich hät­te mich ge­tö­tet, und es lag mir nichts dar­an. Nie wer­de ich jene Däm­mer­stun­de ver­ges­sen und wel­ches Ent­set­zen ich fühl­te, als ich sah, dass mei­ne Hän­de wie Milch­glas ge­wor­den wa­ren und im­mer dün­ner und durch­sich­ti­ger wur­den, bis ich end­lich durch sie hin­durch die wüs­te Un­ord­nung in mei­nem Zim­mer se­hen konn­te, ob­wohl ich mei­ne durch­sich­ti­gen Au­gen­li­der schloss. Mei­ne Glie­der wur­den glas­ar­tig, die Kno­chen und Ar­te­ri­en ver­schwan­den lang­sam und zum Schluss end­lich auch die klei­nen, wei­ßen Ner­ven­strän­ge. Ich knirsch­te mit den Zäh­nen und hielt bis zum Ende aus … End­lich blie­ben nur die Spit­zen der Fin­ger­nä­gel und der brau­ne Fleck von ir­gend­ei­ner Säu­re auf mei­nen Fin­gern sicht­bar.

Ich rich­te­te mich müh­sam auf. Erst war ich zum Ge­hen so un­fä­hig wie ein Wi­ckel­kind – ich ging auf Bei­nen, die ich nicht sah. Ich fühl­te mich schwach und sehr hung­rig. Als ich zum Spie­gel trat, er­blick­te ich nichts – nichts, bis auf ein dün­nes Stück­chen Netz­haut, das noch wie ein ganz fei­ner Ne­bel sicht­bar war. Ich muss­te mich auf den Tisch stüt­zen und den Kopf an das Glas pres­sen.

Nur mit Auf­ge­bot mei­ner gan­zen Wil­lens­kraft schlepp­te ich mich zum Ap­pa­rat zu­rück und vollen­de­te den Pro­zess.

Ich schlief den Vor­mit­tag durch, nach­dem ich mir ein Tuch über die Au­gen ge­legt hat­te, um das Licht aus­zu­schlie­ßen. Ge­gen Mit­tag wur­de ich durch ein Klop­fen ge­weckt. Mei­ne Kraft war zu­rück­ge­kehrt. Ich setz­te mich auf, horch­te und ver­nahm ein Flüs­tern. Da sprang ich auf und be­gann so ge­räusch­los als mög­lich mei­nen Ap­pa­rat zu zer­le­gen und die ein­zel­nen Tei­le im Zim­mer zu zer­streu­en, um die Mög­lich­keit sei­ner Re­kon­struk­ti­on noch zu ver­rin­gern. Bald dar­auf er­neu­er­te sich das Klop­fen, und Stim­men er­tön­ten, erst die­je­ni­ge mei­nes Haus­wir­tes und dann zwei an­de­re. Um Zeit zu ge­win­nen, be­ant­wor­te­te ich das Ru­fen. Das un­sicht­ba­re Kis­sen und der Woll­stoff fie­len mir in die Hand; ich öff­ne­te das Fens­ter und warf sie hin­aus. In die­sem Au­gen­blick wur­de ein hef­ti­ger Schlag ge­gen die Tür ge­führt. Je­mand muss­te sich dar­auf ge­wor­fen ha­ben, in der Ab­sicht, sie ein­zu­ren­nen. Aber die star­ken Rie­gel, mit wel­chen ich die Tür vor ei­ni­gen Ta­gen ver­se­hen hat­te, wi­der­stan­den dem An­sturm. Das ver­setz­te mich in Auf­re­gung – in Wut. Ein Zit­tern über­fiel mich und ich fuhr mit mei­nen wei­te­ren Zu­rüs­tun­gen eilends fort.

Ich häuf­te lose Pa­pier­blät­ter, Stroh, Pack­pa­pier und an­de­re ent­zünd­li­che Sa­chen in der Mit­te des Zim­mers zu­sam­men und dreh­te den Gas­hahn auf. Schwe­re Schlä­ge fie­len auf die Tür nie­der. Ich konn­te die Zünd­hölz­chen nicht fin­den und stieß vor Wut mit den Fäus­ten ge­gen die Wän­de. Dann dreh­te ich das Gas wie­der ab, stieg aus dem Fens­ter auf den De­ckel des Re­gen­was­ser­be­häl­ters und setz­te mich, heil und un­sicht­bar, aber vor Er­re­gung zit­ternd, nie­der, um die wei­te­ren Er­eig­nis­se ab­zu­war­ten. Ich sah, wie sie die Tür­fül­lung ein­schlu­gen, im nächs­ten Au­gen­blick die Rie­gel zu­rück­scho­ben und nun auf der Schwel­le stan­den. Es wa­ren der Haus­wirt und sei­ne bei­den Stiefsöh­ne, kräf­ti­ge jun­ge Män­ner von drei- oder vier­und­zwan­zig Jah­ren. Hin­ter ih­nen be­weg­te sich das alte Frau­en­zim­mer vom un­te­ren Stock­werk un­ru­hig hin und her.

Den­ken Sie sich das Er­stau­nen, als sie das Zim­mer leer fan­den. Ei­ner der jun­gen Leu­te stürz­te so­fort ans Fens­ter, riss es auf und starr­te hin­aus. Er war kaum einen Fuß von mir ent­fernt und ich war ver­sucht, ihm einen Schlag in sein dum­mes Ge­sicht zu ver­set­zen, aber ich hielt mei­ne ge­ball­te Faust zu­rück.

Er blick­te ge­ra­de durch mich hin­durch. So auch die an­de­ren, wel­che sich zu ihm ge­sell­ten. Der Alte späh­te un­ter das Bett, und dann stürz­ten sich alle auf den Spei­se­schrank. Sie ver­mu­te­ten schließ­lich, dass ich ih­nen frü­her aus dem Zim­mer gar nicht geant­wor­tet habe, dass ihre Sin­ne sie ge­täuscht hät­ten. Ein Ge­fühl selt­sa­mer Er­he­bung ver­dräng­te mei­nen Zorn, wäh­rend ich drau­ßen vor dem Fens­ter saß und be­ob­ach­te­te, wie die­se vier Leu­te – denn die alte Frau von un­ten war jetzt auch in das Zim­mer ge­tre­ten und späh­te arg­wöh­nisch um­her – das Rät­sel mei­nes Da­seins zu er­grün­den trach­te­ten.

So­weit ich das Kau­der­welsch ver­ste­hen konn­te, schie­nen der alte Mann und die alte Frau ei­nig dar­über zu sein, dass ich Vi­vi­sek­tio­nen vor­ge­nom­men habe. Die Söh­ne be­haup­te­ten in ver­dor­be­nem Eng­lisch, dass ich ein Elek­tro­tech­ni­ker sei, und wie­sen zur Be­grün­dung ih­rer An­sicht auf mei­ne Dy­na­mo­ma­schi­nen und die Strah­len­wer­fer hin. Alle aber fürch­te­ten mei­ne Wie­der­kehr, ob­wohl sie, wie ich in der Fol­ge fand, die Haus­tür ver­rie­gelt hat­ten. Noch­mals un­ter­such­te die Alte den Spei­se­schrank und das Bett. Ein an­de­rer Mie­ter, ein Obst­händ­ler, der das Zim­mer ne­ben dem mei­ni­gen mit ei­nem Fleisch­hau­er teil­te, er­schi­en auf der Schwel­le; er wur­de hin­ein­ge­ru­fen und muss­te eine un­zu­sam­men­hän­gen­de Schil­de­rung der Er­eig­nis­se über sich er­ge­hen las­sen.

 

Nun fiel mir ein, dass die ei­gen­tüm­li­chen Strah­len­wer­fer, wel­che ich be­saß, wenn sie in die Hän­de ei­nes scharf­sin­ni­gen Fach­man­nes fie­len, zu viel von mei­nem Ge­heim­nis ver­ra­ten könn­ten. Ich nahm da­her eine Ge­le­gen­heit wahr, stieg durch das Fens­ter wie­der ins Zim­mer, warf eine der bei­den Dy­na­mo­ma­schi­nen von ih­rem Auf­satz her­ab und zer­brach bei­de Ap­pa­ra­te. Wie sie zu­sam­men­fuh­ren! … Dann schlüpf­te ich, wäh­rend sie sich die­ses neue Er­eig­nis zu er­klä­ren such­ten, aus dem Zim­mer und stieg sach­te hin­un­ter.

Ich ging in ei­nes der Wohn­zim­mer und war­te­te bis sie her­un­ter­ka­men. Sie wa­ren alle nach­denk­lich ge­stimmt und et­was ent­täuscht, in mei­nem Zim­mer nichts ›Schreck­li­ches‹ ge­fun­den zu ha­ben. Auch wa­ren sie in Sor­ge, ob sie sich nicht eine un­ge­setz­li­che Hand­lung ge­gen mich hat­ten zu­schul­den kom­men las­sen. So­bald sie ins Erd­ge­schoss hin­un­ter­ge­gan­gen wa­ren, schlüpf­te ich mit ei­ner Schach­tel Streich­höl­zer wie­der hin­auf, zün­de­te mei­nen Pa­pier­hau­fen an, leg­te die Stüh­le und das Bett­zeug dar­auf, lei­te­te mit­tels ei­nes Gum­mischlau­ches das Gas hin …«

»Sie setz­ten das Haus in Brand?«, rief Kemp aus.

»Ich setz­te das Haus in Brand! Es war der ein­zi­ge Weg, mei­ne Spur zu ver­nich­ten, und es war zwei­fel­los ver­si­chert. Lei­se schob ich die Rie­gel des Hau­sto­res zu­rück und ging auf die Stra­ße hin­aus. Ich war un­sicht­bar und fing eben an, mir der au­ßer­or­dent­li­chen Vor­tei­le mei­ner Un­sicht­bar­keit be­wusst zu wer­den. In mei­nem Kop­fe kreuz­ten sich schon die Plä­ne zu den wil­den und wun­der­ba­ren Ta­ten, die ich jetzt un­ge­straft aus­füh­ren konn­te.