So krank und erschöpft der Unsichtbare auch war, genügte ihm dennoch Kemps Wort nicht, dass seine Freiheit gewahrt bleiben sollte. Er untersuchte die beiden Fenster des Schlafzimmers und öffnete die Läden, um sich davon zu überzeugen, dass ein Rückzug auf diesem Wege, wie Kemp behauptete, möglich sei. Die Nacht war ruhig und still, und der neue Mond stand hoch über der Düne. Dann untersuchte er die Schlösser der Schlafzimmertüren und vergewisserte sich, dass auch diese ihm und seiner Freiheit Schutz boten. Endlich erklärte er sich befriedigt. Er stand am Kamin, und Kemp hörte ihn gähnen.
»Es tut mir leid«, sagte der Unsichtbare, »dass ich Ihnen heute nicht alles erzählen kann, was ich getan habe. Aber ich bin erschöpft. Es ist fantastisch, gewiss. Es ist sogar entsetzlich! Aber glauben Sie mir, Kemp, trotz Ihrer Beweisführung von heute Morgen ist es möglich. Ich habe eine Entdeckung gemacht. Ich wollte sie für mich behalten. Es geht aber nicht. Ich muss einen Helfer haben. Und Sie – wir werden Dinge ausführen –. Aber morgen. Jetzt, Kemp, habe ich das Gefühl, als ob ich schlafen müsse – – oder sterben.«
Kemp stand in der Mitte des Zimmers und starrte auf das kopflose Gewand. »Ich muss Sie wohl verlassen«, sagte er. »Es ist – unglaublich. Noch ein solches Erlebnis, das meine Berechnungen so über den Haufen wirft – und ich würde verrückt werden. Aber es ist Wirklichkeit! Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Nur mir ›Gute Nacht!‹ sagen«, erwiderte Griffin. »Gute Nacht!«, sagte Kemp und schüttelte eine unsichtbare Hand. Dann ging er seitwärts zur Tür.
Plötzlich folgte ihm der Schlafrock hastig. »Verstehen Sie mich wohl«, sagte der Schlafrock, »machen Sie keinen Versuch, mich zu belästigen oder zu fangen – sonst –«
Kemp wechselte ein wenig die Farbe. »Ich denke, Sie haben mein Wort!«, sagte er.
Er schloss die Tür leise hinter sich und sofort wurde der Schlüssel hinter ihm umgedreht. Während er dann noch mit dem Ausdruck dumpfer Verblüffung stehenblieb, hörte er, wie sich rasche Schritte der Tür zum Ankleidezimmer näherten, und wie auch diese verschlossen wurde. Er strich sich mit der Hand über die Brauen. »Träume ich? Ist die Welt verrückt geworden, oder bin ich es?«
Er lachte und legte die Hand an die verriegelte Tür. »Durch eine lächerliche Sinnestäuschung aus meinem eigenen Schlafzimmer vertrieben!«, murmelte er.
Er ging zur Treppe, wandte sich um und starrte auf die verschlossene Tür. »Es ist Tatsache«, sprach er zu sich. Dann legte er die Hand an seinen leicht verletzten Nacken. »Unleugbare Tatsache!«
Er schüttelte hoffnungslos den Kopf, wendete sich um und ging hinunter.
Im Speisezimmer zündete er die Lampe an, nahm eine Zigarre und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Von Zeit zu Zeit sprach er mit sich selbst.
»Unsichtbar!«, sagte er.
»Gibt es ein unsichtbares Tier? … Im Meer – gewiss. Tausende – Millionen. Alle Larvae, alle die kleinen Nauplii und Tornarias, alle die mikroskopischen Dinge. Im Meere gibt es mehr unsichtbare als sichtbare Dinge. Ich habe früher niemals daran gedacht … Und auch in den Teichen! All die kleinen Infusorien, die darin leben – farblose, durchsichtige Gallerte! … Aber in der Luft! Nein!
Es kann nicht sein.
Aber schließlich – warum nicht?
Wenn ein Mensch aus Glas wäre, bliebe er doch noch sichtbar.«
Er dachte angestrengt nach. Drei Zigarren hatten sich als weiße Asche auf den Teppich gelagert, bevor er wieder sprach. Und dann war es nur ein Ausruf. Er wandte sich ab, schritt aus dem Zimmer und ging in sein kleines Sprechzimmer, wo er das Gas anzündete. Es war ein kleiner Raum, denn Dr. Kemp lebte nicht von seiner Praxis, und die Tageszeitungen waren dort aufbewahrt. Das Morgenblatt war nachlässig geöffnet und beiseite geworfen worden. Er hob es auf, blätterte um und las den Bericht über die »seltsamen Ereignisse in Iping«, welche der Matrose in Port Stowe Marvel so mühsam vorbuchstabiert hatte. Kemp überflog rasch den Artikel.
»Vermummt!«, sagte er. »Maskiert!« »Er verbarg es!« »Niemand scheint eine Ahnung von seinem Unglück gehabt zu haben!« »Was zum Teufel hat er eigentlich vor?«
Er ließ die Zeitung sinken und sein Auge schweifte suchend umher. »Ah!«, sagte er und nahm die »St. James-Gazette« auf, die noch zusammengefaltet dalag, wie man sie am Abend gebracht hatte. »Jetzt werden wir die Wahrheit erfahren.« Er riss das Blatt auf. Ein paar Spalten fielen ihm in die Augen. »Ein ganzes Dorf in Sussex verrückt geworden!«, war die Aufschrift.
»Großer Gott!«, sagte Kemp, eifrig einen unglaublichen Bericht über die Ereignisse des denkwürdigen Nachmittags in Iping, wie sie schon geschildert wurden, durchfliegend. Auf der zweiten Seite war der Bericht aus dem Morgenblatte abgedruckt.
Er las ihn zum zweiten Mal. »Lief um sich stoßend und schlagend durch die Straßen. Jaffers besinnungslos. Mr. Huxter – heftige Schmerzen – noch unfähig zu beschreiben, was er sah. Peinliche Beschämung – der Pfarrer. Eine Frau vor Schreck krank. Eingeschlagene Fensterscheiben. Die ganze merkwürdige Geschichte wahrscheinlich eine Ente, zu gut, um nicht abgedruckt zu werden – cum grano.«1
Er ließ das Blatt sinken und starrte vor sich ins Leere. »Wahrscheinlich eine Ente!«
Er griff wieder nach dem Blatt und las die ganze Geschichte noch einmal.
»Aber, was ist das mit dem Landstreicher? Warum zum Teufel jagte er einem Landstreicher nach?«
Plötzlich ließ er sich auf den Operationsdivan niederfallen.
»Er ist nicht nur unsichtbar«, sagte er, »sondern verrückt. Mordmanie! …«
Als die Morgendämmerung ihre bleichen Schatten mit dem Lampenlicht und dem Zigarrendampf vermischte, ging Kemp noch immer im Esszimmer auf und ab und suchte das Unglaubliche zu fassen.
Er war zu erregt, um zu schlafen. Die Dienstboten, welche schläfrig herunterkamen und ihn unten überraschten, waren der Ansicht, dass er sich überarbeitet habe. Er gab ihnen den außergewöhnlichen, aber nicht misszuverstehenden Befehl, ein Frühstück für zwei Personen in sein Studierzimmer zu bringen und das Erdgeschoss dann nicht mehr zu verlassen. Dann fuhr er fort, das Speisezimmer zu durchmessen, bis das Morgenblatt kam. Das hatte viel zu sagen und wenig zu berichten; nur eine Bestätigung der am Abend vorher gebrachten Neuigkeiten und einen sehr schlecht geschriebenen Artikel über ein anderes merkwürdiges Ereignis in Port Burdock. Dies gab Kemp einen Begriff von den Vorgängen in ›den lustigen Cricketern‹ und den Namen Marvels. »Vierundzwanzig Stunden lang hat er mich bei sich behalten«, bezeugte Marvel. Gewisse kleine Ergänzungen waren der Ipinger Geschichte hinzugefügt, besonders das Durchschneiden der Telegrafendrähte. Aber nichts von alledem warf ein Licht auf die Beziehungen zwischen dem Unsichtbaren und dem Landstreicher – denn Mr. Marvel hatte weder über die drei Bücher, noch über das Geld, welches er bei sich trug, ein Wort verlauten lassen. Der ungläubige Ton war verschwunden, und eine Schar von Reportern und Nachrichtenjägern hatte sich in Bewegung gesetzt, um die Sache klarzulegen.
Kemp las jede Zeile des Berichts und schickte dann das Hausmädchen mit dem Auftrag fort, ihm alle Morgenzeitungen zu bringen, deren sie habhaft werden konnte. Auch diese verschlang er.
»Er ist unsichtbar!«, sagte er. »Und in allem, was man darüber liest, etwas Wildes, das an Wahnsinn grenzt. Was er zu tun imstande wäre! Was er zu tun imstande wäre! Und droben ist er frei wie die Luft. Was soll ich nur tun? Wäre es zum Beispiel ein Wortbruch, wenn ich – – – Nein.«
Er ging zu einem kleinen, unordentlichen Pult in der Ecke und begann eine Karte zu schreiben. Halbfertig, zerriss er sie wieder und schrieb eine andere. Dann überlas er die Zeilen und überlegte noch einmal. Endlich nahm er einen Briefumschlag und adressierte ihn an »Herrn Oberst Adye, Port Burdock.«
Während Kemp schrieb, war der Unsichtbare erwacht. Er war in übler Laune und Kemp, der gespannt auf jeden Ton horchte, hörte ihn durch das Schlafzimmer eilen. Dann wurde ein Stuhl umgeworfen und das Waschbecken zerschmettert. Kemp eilte nach oben und pochte ungestüm.
1 Cum grano salis (»mit einem Korn Salz«). Die getroffene Aussage wird eingeschränkt. <<<
Was gibt es?«, fragte Kemp, als ihn der Unsichtbare einließ.
»Nichts«, war die Antwort.
»Aber zum Teufel! Der Lärm?«
»Ein Anfall von übler Laune«, entgegnete der Unsichtbare. »Ich vergaß meinen Arm; und der schmerzt mich.«
»Sie scheinen zu solchen Anfällen zu neigen?«
»Allerdings.«
Kemp ging durch das Zimmer und las die Glasscherben auf. »Man weiß alles über Sie«, sagte er dann, die Splitter in der Hand. »Alles, was in Iping und unten am Fuße des Hügels geschehen ist. Die Welt ist sich ihres unsichtbaren Bürgers bewusst geworden. Aber dass Sie hier sind, weiß niemand.«
Der Unsichtbare fluchte.
»Das Geheimnis ist verraten. Ich vermute, dass es ein Geheimnis war. Ich kenne Ihre Pläne nicht, aber ich bin natürlich begierig, Ihnen zu helfen.«
Der Unsichtbare setzte sich auf das Bett.
»Unser Frühstück steht oben«, sagte Kemp, so unbefangen als möglich, und sah mit Entzücken, dass sein Gast sich willig erhob. Kemp ging auf der engen Treppe zum Studierzimmer voraus.
»Bevor wir gemeinschaftlich arbeiten können«, sagte Kemp, »muss ich über Ihre Unsichtbarkeit mehr wissen.« Nachdem er rasch einen einzigen, nervösen Blick durch das Fenster geworfen, ließ er sich mit einer unbefangenen Miene nieder, als ob er seine Aufmerksamkeit ausschließlich der Aussprache mit dem Unsichtbaren zuzuwenden wünschte.
Wieder tauchten ihm Zweifel an der Möglichkeit der ganzen Sache auf, und wieder verschwanden sie, als er zu Griffin hinüberblickte, der, ein kopf- und handloser Schlafrock, am Frühstückstische saß und sich mit einer wie durch ein Wunder gehaltenen Serviette über unsichtbare Lippen fuhr.
»Es ist sehr einfach – und durchaus nicht unglaublich«, sagte Griffin, die Serviette weglegend.
»Für Sie zweifellos, aber – –« Kemp lachte.
»Nun, sehen Sie, auch mir schien es zuerst wunderbar. Und jetzt, großer Gott! … Aber wir werden noch große Dinge vollbringen! Auf den Gedanken kam ich zuerst in Chesilstowe.«
»Chesilstowe?«
»Dorthin ging ich, als ich London verließ. Sie wissen, dass ich der Medizin den Rücken kehrte und mich den Naturwissenschaften zuwendete? Nicht? Nun, es war so. Die Lehre vom Licht faszinierte mich.«
»Ah!«
»Optische Dichte! Der Gegenstand ist ein Netz von Rätseln – ein Netz, durch welches die Lösungen trügerisch lockend durchschimmern. Und da ich erst zweiundzwanzig Jahre alt und voll Begeisterung war, gelobte ich mir: diesen Forschungen will ich mein Leben weihen. Das ist der Mühe wert. Sie wissen, wie töricht man mit zweiundzwanzig Jahren ist?«
»Heute nicht minder wie damals«, sagte Kemp.
»Als ob Wissen dem Menschen wahre Befriedigung gewähren könnte!
Aber ich machte mich an die Arbeit – wie ein Nigger. Und ich hatte kaum ein halbes Jahr gearbeitet und über die Sache nachgedacht, als plötzlich ein blendendes Licht durch eine der Maschen drang. Ich fand ein allgemeines Prinzip der Pigmente und der Strahlenbrechung – eine Formel, einen geometrischen Ausdruck, der vier Dimensionen in sich schließt. Narren, ungebildete Menschen, selbst einfache Mathematiker begreifen nicht, welche Bedeutung eine allgemeine Formel für denjenigen haben kann, der sich mit Molekularlehre befasst. In meinen Büchern – den Büchern, welche der Landstreicher versteckt hat – stehen Wunder, Offenbarungen! Aber das war noch nicht die Methode, es war nur ein Gedanke, welcher zu einer Methode führen konnte, durch die es möglich sein sollte, ohne sonst eine Eigenschaft des Körpers zu verändern – außer in einigen Fällen die Farben – den Brechungswinkel irgendeines Körpers, sei er nun fest oder flüssig, bis auf denjenigen der Luft herabzusetzen – soweit praktische Zwecke in Frage stehen.«
»Hallo!«, sagte Kemp. »Das ist seltsam. Aber ich sehe doch noch nicht ganz – ich begreife, dass Sie auf diese Weise einen wertvollen Stein verderben können – aber von da bis zur eigenen Unsichtbarkeit ist noch ein weiter Weg.«
»Ganz richtig«, sagte Griffin. »Aber bedenken Sie, dass die Sichtbarkeit von dem Verhalten der sichtbaren Körper zum Licht abhängt. Lassen Sie mich Ihnen die Elementargrundsätze vortragen; als ob Sie dieselben nicht kennen würden. Es wird meine Ansicht klarer machen. Sie wissen sehr wohl, dass ein Körper das Licht entweder absorbiert oder reflektiert oder bricht, oder auch alles dieses zugleich tut. Wenn er das Licht weder reflektiert noch bricht noch absorbiert, kann er nicht durch sich selbst sichtbar sein. Sie sehen zum Beispiel eine undurchsichtige, rote Schachtel, weil die Farbe einen bestimmten Teil des Lichts absorbiert und den Rest, das ganze Rot des Lichts, reflektiert. Wenn sie gar keinen Teil des Lichts absorbieren, sondern das Ganze reflektieren würde, wäre es ein leuchtender, weißer Gegenstand. Silber! Eine Schachtel aus Diamant würde weder viel Licht absorbieren, noch von der Oberfläche reflektieren; nur hie und da würde das Licht, wo es gerade auf günstig geneigte Flächen auffällt, reflektiert und gebrochen werden, sodass man den Eindruck von blendenden Rückstrahlungen und unermesslichen Tiefen erhielte. Eine Art Lichtskelett. Eine Schachtel aus Glas wäre nicht so glänzend, nicht so deutlich sichtbar wie eine Diamantschachtel, weil die Reflexion und Brechung geringer wären. Ist Ihnen das klar? Von gewissen Punkten aus könnte man ganz ungehindert durchsehen. Einige Glasarten wären deutlicher sichtbar als andere – eine Schachtel aus Flintglas würde heller glänzen als eine aus gewöhnlichem Fensterglas. Eine Schachtel aus sehr dünnem, gewöhnlichem Glas wäre bei schlechter Beleuchtung kaum sichtbar, weil sie das Licht fast gar nicht mehr absorbieren und nur sehr wenig brechen oder reflektieren würde. Und wenn man eine gewöhnliche, weiße Glasscheibe in Wasser oder, noch besser, in irgendeine dichte Flüssigkeit taucht, so verschwindet sie fast ganz, weil das Licht, welches durch das Wasser auf das Glas fällt, nur schwach reflektiert oder gebrochen und auch sonst in keiner Weise affiziert wird. Die Scheibe ist fast so unsichtbar wie Kohlenstoff oder Hydrogen in der Luft. Und zwar aus ganz demselben Grunde!«
»Ja«, sagte Kemp, »das ist klar. Heutzutage weiß das jeder Schuljunge.«
»Und noch eine andere Tatsache muss jeder Schuljunge kennen. Wenn eine Glasscheibe zerbrochen und zu Pulver zerrieben wird, wird sie viel leichter sichtbar; schließlich wird ein undurchsichtiges, weißes Pulver daraus. Dies entsteht durch die Pulverisierung, wodurch die Glasflächen, auf welchen das Licht gebrochen oder reflektiert wird, vervielfältigt werden. Die Glasscheibe hat nur zwei Flächen, bei dem Pulver wird das Licht von jedem Glaskörnchen reflektiert oder gebrochen, und nur ein sehr kleiner Teil dringt widerstandslos durch das Pulver durch. Wenn aber das weiße, pulverisierte Glas in Wasser getaucht wird, verschwindet es sofort. Das pulverisierte Glas und das Wasser haben so ziemlich denselben Brechungswinkel, das heißt das Licht erleidet eine sehr kleine Brechung oder Reflexion, wenn es von dem einen zu dem anderen übergeht.
Man macht das Glas unsichtbar, indem man es in eine Flüssigkeit taucht, die ziemlich den gleichen Brechungswinkel hat. Also: etwas Durchsichtiges wird undurchsichtig, indem man es in ein Medium von demselben Brechungswinkel bringt. Und wenn Sie nur eine Sekunde darüber nachdenken wollen, so werden Sie einsehen, dass der Glasstaub in der Luft unsichtbar gemacht werden könnte, wenn man imstande wäre, seinen Brechungswinkel demjenigen der Luft gleich zu machen.«
»Ja, ja«, versetzte Kemp. »Aber der Mensch ist doch kein pulverisiertes Glas.«
»Nein«, erwiderte Griffin. »Er ist durchsichtiger!«
»Unsinn!«
»Und das sagt ein Mediziner! Wie leicht man vergisst! Haben Sie in diesen zehn Jahren alle Ihre Kenntnisse aus der Physik vergessen? Denken Sie nur an all die Dinge, welche durchsichtig sind und nicht so erscheinen! Papier, zum Beispiel, besteht aus transparenten Fasern und ist nur aus demselben Grunde weiß und undurchsichtig, wie der Glasstaub weiß und undurchsichtig ist. Durchtränken Sie weißes Papier mit Öl, füllen Sie die Zwischenräume zwischen den einzelnen Teilchen mit Öl aus, sodass außer auf der Oberfläche keine Brechung oder Reflexion mehr besteht, und es wird durchsichtig wie Glas. Und nicht allein Papier, auch Leinenfasern, Wollfasern, Holzfasern und Knochen, Kemp; Fleisch, Haar, Nägel und Nerven, Kemp; kurz, alle Teile des menschlichen Körpers bis auf das Rot im Blute und den dunkeln Farbstoff des Haares, bestehen aus einem durchsichtigen, farblosen Gewebe – so wenig genügt, uns einander sichtbar zu machen. Das Faserngewebe eines lebendigen Wesens ist zum größten Teile ebenso durchsichtig als Wasser.«
»Natürlich, selbstredend!«, rief Kemp. »Ich selbst dachte noch vergangene Nacht an die Larvae im Meere und die Gallertfische!«
»Jetzt sind Sie auf dem Punkte, wo ich Sie haben wollte! Und all dies wusste ich und trug es mit mir herum, ein Jahr, nachdem ich London verlassen hatte – jetzt vor sechs Jahren. Aber ich behielt es für mich. Ich hatte mit fürchterlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Hobbenne, mein Professor, war ein wissenschaftlicher Räuber, ein Ideendieb, ein Mensch, der Ideen stahl und unaufhörlich herumspionierte! Und Sie kennen die gewissen Schleichwege in der gelehrten Welt. Ich wollte einfach nichts veröffentlichen, weil ich ihm an meinem Erfolge keinen Anteil gönnte. Ich arbeitete rastlos weiter. Immer näher kam ich meinem Ziele, meine Theorie durch ein Experiment zu erproben – in Wirklichkeit zu verwandeln. Ich sprach zu keiner lebenden Seele davon, weil ich die Absicht hatte, mein Werk wie einen Blitz in die Welt zu schleudern und mit einem Schlage berühmt zu werden. Um verschiedene Lücken auszufüllen, wandte ich mich der Lehre von den Pigmenten zu und plötzlich – nicht nach langem Forschen, sondern rein zufällig – machte ich eine Entdeckung.«
»Ja?«
»Sie kennen den roten Farbstoff im Blute – er kann weiß – farblos – gemacht werden und doch alle seine jetzigen Funktionen beibehalten!«
Kemp stieß einen Ruf ungläubigen Erstaunens aus.
Der Unsichtbare erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. »Sie sind mit Recht verwundert. Ich erinnere mich jener Nacht. Es war spät am Abend – tagsüber musste man sich ja mit trägen, dummen Studenten abquälen – und ich arbeitete manchmal bis zur Morgendämmerung. Der Gedanke kam mir plötzlich, glänzend und vollkommen. Ich war allein. Das Laboratorium war still und leer. Das Licht brannte mit heller und ruhiger Flamme … Man könnte ein Tier – ein Zellengewebe – durchsichtig machen! Man könnte es unsichtbar machen! Ganz bis auf die Pigmente. ›Ich könnte unsichtbar werden‹, sagte ich mir und begriff plötzlich den ungeheuren Sinn des Wortes. Es war überwältigend. Ich verließ die Filtriermaschine, an der ich beschäftigt war, und blickte durch das große Fenster zu den Sternen empor. ›Ich könnte unsichtbar werden‹, wiederholte ich mir.
Etwas Derartiges ausführen, hieße Zauberei noch übertreffen. Und ich hatte, von keinen Zweifeln gequält, eine glänzende Vision alles dessen, was Unsichtbarkeit für einen Menschen bedeuten würde. Geheimnis, Macht, Freiheit! Schattenseiten sah ich keine. Denken Sie sich nur! Ich, ein armer, geplagter, obskurer Demonstrator an einer Provinzuniversität, konnte plötzlich – dies werden. Ich frage Sie, Kemp, wenn Sie … Jeder, sage ich Ihnen, hätte sich auf dieses Studium geworfen. Und ich arbeitete drei Jahre lang, und so oft ich einen schwierigen Berg erklommen hatte, türmte sich auf dessen Gipfel ein anderer vor mir auf. Die endlosen Einzelheiten! Und die Verzweiflung! Und der Professor, der immer um mich herumspionierte. ›Wann werden Sie Ihr Werk veröffentlichen?‹ lautete seine ewige Frage. Drei Jahre dauerte es. – –
Und nach drei Jahren geheimer Arbeit und Mühe fand ich, dass es unmöglich sei, es zu vollenden – unmöglich!«
»Warum?«
»Geld«, sagte der Unsichtbare und starrte wieder zum Fenster hinaus.
Plötzlich drehte er sich um: »Ich beraubte den alten Mann – meinen Vater.
Das Geld war nicht sein, und er erschoss sich.«