H. G. Wells – Gesammelte Werke

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18. Kapitel – Der Unsichtbare schläft

So krank und er­schöpft der Un­sicht­ba­re auch war, ge­nüg­te ihm den­noch Kemps Wort nicht, dass sei­ne Frei­heit ge­wahrt blei­ben soll­te. Er un­ter­such­te die bei­den Fens­ter des Schlaf­zim­mers und öff­ne­te die Lä­den, um sich da­von zu über­zeu­gen, dass ein Rück­zug auf die­sem Wege, wie Kemp be­haup­te­te, mög­lich sei. Die Nacht war ru­hig und still, und der neue Mond stand hoch über der Düne. Dann un­ter­such­te er die Sch­lös­ser der Schlaf­zim­mer­tü­ren und ver­ge­wis­ser­te sich, dass auch die­se ihm und sei­ner Frei­heit Schutz bo­ten. End­lich er­klär­te er sich be­frie­digt. Er stand am Ka­min, und Kemp hör­te ihn gäh­nen.

»Es tut mir leid«, sag­te der Un­sicht­ba­re, »dass ich Ih­nen heu­te nicht al­les er­zäh­len kann, was ich ge­tan habe. Aber ich bin er­schöpft. Es ist fan­tas­tisch, ge­wiss. Es ist so­gar ent­setz­lich! Aber glau­ben Sie mir, Kemp, trotz Ih­rer Be­weis­füh­rung von heu­te Mor­gen ist es mög­lich. Ich habe eine Ent­de­ckung ge­macht. Ich woll­te sie für mich be­hal­ten. Es geht aber nicht. Ich muss einen Hel­fer ha­ben. Und Sie – wir wer­den Din­ge aus­füh­ren –. Aber mor­gen. Jetzt, Kemp, habe ich das Ge­fühl, als ob ich schla­fen müs­se – – oder ster­ben.«

Kemp stand in der Mit­te des Zim­mers und starr­te auf das kopf­lo­se Ge­wand. »Ich muss Sie wohl ver­las­sen«, sag­te er. »Es ist – un­glaub­lich. Noch ein sol­ches Er­leb­nis, das mei­ne Be­rech­nun­gen so über den Hau­fen wirft – und ich wür­de ver­rückt wer­den. Aber es ist Wirk­lich­keit! Kann ich sonst noch et­was für Sie tun?«

»Nur mir ›Gu­te Nacht!‹ sa­gen«, er­wi­der­te Grif­fin. »Gute Nacht!«, sag­te Kemp und schüt­tel­te eine un­sicht­ba­re Hand. Dann ging er seit­wärts zur Tür.

Plötz­lich folg­te ihm der Schlaf­rock has­tig. »Ver­ste­hen Sie mich wohl«, sag­te der Schlaf­rock, »ma­chen Sie kei­nen Ver­such, mich zu be­läs­ti­gen oder zu fan­gen – sonst –«

Kemp wech­sel­te ein we­nig die Far­be. »Ich den­ke, Sie ha­ben mein Wort!«, sag­te er.

Er schloss die Tür lei­se hin­ter sich und so­fort wur­de der Schlüs­sel hin­ter ihm um­ge­dreht. Wäh­rend er dann noch mit dem Aus­druck dump­fer Ver­blüf­fung ste­hen­blieb, hör­te er, wie sich ra­sche Schrit­te der Tür zum An­klei­de­zim­mer nä­her­ten, und wie auch die­se ver­schlos­sen wur­de. Er strich sich mit der Hand über die Brau­en. »Träu­me ich? Ist die Welt ver­rückt ge­wor­den, oder bin ich es?«

Er lach­te und leg­te die Hand an die ver­rie­gel­te Tür. »Durch eine lä­cher­li­che Sin­ne­stäu­schung aus mei­nem ei­ge­nen Schlaf­zim­mer ver­trie­ben!«, mur­mel­te er.

Er ging zur Trep­pe, wand­te sich um und starr­te auf die ver­schlos­se­ne Tür. »Es ist Tat­sa­che«, sprach er zu sich. Dann leg­te er die Hand an sei­nen leicht ver­letz­ten Na­cken. »Un­leug­ba­re Tat­sa­che!«

Er schüt­tel­te hoff­nungs­los den Kopf, wen­de­te sich um und ging hin­un­ter.

Im Spei­se­zim­mer zün­de­te er die Lam­pe an, nahm eine Zi­gar­re und be­gann im Zim­mer auf und ab zu ge­hen. Von Zeit zu Zeit sprach er mit sich selbst.

»Un­sicht­bar!«, sag­te er.

»Gibt es ein un­sicht­ba­res Tier? … Im Meer – ge­wiss. Tau­sen­de – Mil­lio­nen. Alle Lar­vae, alle die klei­nen Nau­plii und Tor­na­ri­as, alle die mi­kro­sko­pi­schen Din­ge. Im Mee­re gibt es mehr un­sicht­ba­re als sicht­ba­re Din­ge. Ich habe frü­her nie­mals dar­an ge­dacht … Und auch in den Tei­chen! All die klei­nen In­fu­so­ri­en, die dar­in le­ben – farb­lo­se, durch­sich­ti­ge Gal­ler­te! … Aber in der Luft! Nein!

Es kann nicht sein.

Aber schließ­lich – warum nicht?

Wenn ein Mensch aus Glas wäre, blie­be er doch noch sicht­bar.«

Er dach­te an­ge­strengt nach. Drei Zi­gar­ren hat­ten sich als wei­ße Asche auf den Tep­pich ge­la­gert, be­vor er wie­der sprach. Und dann war es nur ein Aus­ruf. Er wand­te sich ab, schritt aus dem Zim­mer und ging in sein klei­nes Sprech­zim­mer, wo er das Gas an­zün­de­te. Es war ein klei­ner Raum, denn Dr. Kemp leb­te nicht von sei­ner Pra­xis, und die Ta­ges­zei­tun­gen wa­ren dort auf­be­wahrt. Das Mor­gen­blatt war nach­läs­sig ge­öff­net und bei­sei­te ge­wor­fen wor­den. Er hob es auf, blät­ter­te um und las den Be­richt über die »selt­sa­men Er­eig­nis­se in Iping«, wel­che der Ma­tro­se in Port Sto­we Mar­vel so müh­sam vor­buch­sta­biert hat­te. Kemp über­flog rasch den Ar­ti­kel.

»Ver­mummt!«, sag­te er. »Mas­kiert!« »Er ver­barg es!« »Nie­mand scheint eine Ah­nung von sei­nem Un­glück ge­habt zu ha­ben!« »Was zum Teu­fel hat er ei­gent­lich vor?«

Er ließ die Zei­tung sin­ken und sein Auge schweif­te su­chend um­her. »Ah!«, sag­te er und nahm die »St. Ja­mes-Ga­zet­te« auf, die noch zu­sam­men­ge­fal­tet dalag, wie man sie am Abend ge­bracht hat­te. »Jetzt wer­den wir die Wahr­heit er­fah­ren.« Er riss das Blatt auf. Ein paar Spal­ten fie­len ihm in die Au­gen. »Ein gan­zes Dorf in Sus­sex ver­rückt ge­wor­den!«, war die Auf­schrift.

»Gro­ßer Gott!«, sag­te Kemp, eif­rig einen un­glaub­li­chen Be­richt über die Er­eig­nis­se des denk­wür­di­gen Nach­mit­tags in Iping, wie sie schon ge­schil­dert wur­den, durch­flie­gend. Auf der zwei­ten Sei­te war der Be­richt aus dem Mor­gen­blat­te ab­ge­druckt.

Er las ihn zum zwei­ten Mal. »Lief um sich sto­ßend und schla­gend durch die Stra­ßen. Jaf­fers be­sin­nungs­los. Mr. Hux­ter – hef­ti­ge Schmer­zen – noch un­fä­hig zu be­schrei­ben, was er sah. Pein­li­che Be­schä­mung – der Pfar­rer. Eine Frau vor Schreck krank. Ein­ge­schla­ge­ne Fens­ter­schei­ben. Die gan­ze merk­wür­di­ge Ge­schich­te wahr­schein­lich eine Ente, zu gut, um nicht ab­ge­druckt zu wer­den – cum gra­no1

Er ließ das Blatt sin­ken und starr­te vor sich ins Lee­re. »Wahr­schein­lich eine Ente!«

Er griff wie­der nach dem Blatt und las die gan­ze Ge­schich­te noch ein­mal.

»Aber, was ist das mit dem Land­strei­cher? Wa­rum zum Teu­fel jag­te er ei­nem Land­strei­cher nach?«

Plötz­lich ließ er sich auf den Ope­ra­ti­ons­di­van nie­der­fal­len.

»Er ist nicht nur un­sicht­bar«, sag­te er, »son­dern ver­rückt. Mord­ma­nie! …«

Als die Mor­gen­däm­me­rung ihre blei­chen Schat­ten mit dem Lam­pen­licht und dem Zi­gar­ren­dampf ver­misch­te, ging Kemp noch im­mer im Ess­zim­mer auf und ab und such­te das Un­glaub­li­che zu fas­sen.

Er war zu er­regt, um zu schla­fen. Die Dienst­bo­ten, wel­che schläf­rig her­un­ter­ka­men und ihn un­ten über­rasch­ten, wa­ren der An­sicht, dass er sich über­ar­bei­tet habe. Er gab ih­nen den au­ßer­ge­wöhn­li­chen, aber nicht miss­zu­ver­ste­hen­den Be­fehl, ein Früh­stück für zwei Per­so­nen in sein Stu­dier­zim­mer zu brin­gen und das Erd­ge­schoss dann nicht mehr zu ver­las­sen. Dann fuhr er fort, das Spei­se­zim­mer zu durch­mes­sen, bis das Mor­gen­blatt kam. Das hat­te viel zu sa­gen und we­nig zu be­rich­ten; nur eine Be­stä­ti­gung der am Abend vor­her ge­brach­ten Neu­ig­kei­ten und einen sehr schlecht ge­schrie­be­nen Ar­ti­kel über ein an­de­res merk­wür­di­ges Er­eig­nis in Port Bur­dock. Dies gab Kemp einen Be­griff von den Vor­gän­gen in ›den lus­ti­gen Cricke­tern‹ und den Na­men Mar­vels. »Vier­und­zwan­zig Stun­den lang hat er mich bei sich be­hal­ten«, be­zeug­te Mar­vel. Ge­wis­se klei­ne Er­gän­zun­gen wa­ren der Ipin­ger Ge­schich­te hin­zu­ge­fügt, be­son­ders das Durch­schnei­den der Te­le­gra­fen­dräh­te. Aber nichts von al­le­dem warf ein Licht auf die Be­zie­hun­gen zwi­schen dem Un­sicht­ba­ren und dem Land­strei­cher – denn Mr. Mar­vel hat­te we­der über die drei Bü­cher, noch über das Geld, wel­ches er bei sich trug, ein Wort ver­lau­ten las­sen. Der un­gläu­bi­ge Ton war ver­schwun­den, und eine Schar von Re­por­tern und Nach­rich­ten­jä­gern hat­te sich in Be­we­gung ge­setzt, um die Sa­che klar­zu­le­gen.

Kemp las jede Zei­le des Be­richts und schick­te dann das Haus­mäd­chen mit dem Auf­trag fort, ihm alle Mor­gen­zei­tun­gen zu brin­gen, de­ren sie hab­haft wer­den konn­te. Auch die­se ver­schlang er.

»Er ist un­sicht­bar!«, sag­te er. »Und in al­lem, was man dar­über liest, et­was Wil­des, das an Wahn­sinn grenzt. Was er zu tun im­stan­de wäre! Was er zu tun im­stan­de wäre! Und dro­ben ist er frei wie die Luft. Was soll ich nur tun? Wäre es zum Bei­spiel ein Wort­bruch, wenn ich – – – Nein.«

Er ging zu ei­nem klei­nen, un­or­dent­li­chen Pult in der Ecke und be­gann eine Kar­te zu schrei­ben. Halb­fer­tig, zer­riss er sie wie­der und schrieb eine an­de­re. Dann über­las er die Zei­len und über­leg­te noch ein­mal. End­lich nahm er einen Brief­um­schlag und adres­sier­te ihn an »Herrn Oberst Adye, Port Bur­dock.«

Wäh­rend Kemp schrieb, war der Un­sicht­ba­re er­wacht. Er war in üb­ler Lau­ne und Kemp, der ge­spannt auf je­den Ton horch­te, hör­te ihn durch das Schlaf­zim­mer ei­len. Dann wur­de ein Stuhl um­ge­wor­fen und das Wasch­be­cken zer­schmet­tert. Kemp eil­te nach oben und poch­te un­ge­stüm.

1 Cum gra­no sa­lis (»mit ei­nem Korn Salz«). Die ge­trof­fe­ne Aus­sa­ge wird ein­ge­schränkt. <<<

19. Kapitel – Optische Grundprinzipien

Was gibt es?«, frag­te Kemp, als ihn der Un­sicht­ba­re ein­ließ.

»Nichts«, war die Ant­wort.

»Aber zum Teu­fel! Der Lärm?«

»Ein An­fall von üb­ler Lau­ne«, ent­geg­ne­te der Un­sicht­ba­re. »Ich ver­gaß mei­nen Arm; und der schmerzt mich.«

»Sie schei­nen zu sol­chen An­fäl­len zu nei­gen?«

»Al­ler­dings.«

Kemp ging durch das Zim­mer und las die Glas­scher­ben auf. »Man weiß al­les über Sie«, sag­te er dann, die Sp­lit­ter in der Hand. »Al­les, was in Iping und un­ten am Fuße des Hü­gels ge­sche­hen ist. Die Welt ist sich ih­res un­sicht­ba­ren Bür­gers be­wusst ge­wor­den. Aber dass Sie hier sind, weiß nie­mand.«

 

Der Un­sicht­ba­re fluch­te.

»Das Ge­heim­nis ist ver­ra­ten. Ich ver­mu­te, dass es ein Ge­heim­nis war. Ich ken­ne Ihre Plä­ne nicht, aber ich bin na­tür­lich be­gie­rig, Ih­nen zu hel­fen.«

Der Un­sicht­ba­re setz­te sich auf das Bett.

»Un­ser Früh­stück steht oben«, sag­te Kemp, so un­be­fan­gen als mög­lich, und sah mit Ent­zücken, dass sein Gast sich wil­lig er­hob. Kemp ging auf der en­gen Trep­pe zum Stu­dier­zim­mer vor­aus.

»Be­vor wir ge­mein­schaft­lich ar­bei­ten kön­nen«, sag­te Kemp, »muss ich über Ihre Un­sicht­bar­keit mehr wis­sen.« Nach­dem er rasch einen ein­zi­gen, ner­vö­sen Blick durch das Fens­ter ge­wor­fen, ließ er sich mit ei­ner un­be­fan­ge­nen Mie­ne nie­der, als ob er sei­ne Auf­merk­sam­keit aus­schließ­lich der Auss­pra­che mit dem Un­sicht­ba­ren zu­zu­wen­den wünsch­te.

Wie­der tauch­ten ihm Zwei­fel an der Mög­lich­keit der gan­zen Sa­che auf, und wie­der ver­schwan­den sie, als er zu Grif­fin hin­über­blick­te, der, ein kopf- und hand­lo­ser Schlaf­rock, am Früh­stücks­ti­sche saß und sich mit ei­ner wie durch ein Wun­der ge­hal­te­nen Ser­vi­et­te über un­sicht­ba­re Lip­pen fuhr.

»Es ist sehr ein­fach – und durch­aus nicht un­glaub­lich«, sag­te Grif­fin, die Ser­vi­et­te weg­le­gend.

»Für Sie zwei­fel­los, aber – –« Kemp lach­te.

»Nun, se­hen Sie, auch mir schi­en es zu­erst wun­der­bar. Und jetzt, großer Gott! … Aber wir wer­den noch große Din­ge voll­brin­gen! Auf den Ge­dan­ken kam ich zu­erst in Che­sil­sto­we.«

»Che­sil­sto­we?«

»Dor­thin ging ich, als ich Lon­don ver­ließ. Sie wis­sen, dass ich der Me­di­zin den Rücken kehr­te und mich den Na­tur­wis­sen­schaf­ten zu­wen­de­te? Nicht? Nun, es war so. Die Leh­re vom Licht fas­zi­nier­te mich.«

»Ah!«

»Op­ti­sche Dich­te! Der Ge­gen­stand ist ein Netz von Rät­seln – ein Netz, durch wel­ches die Lö­sun­gen trü­ge­risch lo­ckend durch­schim­mern. Und da ich erst zwei­und­zwan­zig Jah­re alt und voll Be­geis­te­rung war, ge­lob­te ich mir: die­sen For­schun­gen will ich mein Le­ben wei­hen. Das ist der Mühe wert. Sie wis­sen, wie tö­richt man mit zwei­und­zwan­zig Jah­ren ist?«

»Heu­te nicht min­der wie da­mals«, sag­te Kemp.

»Als ob Wis­sen dem Men­schen wah­re Be­frie­di­gung ge­wäh­ren könn­te!

Aber ich mach­te mich an die Ar­beit – wie ein Nig­ger. Und ich hat­te kaum ein hal­b­es Jahr ge­ar­bei­tet und über die Sa­che nach­ge­dacht, als plötz­lich ein blen­den­des Licht durch eine der Ma­schen drang. Ich fand ein all­ge­mei­nes Prin­zip der Pig­men­te und der Strah­len­bre­chung – eine For­mel, einen geo­me­tri­schen Aus­druck, der vier Di­men­sio­nen in sich schließt. Nar­ren, un­ge­bil­de­te Men­schen, selbst ein­fa­che Ma­the­ma­ti­ker be­grei­fen nicht, wel­che Be­deu­tung eine all­ge­mei­ne For­mel für den­je­ni­gen ha­ben kann, der sich mit Mo­le­ku­lar­leh­re be­fasst. In mei­nen Bü­chern – den Bü­chern, wel­che der Land­strei­cher ver­steckt hat – ste­hen Wun­der, Of­fen­ba­run­gen! Aber das war noch nicht die Metho­de, es war nur ein Ge­dan­ke, wel­cher zu ei­ner Metho­de füh­ren konn­te, durch die es mög­lich sein soll­te, ohne sonst eine Ei­gen­schaft des Kör­pers zu ver­än­dern – au­ßer in ei­ni­gen Fäl­len die Far­ben – den Bre­chungs­win­kel ir­gend­ei­nes Kör­pers, sei er nun fest oder flüs­sig, bis auf den­je­ni­gen der Luft her­ab­zu­set­zen – so­weit prak­ti­sche Zwe­cke in Fra­ge ste­hen.«

»Hal­lo!«, sag­te Kemp. »Das ist selt­sam. Aber ich sehe doch noch nicht ganz – ich be­grei­fe, dass Sie auf die­se Wei­se einen wert­vol­len Stein ver­der­ben kön­nen – aber von da bis zur ei­ge­nen Un­sicht­bar­keit ist noch ein wei­ter Weg.«

»Ganz rich­tig«, sag­te Grif­fin. »Aber be­den­ken Sie, dass die Sicht­bar­keit von dem Ver­hal­ten der sicht­ba­ren Kör­per zum Licht ab­hängt. Las­sen Sie mich Ih­nen die Ele­men­tar­grund­sät­ze vor­tra­gen; als ob Sie die­sel­ben nicht ken­nen wür­den. Es wird mei­ne An­sicht kla­rer ma­chen. Sie wis­sen sehr wohl, dass ein Kör­per das Licht ent­we­der ab­sor­biert oder re­flek­tiert oder bricht, oder auch al­les die­ses zu­gleich tut. Wenn er das Licht we­der re­flek­tiert noch bricht noch ab­sor­biert, kann er nicht durch sich selbst sicht­bar sein. Sie se­hen zum Bei­spiel eine un­durch­sich­ti­ge, rote Schach­tel, weil die Far­be einen be­stimm­ten Teil des Lichts ab­sor­biert und den Rest, das gan­ze Rot des Lichts, re­flek­tiert. Wenn sie gar kei­nen Teil des Lichts ab­sor­bie­ren, son­dern das Gan­ze re­flek­tie­ren wür­de, wäre es ein leuch­ten­der, wei­ßer Ge­gen­stand. Sil­ber! Eine Schach­tel aus Dia­mant wür­de we­der viel Licht ab­sor­bie­ren, noch von der Ober­flä­che re­flek­tie­ren; nur hie und da wür­de das Licht, wo es ge­ra­de auf güns­tig ge­neig­te Flä­chen auf­fällt, re­flek­tiert und ge­bro­chen wer­den, so­dass man den Ein­druck von blen­den­den Rück­strah­lun­gen und un­er­mess­li­chen Tie­fen er­hiel­te. Eine Art Lichtske­lett. Eine Schach­tel aus Glas wäre nicht so glän­zend, nicht so deut­lich sicht­bar wie eine Dia­mant­schach­tel, weil die Re­fle­xi­on und Bre­chung ge­rin­ger wä­ren. Ist Ih­nen das klar? Von ge­wis­sen Punk­ten aus könn­te man ganz un­ge­hin­dert durch­se­hen. Ei­ni­ge Glas­ar­ten wä­ren deut­li­cher sicht­bar als an­de­re – eine Schach­tel aus Flint­glas wür­de hel­ler glän­zen als eine aus ge­wöhn­li­chem Fens­ter­glas. Eine Schach­tel aus sehr dün­nem, ge­wöhn­li­chem Glas wäre bei schlech­ter Be­leuch­tung kaum sicht­bar, weil sie das Licht fast gar nicht mehr ab­sor­bie­ren und nur sehr we­nig bre­chen oder re­flek­tie­ren wür­de. Und wenn man eine ge­wöhn­li­che, wei­ße Glas­schei­be in Was­ser oder, noch bes­ser, in ir­gend­ei­ne dich­te Flüs­sig­keit taucht, so ver­schwin­det sie fast ganz, weil das Licht, wel­ches durch das Was­ser auf das Glas fällt, nur schwach re­flek­tiert oder ge­bro­chen und auch sonst in kei­ner Wei­se af­fi­ziert wird. Die Schei­be ist fast so un­sicht­bar wie Koh­len­stoff oder Hy­dro­gen in der Luft. Und zwar aus ganz dem­sel­ben Grun­de!«

»Ja«, sag­te Kemp, »das ist klar. Heut­zu­ta­ge weiß das je­der Schul­jun­ge.«

»Und noch eine an­de­re Tat­sa­che muss je­der Schul­jun­ge ken­nen. Wenn eine Glas­schei­be zer­bro­chen und zu Pul­ver zer­rie­ben wird, wird sie viel leich­ter sicht­bar; schließ­lich wird ein un­durch­sich­ti­ges, wei­ßes Pul­ver dar­aus. Dies ent­steht durch die Pul­ve­ri­sie­rung, wo­durch die Glas­flä­chen, auf wel­chen das Licht ge­bro­chen oder re­flek­tiert wird, ver­viel­fäl­tigt wer­den. Die Glas­schei­be hat nur zwei Flä­chen, bei dem Pul­ver wird das Licht von je­dem Glas­körn­chen re­flek­tiert oder ge­bro­chen, und nur ein sehr klei­ner Teil dringt wi­der­stands­los durch das Pul­ver durch. Wenn aber das wei­ße, pul­ve­ri­sier­te Glas in Was­ser ge­taucht wird, ver­schwin­det es so­fort. Das pul­ve­ri­sier­te Glas und das Was­ser ha­ben so ziem­lich den­sel­ben Bre­chungs­win­kel, das heißt das Licht er­lei­det eine sehr klei­ne Bre­chung oder Re­fle­xi­on, wenn es von dem einen zu dem an­de­ren über­geht.

Man macht das Glas un­sicht­bar, in­dem man es in eine Flüs­sig­keit taucht, die ziem­lich den glei­chen Bre­chungs­win­kel hat. Also: et­was Durch­sich­ti­ges wird un­durch­sich­tig, in­dem man es in ein Me­di­um von dem­sel­ben Bre­chungs­win­kel bringt. Und wenn Sie nur eine Se­kun­de dar­über nach­den­ken wol­len, so wer­den Sie ein­se­hen, dass der Glas­staub in der Luft un­sicht­bar ge­macht wer­den könn­te, wenn man im­stan­de wäre, sei­nen Bre­chungs­win­kel demje­ni­gen der Luft gleich zu ma­chen.«

»Ja, ja«, ver­setz­te Kemp. »Aber der Mensch ist doch kein pul­ve­ri­sier­tes Glas.«

»Nein«, er­wi­der­te Grif­fin. »Er ist durch­sich­ti­ger!«

»Un­sinn!«

»Und das sagt ein Me­di­zi­ner! Wie leicht man ver­gisst! Ha­ben Sie in die­sen zehn Jah­ren alle Ihre Kennt­nis­se aus der Phy­sik ver­ges­sen? Den­ken Sie nur an all die Din­ge, wel­che durch­sich­tig sind und nicht so er­schei­nen! Pa­pier, zum Bei­spiel, be­steht aus trans­pa­ren­ten Fa­sern und ist nur aus dem­sel­ben Grun­de weiß und un­durch­sich­tig, wie der Glas­staub weiß und un­durch­sich­tig ist. Durch­trän­ken Sie wei­ßes Pa­pier mit Öl, fül­len Sie die Zwi­schen­räu­me zwi­schen den ein­zel­nen Teil­chen mit Öl aus, so­dass au­ßer auf der Ober­flä­che kei­ne Bre­chung oder Re­fle­xi­on mehr be­steht, und es wird durch­sich­tig wie Glas. Und nicht al­lein Pa­pier, auch Lei­nen­fa­sern, Woll­fa­sern, Holz­fa­sern und Kno­chen, Kemp; Fleisch, Haar, Nä­gel und Ner­ven, Kemp; kurz, alle Tei­le des mensch­li­chen Kör­pers bis auf das Rot im Blu­te und den dun­keln Farb­stoff des Haa­res, be­ste­hen aus ei­nem durch­sich­ti­gen, farb­lo­sen Ge­we­be – so we­nig ge­nügt, uns ein­an­der sicht­bar zu ma­chen. Das Fa­sern­ge­we­be ei­nes le­ben­di­gen We­sens ist zum größ­ten Tei­le eben­so durch­sich­tig als Was­ser.«

»Na­tür­lich, selbst­re­dend!«, rief Kemp. »Ich selbst dach­te noch ver­gan­ge­ne Nacht an die Lar­vae im Mee­re und die Gal­lert­fi­sche!«

»Jetzt sind Sie auf dem Punk­te, wo ich Sie ha­ben woll­te! Und all dies wuss­te ich und trug es mit mir her­um, ein Jahr, nach­dem ich Lon­don ver­las­sen hat­te – jetzt vor sechs Jah­ren. Aber ich be­hielt es für mich. Ich hat­te mit fürch­ter­li­chen Schwie­rig­kei­ten zu kämp­fen. Hob­ben­ne, mein Pro­fes­sor, war ein wis­sen­schaft­li­cher Räu­ber, ein Ide­en­dieb, ein Mensch, der Ide­en stahl und un­auf­hör­lich her­um­spio­nier­te! Und Sie ken­nen die ge­wis­sen Schleich­we­ge in der ge­lehr­ten Welt. Ich woll­te ein­fach nichts ver­öf­fent­li­chen, weil ich ihm an mei­nem Er­fol­ge kei­nen An­teil gönn­te. Ich ar­bei­te­te rast­los wei­ter. Im­mer nä­her kam ich mei­nem Zie­le, mei­ne Theo­rie durch ein Ex­pe­ri­ment zu er­pro­ben – in Wirk­lich­keit zu ver­wan­deln. Ich sprach zu kei­ner le­ben­den See­le da­von, weil ich die Ab­sicht hat­te, mein Werk wie einen Blitz in die Welt zu schleu­dern und mit ei­nem Schla­ge be­rühmt zu wer­den. Um ver­schie­de­ne Lücken aus­zu­fül­len, wand­te ich mich der Leh­re von den Pig­men­ten zu und plötz­lich – nicht nach lan­gem For­schen, son­dern rein zu­fäl­lig – mach­te ich eine Ent­de­ckung.«

»Ja?«

»Sie ken­nen den ro­ten Farb­stoff im Blu­te – er kann weiß – farb­los – ge­macht wer­den und doch alle sei­ne jet­zi­gen Funk­tio­nen bei­be­hal­ten!«

Kemp stieß einen Ruf un­gläu­bi­gen Er­stau­nens aus.

Der Un­sicht­ba­re er­hob sich und schritt im Zim­mer auf und ab. »Sie sind mit Recht ver­wun­dert. Ich er­in­ne­re mich je­ner Nacht. Es war spät am Abend – tags­über muss­te man sich ja mit trä­gen, dum­men Stu­den­ten ab­quä­len – und ich ar­bei­te­te manch­mal bis zur Mor­gen­däm­me­rung. Der Ge­dan­ke kam mir plötz­lich, glän­zend und voll­kom­men. Ich war al­lein. Das La­bo­ra­to­ri­um war still und leer. Das Licht brann­te mit hel­ler und ru­hi­ger Flam­me … Man könn­te ein Tier – ein Zel­len­ge­we­be – durch­sich­tig ma­chen! Man könn­te es un­sicht­bar ma­chen! Ganz bis auf die Pig­men­te. ›Ich könn­te un­sicht­bar wer­den‹, sag­te ich mir und be­griff plötz­lich den un­ge­heu­ren Sinn des Wor­tes. Es war über­wäl­ti­gend. Ich ver­ließ die Fil­trier­ma­schi­ne, an der ich be­schäf­tigt war, und blick­te durch das große Fens­ter zu den Ster­nen em­por. ›Ich könn­te un­sicht­bar wer­den‹, wie­der­hol­te ich mir.

Et­was Der­ar­ti­ges aus­füh­ren, hie­ße Zau­be­rei noch über­tref­fen. Und ich hat­te, von kei­nen Zwei­feln ge­quält, eine glän­zen­de Vi­si­on al­les des­sen, was Un­sicht­bar­keit für einen Men­schen be­deu­ten wür­de. Ge­heim­nis, Macht, Frei­heit! Schat­ten­sei­ten sah ich kei­ne. Den­ken Sie sich nur! Ich, ein ar­mer, ge­plag­ter, ob­sku­rer De­mons­tra­tor an ei­ner Pro­vin­zu­ni­ver­si­tät, konn­te plötz­lich – dies wer­den. Ich fra­ge Sie, Kemp, wenn Sie … Je­der, sage ich Ih­nen, hät­te sich auf die­ses Stu­di­um ge­wor­fen. Und ich ar­bei­te­te drei Jah­re lang, und so oft ich einen schwie­ri­gen Berg er­klom­men hat­te, türm­te sich auf des­sen Gip­fel ein an­de­rer vor mir auf. Die end­lo­sen Ein­zel­hei­ten! Und die Verzweif­lung! Und der Pro­fes­sor, der im­mer um mich her­um­spio­nier­te. ›Wann wer­den Sie Ihr Werk ver­öf­fent­li­chen?‹ lau­te­te sei­ne ewi­ge Fra­ge. Drei Jah­re dau­er­te es. – –

Und nach drei Jah­ren ge­hei­mer Ar­beit und Mühe fand ich, dass es un­mög­lich sei, es zu vollen­den – un­mög­lich!«

»Wa­rum?«

»Geld«, sag­te der Un­sicht­ba­re und starr­te wie­der zum Fens­ter hin­aus.

 

Plötz­lich dreh­te er sich um: »Ich be­raub­te den al­ten Mann – mei­nen Va­ter.

Das Geld war nicht sein, und er er­schoss sich.«